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Alt 02.04.2012, 09:44   #1
punanni
 
Dabei seit: 04/2012
Alter: 37
Beiträge: 5


Standard Zehn Negerlein

Hallo...ich bin neu hier ich wollt euch mal meine neuste Kurzgeschichte zeigen und bin sehr gespannt ob sie euch gefälllt


Jeden Morgen kehrt er zurück. Manchmal bringt er Fisch, meistens aber nichts. Dann muss ich singen, was ich nur kaum kann. Manchmal nur zehn Minuten, manchmal eine Stunde oder sogar einen ganzen Vormittag. Ein paar schlechte Matrosenlieder, ein paar einzelne Versen eines Trinklieds und das war es auch, was ich kenne, wenn ich es überhaupt schaffe, die Stimme zu halten. Aber es genügt ihm und solange es das tut, darf ich leben.
Jeden Vormittag nach dem Singen gehe ich fischen. Ich sitze mit einer primitiven Angel auf einem Strand, der nur aus Fischgräten zu bestehen scheint und hoffe, dass irgendetwas anbeißt. Anspruch habe ich dabei keinen. Besteht mein Fang aus Fleisch, wird er gegessen; in letzter Zeit oft roh als Ganzes verschlungen. Ich habe Hunger und ich merke jeden Tag, wie ich schwächer werde. Irgendwann werde ich zu schwach sein. Dann ist es vorbei. Er wird mich zu seiner Mahlzeit machen und sich Neue holen. So hat er es schon getan, seit er hier ist und so wird er es wohl immer tun, bis zum Ende aller Zeit.
Jeden Tag stelle ich mir die gleichen Fragen: Wie lange werde ich noch durchhalten? Wie lange wird es noch dauern, bis mein Verstand zerbricht? Wie viele Schiffe liegen hier unter den Wellen? Hunderte? Tausende? Wo bin ich überhaupt?
Heute Abend geht er wieder. Wieder frisst er Fisch und ich kann ein wenig schlafen. Am Morgen mussich wieder singen.
Diesmal wird es das Lied der Zehn Negerlein sein. Das kennt er noch nicht. Und meistens, wenn ich ihm ein Lied singe, das er nicht kennt, bringt er am Tag darauf etwas Fisch mit.
Ja, das Lied der Zehn Negerlein. Ich war einmal Teil von diesem Lied. Damals auf der Fahrt nach Madagaskar.


26. April
Ari Martás 2
Besatzung: 12
Transportfahrt, Start: Marseille, Ziel: Madagaskar; Tamatave, danach Tananarive
Wegetappen: Monrovia bei Kap Mesurado, Lüderitz und, wenn es notwenig wird, Port Natal
Ladung: Verschiedenes, vor allem Werkzeuge und Schuhe. Exakte Liste liegt bei. Soll vor allem eine Abholfahrt für Gewürze werden.

Wir haben Marseille hinter uns gelassen. Die Wetterbedingungen sind gut, die Moral der Crew eher schlecht. Es ist unsere dritte große Fahrt ohne wirklichen Landurlaub und die Männer sind deutlich überarbeitet. Sie streiten sich inzwischen wegen jeder Kleinigkeit. Habe daher etwas mehr Alkohol erlaubt. Der Reeder darf es natürlich nicht wissen, aber ich muss die Moral irgendwie aufrecht erhalten.

Jacques macht mir Sorgen. Er scheint sehr bedrückt zu sein. Warum weiß ich nicht. Werde versuchen, es in den nächsten Tagen herauszufinden.


27. April
Nichts Besonderes zu berichten.

Die Mannschaft ist sehr unzufrieden darüber, dass wir wieder so schnell auf See gegangen sind. Pipin meinte, ich wäre nicht hart genug gegenüber dem Reeder, der uns am liebsten auf eine Fahrt nach der anderen schicken würde. Ganz Unrecht hat er damit nicht.
Er soll es nur nicht vor der Mannschaft ausposaunen. Ich habe keine Lust, wieder die ganze Fahrt lang der Sündenbock zu sein.

