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Alt 21.10.2010, 02:54   #1
weiblich Aquaria
 
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Standard Zeitlos

Nach den Ereignissen war die Zeit stehen geblieben. Er hatte sich auf sein ausgeblichenes Sofa gesetzt und gewartet. Er hatte nicht gewusst worauf und hatte auch nicht darüber nachdenken wollen. Die Zeit würde verstreichen, es würde vielleicht nicht besser werden, aber es würde anders werden. Es würde besser werden.

Aber die Zeit hatte ihm in diesen dunklen Tagen ein Schnippchen geschlagen. Er war nicht einen Tag älter geworden. Er hatte auf seinem Sofa gesessen und die Zeit war nicht weitergelaufen. Sie hatte ihn gründlich verarscht und er, in ohnmächtiger Wut und fassungsloser Hilflosigkeit gefangen, war sitzengeblieben, denn es war ihm ja nichts anderes übriggeblieben, als darauf zu hoffen, dass die Zeit es sich am Ende, und wenn es nur aus reiner Lageweile geschah, irgendwann anders überlegen würde.

Er hatte natürlich nicht gewusst, wie lange er dagesessen hatte. Ewig und gar nicht. Man wurde leicht verrückt, wenn sich auch noch die Zeit verweigerte. Er hatte keinen Anhaltspunkt. Als er eingesehen hatte, dass die Zeit in ihrer Trotzhaltung nicht nachgeben würde, war er doch irgendwann aufgestanden. Er hatte sich an die Schreibmaschine gesetzt und auf die Tasten gehämmert.

Er schrieb, dass die Zeit eine Hure war. Eine Hure wie sie. Unzählige Seiten beschrieb er mit Flüchen und Verwünschungen und irgendwo zwischen Rausch, Wut und Erregung beschloss er grollend, sich der Zeit davonzustehlen und ohne sie weiter zu machen. Sie konnte ihm gestohlen bleiben. Sie beide konnten das. Bald schon ersetzte das monotone Klappern der Schreibmaschine das vertraute Ticken der Wanduhr. Statt sich an Minuten und Stunden zu orientieren, klammerte er sich fortan an Zeilen und Seiten.

Wenn die Zeit stehenbleibt, kann das auch Vorteile haben. Kein Hunger, kein Durst, kein Druck und keine Verpflichtungen. So einfach kann das Leben manchmal sein. Das Klappern wird schneller und schneller, denn nicht die Zeit macht den Meister, sondern bekanntlich die Übung. Glücklich ist er nicht, aber die Angst ist fort und sogar die Wut nimmt ab. Aus Angst, diesen im Vergleich großartigen Zustand zu zerstören schreibt er weiter, Zeile für Zeile, Seite für Seite.

Die Zeit wird ihm noch ein Weilchen gestohlen bleiben, aber sie wird ihn nicht ewig ignorieren. Sie würde die Welt aus den Fugen heben. Am Ende wird er nicht nur aufstehen, sondern rennen müssen, um sie einzuholen. Und die andere Dame? Solange er klappert, brauch er sie nicht. Die Zeit wird es bringen. Sie bringen. Hoffentlich zurück.
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Alt 21.10.2010, 09:39   #2
Wackelpudding
 
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Hallo Aquaria,

dein Werk hat mich in der ersten Zeile glauben lassen, dass hier was gewöhnliches kommt. Aber da habe ich mich wohl getäuscht!

Ich hoffe nicht jedem Schreiberling ergeht es so wie dem guten Mann in deiner Geschichte. Sogar eine Weisheit habe ich darin entdeckt (Zeit).

Es war interessant zu lesen wie der Schreiberling erst durchs warten frustriert und dann durch den frust mit Wut schreibt. Und am Ende scheint er ja ganz produktiv zu sein. Ich frage mich, hatte er auf seine reale Dame und nicht auf die Zeit gewartet? Na ja, jedenfalls scheint sich das Warten gegen Ende seiner Geschichte ja erledigt zu haben, denn er hat eine neue Spieldame.

Grüße
WP
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Alt 23.10.2010, 19:47   #3
weiblich Aquaria
 
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Hallo Wackelpudding!

Schön, dass du hier mal reingeschaut hast und danke für dein Lob!
Manchmal hat man einfach das Gefühl, dass die Zeit stehenbleibt, obwohl man das gerad gar nicht will. Davon handelt der Text. Das Gegenrezept wird auch gleich mitgeliefert :-)
Der Schreiberling hat übrigens auf seine reale Dame gewartet, die ihn verlassen hat. Das war auch das Ereignis, das die Zeit angehalten hat in der Geschichte.

Ganz liebe Grüße an dich!

