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Alt 30.05.2020, 11:19   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Schweigen

Du sagst kein Wort. Nie. Ich sehe dir ins Gesicht, schau in deine Augen, die entrückt zu sein scheinen, als blickten sie in eine entfernte Welt. In suche nach dieser Welt, hoffe, ihr Spiegelbild in deinen Pupillen zu erkennen, doch deine Augen reflektieren nicht einmal das Licht, das früher in ihnen glimmte, diese beiden Pünktchen, die sie warm und lebendig machten. Dunkel bleiben sie, als steckten sie voller Geheimnisse, die zu beschreiben es keine Worte gibt.

Ich habe aufgegeben, zu fragen, längst daran gewöhnt, keine Antwort von dir zu erhalten. „Irgendwann werden Sie es erfahren,“ sagte mein Therapeut zu mir, als ich wieder einmal verzweifelt über dich und deine Schweigsamkeit mit ihm sprach. „Irgendwann werden Sie diese ferne Welt sehen können, in der er sich befindet, und dann werden Sie ihn auch ohne Worte verstehen.“

Irgendwann …

Gestern bin ich an deinem Grab gewesen. Wie jeden Sonntag. Mein Brief ist nicht mehr dagewesen, wahrscheinlich hat ihn der Wind weggeweht. Es macht nichts, ich schreibe dir einfach einen neuen … jetzt gleich. Schreiben tue mir gut, hat mein Therapeut gesagt, das helfe, seelischen Schmerz zu verarbeiten. Nein, habe ich gesagt, das ist nicht wahr, das Schreiben lenke mich nur ab, aber der Schmerz sei kein bisschen weniger geworden. Er hat gelächelt und gemeint, ich müsse Geduld haben. Und dann hat er diesen Satz losgelassen, von wegen, die Zeit heile alle Wunden, und ich habe mich im Stillen gefragt, ob man für diese Volksweisheit, die mehr ein Ausdruck von Hilflosigkeit als ein Heilmittel ist, jahrelang Vorlesungen an einer Universität besucht haben muss. Aber das weiß mein Therapeut wohl besser als ich.

Trotzdem werde ich meine Zweifel nicht los. Schuld daran ist der andere Therapeut, der in meinem Kopf sitzt und den ich „Nager“ genannt habe, weil er mir keine Ruhe lässt und meinem „echten“ Therapeuten ständig widerspricht. „Die Zeit heilt überhaupt keine Wunden,“ redet Nager mir ein, „im Gegenteil: Nach dem ersten Schock wirst du ihr Brennen erst richtig spüren, bald danach beginnen sie zu schwären, und dann tränken sie deinen Geist mit ihrem Gift, bis du glaubst, dem Wahnsinn nahe zu sein und dich von einer Brücke stürzen zu müssen.“

Mein Therapeut hat gesagt, es sei nicht meine Schuld, dass du mich verlassen hast. Er hat gesagt, Liebe, mag sie noch so groß sein, habe nicht die Macht, einen Menschen von seiner Überzeugung und seinem letzten Entschluss abzubringen.

„Glaube ihm nicht,“ hat Nager aufbegehrt, „du weißt es besser als er. Dieser Bücherwurm, der seine Nase in das Leben anderer Menschen steckt, hat von der Wirklichkeit keine Ahnung, sonst würde er nicht versuchen, dir derart krudes Zeug einzureden. Natürlich bist du schuld, und an dieser Wahrheit kommst du nicht vorbei.“

Nager hat recht. Zumindest trage ich einen Teil der Schuld, und tief in meinem Inneren weiß ich es. Mein Dilemma ist, dass ich sie nicht zu fassen bekomme, nicht benennen kann. Wann immer ich sie einzukreisen versuche, entschlüpft sie mir. Ich habe viel falsch gemacht, eine ganze Liste könnte ich aufschreiben über die Dinge, auf die ich ungehalten reagiert habe, über die Situationen, in denen ich ungeduldig war, Streit vom Zaun gebrochen habe und mit meinem Verständnis dir gegenüber am Ende gewesen bin. Aber all diese Erkenntnisse greifen zu kurz. Es gibt nichts, das man nicht richtigstellen und worüber man sich nicht aussöhnen könnte, wenn man sich liebt. Ich war nicht der Grund für deine Entscheidung, aber ich habe sie dennoch nicht verhindern können.

Wo ist der Schlüssel, mit dem sich die Tür zu meiner Ungewissheit, zu meinen Zweifeln aufschließen lässt, so dass ich zu erkennen vermag, worin mein Versäumnis gelegen hat? Bin ich blind für die heranrollende Katastrophe gewesen, habe ich auf die leichte Schulter genommen, was mich hätte niederdrücken müssen, habe ich ein naives Vertrauen in die Unzerbrechlichkeit eines glücklichen Lebens gelegt?