Es gibt wie immer viel zu tun. Ich komme kaum dazu, mit der Mannschaft zu reden. Wahrscheinlich ist das derzeit auch gut so. Habe heute jedenfalls den ganzen Tag nur Befehle zugebrüllt oder über den Karten gebrütet.

Mein Erster Maat leistet wie immer gute Arbeit. Er ist nicht gerade effizient im Befehle geben, dafür aber lenkt er sehr leicht den Zorn auf sich und von mir ab. Seine riesige Gestalt und die breiten Schultern sorgen allerdings dafür, dass man sich nicht gegen ihn auflehnt. Er wäre wohl ein sehr guter Kapitän, wenn er mehr davon verstünde, wie man Menschen kommandiert. Ich bin froh, dass er auf meiner Seite ist.


28. April
Sind zwei Tage auf See. Moral unverändert schlecht. Morgen Abend werden wir Algeciras und die Straße von Gibraltar passieren. Ab dann wird die Reise lange werden.

Ich habe heute endlich die Zeitung gelesen, die ich mir vor der Abfahrt von einem Jungen an den Docks gekauft hatte. Seitdem sie diesen Prinz in Jugoslawien oder wo das war erschossen haben, spitzt sich die Lage immer weiter zu. Bin froh, erst mal aus der Heimat weg zu sein. Ich mochte Politik noch nie, ganz besonders wenn sie den kleinen Mann trifft. Und gerade jetzt ist die Lage kurz davor, genau das zu tun. Wenn wir zurückkehren, kann es sein, dass unser Land im Krieg ist. Ich muss mich auf der Rückfahrt, am besten gleich vor der Straße von Gibraltar dringend informieren, wie die politische Lage ist. Ich will nicht, dass wir von irgendwem abgefangen werden, nur weil ich nicht wusste, welches Land wieder unsere Feinde sind.

Paul darf nicht wissen, dass ich eine Zeitung habe. Sein nervtötender Patriotismus würde die Mannschaft nur noch mehr reizen. Solange er säuft, ist er aber zu ertragen.

Habe immer noch keine Ahnung, was mit Jacques ist. Vielleicht ist seine Frau aus der Schnur gegangen. Das wäre nur gut. Er sollte lieber früh als spät herausfinden, was ein Matrosenleben in Freiheit kosten kann.


29. April
Nichts Besonderes zu berichten, wieder.

Habe mit Jacques gesprochen. Er sagt, er hätte ein ganz schlechtes Gefühl diese Reise betreffend. Ich mag solche düsteren Vorahnungen nicht. Sie treffen eigentlich sowieso nie zu und sind nur schlecht für die Moral, ganz besonders, wenn diese eh schon am Boden ist. Habe ihn darum gebeten, mit niemanden darüber zu sprechen.

Nene studiert wieder ein neues Lied ein. Habe ihn gebeten, das nach dem Schlafen gehen oder auf der Wacht zu lassen. Es stört die anderen.

29. April, Abend
Haben Algeciras noch vor Sonnenuntergang erreicht und sind in der Straße von Gibraltar. Noch eine gute Stunde und wir werden in den Atlantik stechen.


30. April
Mir gefällt nicht, wie sich die Mannschaft verhält. Sie sind ständig aggressiv und fahren sich schon wegen Kleinigkeiten gegenseitig an. Der Erste Maat meinte, wir sollten vielleicht eine Strafe für Streitereien einführen. Keine schlechte Idee. Ich werde darüber nachdenken, wenn es ernster wird.