A.
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Alt 26.10.2010, 15:14   #4
Wackelpudding
 
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Beiträge: 158


Die Geschichte hab ich sogar immer noch im Kopf. Aber neuerdings muss ich bei dem Wort Sofa an Dinge wie Kirschkernkissen denken. (gibt da so einen lustigen Song)

Ich habe da so eine verrückte Idee und würde gerne so eine gute Schreiberin wie dich dafür begeistern. Wenn ich nen Funken Zeit finde, dann werde ich dir mal eine PN zu dem Thema schicken.

Liebe Grüße zurück!
WP
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Alt 26.10.2010, 18:47   #5
weiblich Aquaria
 
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Tu das, bin gespannt Und der Kirschkernkissensong interessiert mich auch ...
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Alt 26.10.2010, 19:47   #6
weiblich Lux
 
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LOL!
Es leben die wirren Assoziationen eines Wackelpuddings ^^
Ich helfe schnell mal weiter:

http://www.youtube.com/watch?v=HAbvhd2uX1c

Liebe Grüße und schön, dass du wieder da bist!
Die Lux
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Alt 26.10.2010, 21:21   #7
weiblich Aquaria
 
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Ja, dein Liebster spricht zwar in Rätseln, aber zumindest luxisch
Unsereins versteht sowieso immer nur die Hälfte, wegen dem ganzen Wasser in den Ohren...
Leider ist mein Laptop beim Onkel Doktor und ich sitze an ner windows 98 Mühle, die mit you tube leider überfordert ist
Dafür kann sie klanglich toll ne Nähmaschine nachmachen! Das ist schon echt abenteuerlich. Na ja, trotzdem besser als nix...

Man liest sich!
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Alt 15.02.2011, 23:59   #8
gummibaum
 
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Hallo Aquaria,

hatte bisher nur "Grüß dich, Arschloch" von dir gelesen. Die Introspektion "Zeitlos" gefällt mir nun auch. Ich werde idemnächst darauf zurückkommen.

LG gummibaum
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Alt 16.02.2011, 01:00   #9
Thing
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Halli Hallo, auqaria ...

Sie hatte ihn gründlich verarscht und er, in ohnmächtiger Wut und fassungsloser Hilflosigkeit gefangen, war sitzengeblieben, denn


wahrscheinlich litt er an Haemorrhoiden.
M u ß denn diese Gossensprache sein, um einen Text angeblich "authentisch" zu machen?
Poetisch lassen sich auch Kurzgeschichten gestalten.
Auch Kurzgeschichten lassen sich poetisch gestalten.
Kurgeschichten lassen sich auch poetisch gestalten.

Die Deine finde ich rüde.
Fourths-Mahler auf "modern".

Das gilt dem Text, nicht dem Ersteller!


Nichts für

Thing
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Alt 16.02.2011, 10:42   #10
weiblich Aquaria
 
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Hi gummibaum,

das freut mich, ich bin gespannt!


Tja, Thing...

im Gegensatz zu dir wiederhol ich mich so ungern und verweise auf "Grüß dich Arschloch". Was du davon hältst, geht mir am Hinterteil vorbei.

Zitat:
Poetisch lassen sich auch Kurzgeschichten gestalten.
Auch Kurzgeschichten lassen sich poetisch gestalten.
Kurgeschichten lassen sich auch poetisch gestalten.
Und das solltest du unbedingt posten. Ein ganz großer Wurf... Aber nicht nochmal in meinem thread.

A.
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Alt 16.02.2011, 10:53   #11
Thing
R.I.P.
 
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Dies ist eine Variante, die ich dem Literaturkritiker Hans Reimann abgeluchst habe.
Oder andersrum:

lex mihi ars.

Thing
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Alt 16.02.2011, 11:07   #12
weiblich Aquaria
 
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Könnte mir nicht egaler sein, hat nichts mit meinem Text zu tun. Erzähl das woanders.

A.
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Alt 16.02.2011, 11:09   #13
Thing
R.I.P.
 
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Aber, aber!

Es war exakt auf Deinen Text zugeschnitten!

Thing
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Alt 17.02.2011, 10:28   #14
gummibaum
 
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In der Zeit ist schwer zu leben. Darum mag er sie nicht; da zieht sie sich selbst zurück: er altert nicht mehr, büßt sich selbst ein: halbirr findet er im Akt des Schreibens einen Ersatz. Da sich die Zeit so untreu zu den andern fortstahl, ist sie ihm eine Hure und mit Beschimpfungen, die allmählich in Gleichgültigkeit übergehen, eröffnet er sein neues Kapitel. Doch die Unsicherheit, ob er in diesem angst- und glücksfreien Zustand bleiben kann, legt ihn aufs Weiterschreiben fest.