Ich hoffe, dass du es weißt und dein Schweigen brechen wirst. Vielleicht schon heute Nacht, wenn wir uns wieder ansehen und ich in deinen Augen die Welt zu erforschen suche, die dich über ihre Schwelle gezogen hat. Ein Wort von dir, und Nager wird für immer schweigen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.05.2020, 11:43   #2
weiblich AlteLyrikerin
 
Benutzerbild von AlteLyrikerin
 
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Beiträge: 1.706


Liebe Ilka-Maria,

diese Geschichte hat mich wirklich sehr beeindruckt und berührt. Ich lese sie als die depressive Reflexion eines Menschen, der den Suizid eines geliebten Mitmenschen (wohl der Lebenspartner) nicht verhindern konnte und die Schuld bei sich sucht.
Nirgendwo finde ich einen erhobenen Zeigefinger, aber dafür viele nagende, aber nachvollziehbare Fragen. Wenn ich versuchen würde anzugeben, was mich ein wenig stört, dann denke ich der Psychotherapeut kommt ein wenig zu schlecht weg. Aber auch so etwas mag es ja geben, dass statt einer einfühlsamen klugen Begleitung nur noch in die Sprüchekiste gelangt wird.

Sehr, sehr gerne gelesen, AlteLyrikerin.
AlteLyrikerin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.05.2020, 11:55   #3
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.043


Zitat:
Zitat von AlteLyrikerin Beitrag anzeigen
... der Psychotherapeut kommt ein wenig zu schlecht weg.
Das ist ein wertvoller Hinweis. Mit Dank angenommen.

LG
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.05.2020, 14:17   #4
weiblich Ex-Mimii
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2019
Beiträge: 62


Hallo Ilka,
deine Geschichte ist gut gelungen. Das schwierige Thema, das sich mit den psychischen Problemen und Folgen für die Menschen, die eine Bezugsperson durch Suizid verloren haben, beschäftigt ist für den Leser nachfühlbar aber ohne unnötige Ausschweifungen beschrieben.
Das andauernde Nagen , das Fragen nach dem Warum, die mögliche Mitschuld, das mögliche, eigene Fehlverhalten und das "Was-hätte-ich-noch-machen-können, beschäftigt die Hinterbliebenen eine sehr lange Zeit, manchmal sogar ein ganzes Menschenleben.
Es ist unglaublich schwer, ohne therapeutische Hilfe , einen halbwegs normalen Weg zurück ins Leben und in den Alltag zu bewerkstelligen.
Das Ende deiner Geschichte gefällt mir persönlich sehr gut.
Ich kann die Figur in deiner Erzählung gut verstehen.
Es hat doch letztlich nur der Mensch, der den Suizid gewählt hat , die Antworten darauf, die einen so schmerzlich im Herzen brennen.
Es ist eine schöne Vorstellung, diese Antworten , wenn auch nur gedacht, in den Augen eines geliebten Menschen zu erkennen.

Manchmal, Ilka, ist es so ,dass man die Antworten bereits tief im Inneren kennt. Sie sind oft allerdings so tief vergraben oder unaussprechlich, dass man sie lieber begräbt, als sie wahrzunehmen und sich damit letztlich auseinander setzen zu müssen.
Diese Form der Erkenntnis ist oftmals um so vieles unerträglich...

Gerne gelesen ...

LG
Mimii
Ex-Mimii ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.05.2020, 14:59   #5
männlich Pjotr
 
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Dabei seit: 09/2019
Beiträge: 633


Zitat:
Zitat von Mimii Beitrag anzeigen
Manchmal, Ilka, ist es so ,dass man die Antworten bereits tief im Inneren kennt. Sie sind oft allerdings so tief vergraben oder unaussprechlich, dass man sie lieber begräbt, als sie wahrzunehmen und sich damit letztlich auseinander setzen zu müssen.
Da ist dann auch der Selbstschutz ganz wichtig. Am besten nehme man einen Vorhang aus Eisen.
Pjotr ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.05.2020, 15:10   #6
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.687


[QUOTE]. Vielleicht schon heute Nacht, wenn wir uns wieder ansehen und ich in deinen Augen die Welt zu erforschen suche, die dich über ihre Schwelle gezogen hat/QUOTE]

"Wenn wir uns wieder ansehen", ein schöner Satz, ein schöner Schlusssatz. Eine gute Geschichte, wie AlteLyrikerin schon schrieb, ohne erhobenen Zeigefinger .... Ja, gefällt mir sehr.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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