Heute hat Jakob etwas gesagt, worüber ich schon den ganzen Nachmittag nachdenken muss: Wir sprachen gerade nach dem Mittagessen über Politik. Auch wenn die anderen keine Zeitung gelesen haben, die Spannungen können ihnen ja gar nicht entgangen sein. Dieses ganze Wettrüsten ist wie eine Blase, sagte der Erste Maat, und wenn sie platzt, gibt es Krieg. Das wäre dann jedes Volk gegen jedes Volk. Soweit will ich mich eigentlich gar nicht mit der Politik befassen, aber Jakob erwiderte dann etwas sehr Anregendes: Er meinte, dass Seefahrer schon immer ein ganz eigenes Volk gewesen sind. Das sind keine Franzosen, Preußen, Spanier, Briten oder Italiener, sondern ein ganz eigenes Volk auf dem Wasser, das eigentlich gar nicht will, dass sich die hohen Herren in ihre Angelegenheiten einmischen.

Jakob hat schon immer gern Reden geschwungen, ich stimme ihm aber zu. Bisher habe ich es nur auf Kriegsschiffen erlebt, dass die Besatzung rein aus Franzosen bestand. Heute haben wir neben Franzosen einen Portugiesen an Bord, früher waren es zwei Spanier und ein Elsässer. Auf der See zählt nur, wer dazu taugt, nicht woher man kommt. Die Hanse hat das am besten bewiesen.


1. Mai
Endlich Mai. Kann es kaum erwarten, bis der Winter wieder vorbei ist.

Heute fiel mir auf, dass wir so ziemlich alle Typen der modernen Seefahrerei als Matrosen haben. Mein Erster Maat ist der raue, grimmige Seemann, der kaum spricht; Nene singt und ist immer gut gelaunt; Robert ist älter, sehr erfahren und ein ziemlicher Hurenfreund; der Neue ist einer, den noch keiner kennt und noch seine düsteren Geheimnisse hat und Pipin ist jung und eher weich und wird schnell von den anderen vorgeführt. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir unter dem Namen Pipin immer einen jungen, unerfahrenen Weichling vor. Dabei kenne ich außer unseren Küchenjungen nur zwei andere Pipins und die sind ziemlich raue Kerle. Ansonsten haben wir mit Jakob den erfahrenen, überreifen Jüngling und Adolphe ist unser Kraftprotz, der sich gerne auch mal prügelt. Ich will gar nicht wissen, in wie vielen Hafenkneipen er schon Nasen platt gedrückt hat. Guy ist der Spaßvogel, der sich für keinen Scherz zu kindisch ist und Jacques, Nicholas und Jakob sind die typischen Matrosen, die es auf jedem Schiff geben muss.

Ob der Neue bleiben wird, weiß ich nicht. Er freundet sich kaum mit den anderen an. Er lässt sich zwar auch nichts von ihnen gefallen (was auch sehr gut ist), aber er bleibt lieber allein und brütet vor sich hin. Nicholas und Pipin wollen uns anscheinend bald verlassen. Zumindest bin ich mir damit bei Pipin sicher, der ja schon mit mir geredet hat. Bei Nicholas habe ich dagegen nur Vermutungen: Er wirkt schon die letzten drei Fahrten schlecht gelaunt und versteht sich kaum noch mit der Mannschaft. Dabei war er immer einer von denen, die mit jedem gut zurecht kommen. Sogar mit Adolphe, den nicht einmal der Erste Maat leiden kann. Für mich ist das Zeichen. Lange wird er wahrscheinlich nicht mehr bleiben. Ich bin jedenfalls froh, dass er seine Arbeit immer noch sehr gut macht und werde ihn vermissen.