Bis dahin ist der Text schlüssig und fasziniert mich.

Aber der letzte kurze Abschnitt presst zu viele Gedanken zusammen. Die Zuversicht, dass die Zeit zurückkehrt, die Überlegung, dass sie sonst der Welt Gewalt antut, dass er sie zurückholen muss...

hier bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob alles richtig verstehe, verstehen kann.

LG gummibaum
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Alt 17.02.2011, 12:41   #15
weiblich Aquaria
 
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Hi gummibaum,

das Motiv für sein Handeln hat leider bisher niemand so recht erkannt, weshalb ich glaube, dass ich es vielleicht nicht deutlich genug geschrieben habe. Ich helfe mal:

Zitat:
Nach den Ereignissen war die Zeit stehen geblieben.

Zitat:
Er schrieb, dass die Zeit eine Hure war. Eine Hure wie sie.

Zitat:
Und die andere Dame? Solange er klappert, brauch er sie nicht. Die Zeit wird es bringen. Sie bringen. Hoffentlich zurück.
Ein weiterer Hinweis ist die Wanderung durch die grammatischen Zeiten. Die Geschichte beginnt im Plusquamperfekt und endet im Futur. Ein kleiner narratologischer Trick durch Erzählerkommentare.

Die Zeit bleibt niemals stehen...

Na?
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Alt 17.02.2011, 14:07   #16
Ex-Odiumediae
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Ein schönes Spiel mit dem Begriff 'Zeit' und den Zeiten in der Sprache. Gelungen finde ich, wie du die Gedanken des Farrellen anregst, indem du nicht zu viele deiner eigenen Assoziationen mit eingebracht hast. So engst du die Gedanken des Lesers nicht durch ein vorgefasstes Gedankengerüst ein, dass der Leser nicht weiterführen kann, weil er deine Erfahrungen und Gedanken darüber nicht kennt.

Die bereits angesprochene Fäkalsprache gefällt mir zwar eigentlich auch nicht, aber ich finde, sie steht in einer Geschichte mit Sinn besser an, als vielen anderen Geschichten und Gedichten, die ich bisher gelesen habe. Einfach deshalb, weil diese Geschichte schon Substanz hat und ich finde, dass die Fäkalsprache als Stilmittel dient, anstatt als Platzhalter für fehlende Substanz.
Ex-Odiumediae ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2011, 11:50   #17
weiblich Aquaria
 
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Den Sinn und den Inhalt jedes Textes bestimmt in letzter Instanz der Leser und mit ihm über seine Assoziationen und Leseerfahrungen diskutieren zu können ist ein großer Luxus.

Mit dem gedanklichen "Freiraum" hast du eine Wirkungsabsicht von mir erkannt. Das freut mich! In diesem Text habe ich z.B. versucht das Personalpronomen "Sie" doppelt zu besetzen, es steht mal für die Zeit, mal für die "andere Dame" und an den besten Stellen ist beides möglich, ganz so, wie es der Leser will. Bei der Interpretation werden so zwei Schwerpunkte in der Deutung möglich:

1. Der Kerl ist von der Zeit verarscht worden
2. Der Kerl ist von einer Dame verarscht worden und daraufhin hatte er das Gefühl, die Zeit wäre stehen geblieben

Mit ähnlichen Doppeldeutigkeiten hab ich schon bei "Wiedersehen" experimentiert aber da hat es eher verwirrt...

Wie hast du es denn gelesen?
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Alt 21.02.2011, 12:53   #18
gummibaum
 
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Liebe Aquaria,

ich versuch's noch einmal:

"eine Hure wie sie" spricht von einer weiteren Frau, die ihn betrogen hat, die wohl "die andere Dame" ist und deren verletzendes Tun im ersten Satz ("nach den Ereignissen") vage angedeutet wird. Sie löst alles aus, versetzt ihn in den beschriebenen Zustand, klinkt ihn also aus der Zeit aus. Und er, nach verschiedenen Stadien der Entselbstung und erneuten Selbstgewinnung, hofft am Ende auf ihre Rückkehr.

So wäre auch der letzte Satz und das Ganze schlüssig. Dass die "andere Dame" so im Hintergrund bleibt, ist wohl auch den Gefühlen der Hauptperson geschuldet. Ich musste länger puzzeln, mein Konstrukt noch einmal zerlegen. Und, wie Odiumediae schreibt, liegt in dieser Unbestimmtheit ein anregendes Moment.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.02.2011, 13:48   #19
weiblich Aquaria
 
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So habe ich es mir gedacht und möglichst offen zu konstruieren versucht. Ich könnte es nicht besser zusammenfassen!

Danke,
A.
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
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