1. Mai, Abend
Ich höre gerade die Männer von unten brüllen und grölen. Das ist endlich ein gutes Zeichen.


2. Mai
Wetter wird schlechter. Viel Regen.

Keine Lust zu Schr


3. Mai
Die Mannschaft redet inzwischen über nichts anderes als Frauen und diesem Pfaffen in Bastia. Er verfluchte jeden Morgen die Seeleute, dass sie sich der Sünden Selbstbefriedigung und Hurerei hingeben und dass Gott sie eines Tages dafür bestrafen wird. Robert hat ihn einmal gefragt, wie man denn Monate ohne eine Frau auskommen soll. Daraufhin der sagte der Pfaffe, er würde schon sein ganzes Leben ohne Frau auskommen. Jetzt machen sie Witze darüber, dass ihm wahrscheinlich die Hose explodiert, sobald sich ein Weib in seinen Beichtstuhl setzt oder der Sperma schon in die Schuhe tropft, wenn er die jungen Mädchen in der Sonntagsmesse sieht. Das ist anscheinend die Seefahrerart, wenn es um das Geschlecht geht: Entweder man redet über nichts anderes als Schwänze oder man beschreibt sich gegenseitig die tollsten Frauen und schönsten Muschis.

Auch wenn ich es nicht mag, wie die Mannschaft gotteslästerlich über den alten Pfaffen spottet – ich frage mich schon, wie man ein ganzes Leben ohne ein Weib oder die Hand am Schwanz auskommen kann. Glaube nicht, dass das nur allein mit der Kraft Gottes geht.

Ich könnte jetzt auch einen üppigen Bus


4. Mai
Das Wetter wird zunehmend schlechter. Ich weiß, dass der Atlantik ein raueres Pflaster als das Mittelmeer ist, aber trotzdem mag ich es nicht, wenn es so außerordentlich schlecht voran geht. Der viele Regen und die riesigen Wellen nehmen der Mannschaft Stück für Stück das letzte bisschen Zufriedenheit. Habe Raufereien grundlegend verboten. Wer sich nicht daran hält, kommt für zwei Tage in die Brigg. Habe dazu den alten Funkerraum zur Brigg umfunktionieren lassen. Ich weiß nicht, wie lange diese Abschreckungsmethode funktioniert, aber ich hoffe doch, dass es zumindest bis der Hälfte der Reise reichen wird.

Habe heute auch noch viel über Vater und Onkel Marcus nachgedacht. Ich glaube, dass ich deswegen die Politik nicht mag.


5. Mai
Zehn Tage auf See.

Die ewigen Stürme zeigen ihre Wirkung. Wir sind jetzt erst an der Etappe vorbeigekommen, bei der wir eigentlich schon am 2. Mai gewesen sein sollten. Ich hasse Verspätungen und ich hasse es noch mehr, sie den Reedern zu erklären.

Die Drohung mit der Brigg hat überhaupt nicht funktioniert. Heute prügelten sich Adolphe und der Neue. Nicht wild, aber sie haben es getan. Der Neue hat ein blaues Auge, Adolphe wahrscheinlich nur einen verletzten Stolz. Natürlich konnte mir keiner sagen, wer angefangen hat. Ich glaube aber, es war Adolphe, weil er immer anfängt und die Mannschaft will ihn einfach nur verteidigen, also sitzt er die nächsten zwei Tage im der Brigg. Natürlich fiel mir erst dann auf, dass die Toilette im Funkerraum schon gar nicht mehr funktioniert. Jetzt muss er dreimal am Tag von zwei anderen zu den Toiletten im Heck begleitet werden. Und was mache ich, wenn wieder keiner angefangen haben will und ich es nicht so leicht entscheiden kann, wie bei Adolphe?

Wieso denke ich Ideen nie bis zum Ende, bevor ich sie ausführe? Ich muss mir eine neue Brigg überlegen. Oder eine Strafarbeit.


6. Mai
Das mit der Brigg funktioniert doch besser, als erwartet. Adolphe scheint es wirklich stören, den ganzen Tag nur herumsitzen zu können und für jedes Geschäft gleich wie ein Gefangener eskortiert zu werden. Was mache ich eigentlich, wenn sich wieder zwei prügeln und gerade einer einsitzt? Das mit der anderen Brigg sollte ich wirklich noch mal in Erwägung ziehen. Der Funkerraum kann dann als Ausweichbrigg benutzt werden.

Paul scheint aber etwas wegen der Zeitung zu ahnen. Er meinte heute, dass es doch ungewöhnlich ist, wenn ich soviel Zeit in meinem Quartier verbringe und dass ich, immer wenn ich das tue, eigentlich lese. Habe ganz vergessen, wie neugierig der Kerl werden kann, wenn er frustriert genug ist. Ärgere mich inzwischen, dass sie uns in Marseille nicht einmal zwei Tage Landurlaub gegeben haben. Ich bin ja dann der, der die Suppe mit unzufriedenen Männern auszulöffeln hat.

Das Wetter ist weiterhin furchtbar. Regen, Stürme, riesige Wellen und eine Eiseskälte. Der Funk ist ausgefallen. Zumindest empfangen wir nichts mehr. Wenn wir ein anderes Schiff sehen, kommunizieren wir halt wieder mit Fahnen und Feuerwerkskörpern.

6. Mai, Nachtrag
Haben kaum noch Feuerwerkskörper. Wie können die weggekommen sein? Das würde sich die Mannschaft nicht trauen und selbst wenn, hätte ich es doch mitbekommen, wie sie die Raketen verballern.


7. Mai
Regen, Regen, Regen. Es will gar nicht mehr aufhören.

Die Mannschaft war heute nervtötender als sonst: Adolphe ist wieder frei und hat sich gleich wieder mit dem Neuen in die Haare gekriegt. Ich frage mich, wann er arbeiten will, wenn er die ganze Zeit in der Brigg sitzt. Paul ist noch misstrauischer als früher und schaut jede halbe Stunde in der Brücke vorbei, ob ich gerade lese. Habe ihn daraufhin den Laderaum prüfen und wischen lassen. Ich glaube, er ist jetzt noch damit beschäftigt. Sowieso, was will er mit der Zeitung? Er wird nur wieder jedem erzählen, wie toll Frankreich ist, was besonders jetzt keiner wissen will.

Das Rätsel der verschwundenen Raketen habe ich noch nicht gelöst. Habe da so meine Theorien:

1. Einer der Matrosen hat sie gestohlen, vielleicht auch zwei oder drei zusammen. Unter Alkohol trau’ ich denen das zu, ganz besonders Adolphe oder Guy. Aber Ersterer war in der Brigg und Guy hätte sie sofort an Deck verschossen. Sowieso, warum sollte man sie stehlen und irgendwo verstecken? Ich werde morgen nach dem Mittag die Quartiere durchsuchen.

2. Einer von der Lademannschaft oder von den Leuten des Reeders hat sie geklaut. Halte ich aber für unwahrscheinlich. Wenn man das unbedingt tun will, wäre es wesentlich leichter, sie aus dem Lager an den Docks zu stehlen, als aus einem Schiff zu tragen, wo dich wirklich jeder sehen kann.

3. Wir haben schon seit langer Zeit nur noch so viele Raketen und mir ist es erst jetzt aufgefallen.

Was rege ich mich eigentlich auf? Wir haben so oder so genug Feuerwerk, um tagelang jede Stunde eine Rakete abzusetzen.


8. Mai
Habe die Quartiere durchsucht. Keine Spur von irgendwelchen Raketen. Verliere langsam die Lust an diesem Detektivabenteuer.

Heute hat Jacques ganz panisch beim Essen erzählt, das Wasser hätte gestern Nacht grün geleuchtet. Wieso leuchtet das Wasser eigentlich ständig in den Köpfen der Matrosen? Wenn sie genug Alkohol bekommen haben, erzählen sie immer, dass das Wasser Nachts Blau, Grün, Gelb, Rot oder sonst irgendwie glüht oder dass sie irgendwas darin schwimmen gesehen hätten. So viele Geschichten, wie ich mir inzwischen anhören durfte, muss das Meer ja bis zum Platzen voll von irgendwelchen Monstern, Meerjungfrauen und Geistern sein. Was mich nervt: Es glauben immer noch ein paar an solchen Seemansgarn. Grünes Leuchten, das bedeutet, dass der Teufel am Schiff vorbeigeschwommen kam – sagen zumindest Robert und Guy. Ich wusste gar nicht, dass beim Aberglauben jede Farbe unterschiedliche Bedeutungen hat.

Mir fällt gerade ein, wir haben ja eigentlich zwei Neulinge an Bord: Der Neue, der aber schon auf genug anderen Schiffen war und Jacques, der gerade erst zum Matrosen wird. Wieso hat die Mannschaft Jacques so schnell akzeptiert, den Neuen aber nicht?

Habe eine Idee.

8. Mai, Nachtrag
Ich habe Adolphe gerade eben freigelassen und ihm gedroht, dass ich ihn für den Rest der Fahrt einsperren lassen werde, wenn er sich noch einmal prügelt.


9. Mai
Ich habe ein wenig die Orientierung verloren, wo wir eigentlich sind. Die Strömung ist stärker als erwartet und der nicht enden wollende Sturm macht es nicht leichter. Bisher bis auf Kleinigkeiten keine Schäden.

Habe die Matrosen heute bei einem neuen Spiel erwischt: Adolphe, Nene, Nicholas und Jacques (der wahrscheinlich weil er zum Mitmachen gezwungen wurde) standen an der Reling und masturbierten ins Meer. Wer zuerst abspritzt, gewinnt, erklärte mir Adolphe, was ja in der Kälte gar nicht so leicht ist. Guy wäre zwar auch für einen solchen Blödsinn zu haben, aber der ist wahrscheinlich abergläubisch genug, um zu glauben, dass das Meer dann irgendwann davon schwanger wird. Ich mag dieses Spiel nicht. Finde es eklig. Aber solange es die Mannschaft davon ablenkt, sich zu prügeln, soll es mir Recht sein. Seit ich ihnen verboten habe, ihre Heuer gegenseitig zu verwürfeln, sind sie echt kreativ geworden, was neue Spiele angeht. Der Neue und Paul würfeln jetzt zum Beispiel um Aufgaben, so wie es sich auf einem richtigen Schiff gehört.

Die Moral ist aber immer noch nicht besser. Sonnenschein und klare Sicht würden da schon ein wenig helfen. Meine Frau, diese untreue Hure, hatte aber Recht: Tagebuchschreiben hilft mir, ein wenig entspannter zu sein.


10. Mai
Habe die Nacht kaum schlafen können. Ich fühlte mich ständig durch das Bullauge beobachtet und wachte immer wieder auf. Da draußen war nichts. Kein Matrose, der sich einen Scherz erlaubte und auch kein Geist oder sonst irgendetwas. Ich hasse solche Angstattacken, besonders, wenn sie mir den Schlaf rauben. Die Mannschaft fragte schon, was ich denn die ganze Nacht gemacht hätte.

Als das Wetter etwas ruhiger wurde, haben wir ein anderes Schiff gesehen, anscheinend ein Kriegsschiff. Eine Flagge konnte ich nicht erkennen. Nene meinte, das wäre eine Danton gewesen, ein Typ der französischen Marine. Man muss diesem kleinen Portugiesen wirklich lassen, dass er verflucht gute Augen hat. Bräuchte er keinen Schlaf, würde ich ihn am liebsten jede Nacht auf die Wache schicken. Dieses Kriegsschiff grüßte uns nicht und ich sah auch keine Notwendigkeit daran. Komisch war für mich nur, dass ich überhaupt keine Maschinengeräusche hörte.

Die Mannschaft, oder besser gesagt, Jacques, bestand darauf, das nächste Schiff mit dem Horn zu grüßen. Vielleicht werde ich das auch tun, wenn es ein Französisches ist, denn keiner hier kann Englisch oder Deutsch. Auch wenn ich nicht weiß, was wir mit ihnen zu besprechen hätten.

Die See ist nun endlich etwas ruhiger. Ist zwar immer noch nebelig und es regnet in regelmäßigen Abständen, aber jetzt gerade kann man richtig den Wind heulen hören.


11. Mai
Es ist erst kurz nach Mittag und ich schreibe schon wieder.

Der Tag heute war seltsam bisher seltsam genug. Wir trafen ein zweites Schiff, so unwahrscheinlich das auch ist. Es hatte gerade zu regnen angefangen, da erkannten zwei Männer dieses zweite Schiff im Nebel: Es war ein kleiner Eildampfer unter britischer Flagge, in die gleiche Richtung unterwegs wie wir. Er fuhr für einen solchen Typ sehr langsam – So langsam, dass wir ihn als Frachtschiff mühelos überholen konnten. Für mich gruselig: Wieder keine Maschinengeräusche und auf das Horn reagierten sie nicht. Nene meinte, er würde darauf auch mit dem Feldstecher keine Menschen sehen. Gut, da gab es sehr viel Nebel in der Sicht, aber unheimlich war es schon. Jacques redete vorhin der Mittagspause von nichts anderem mehr. Die Frustrationen der Mannschaft haben sich jetzt in Ängste verwandelt.

Ich muss zugeben, sogar ich bekomme ein wenig Angst. Zwei Schiffe in zwei Tagen, beide totenstill. Auch wenn beide eine Maschinenpause eingelegt haben konnten, sind das doch zwei gewesen. Ein etwas seltsamer Zufall, das gebe ich zu – aber sicher nicht vor der Mannschaft. Ich glaube nicht, dass das Geisterschiffe waren.

Haben wir erst mal Land erreicht, werden die Männer wieder an was anderes denken.

11. Mai, Nachtrag
Viel passierte heute nicht mehr. Jakob ist an Fieber erkrankt. Das ist ein Kessel, der ausfällt und uns noch langsamer macht. Er hat mir heute erzählt, dass sein Name eigentlich Preußisch ist und Jacques bedeutet. Ein Preuße ist er aber sicher nicht.

Habe ihn jedenfalls für morgen frei gegeben und seinen Zimmergenossen Pipin zu Nicholas ins Zimmer ziehen lassen, damit der nicht auch noch krank wird. Beide waren alles andere als glücklich damit.


12. Mai
Heute Nacht heulte der Wind schon wieder so furchtbar und ich fühlte mich wieder beobachtet. Die beiden Schiffe haben der Besatzung übel mitgespielt. Sie reden jetzt über nichts anderes mehr als Geisterschiffe und böse Omen. Das sind Menschen des 20. Jahrhunderts! Und die glauben noch an Geister und böse Dämonen. Ich hoffe immer noch, dass uns der Eildampfer einholt und die Mannschaft auslacht. Wenn ich darüber nachdenke, muss er von seiner Größe her ein Postschiff gewesen sein.

Für das Kriegsschiff und den Eildampfer gibt es sicher ganz einfache Erklärungen: Als diese Danton an uns vorbeifuhr, in entgegengesetzter Richtung, war das Meertosen sehr laut. Wahrscheinlich hatten wir die Maschinen gehört und sie für Wellenbrechen gehalten. Das Postschiff hatte vielleicht einen Motorschaden oder einfach nur eine Pause eingelegt, möglicherweise war ein Kessel geplatzt, was zumindest erklärt, warum es uns kein Hilfesignal gab. Vielleicht waren die Engländer auch einfach nur zu stolz, einen französischen Händler um Hilfe zu bitten. Wer weiß.

Morgen oder übermorgen werden wir die Küste von Monrovia, also die Grenze zum Kap Mesurado erreichen und uns in die Straße einordnen. Das wird die Mannschaft hoffentlich wieder auf bessere Gedanken bringen. Ich überlege schon, ob ich die Männer nicht für zwei Tage an Land gehen lasse. Andere Menschen und Huren würden jetzt wahrscheinlich Wunder tun.

12. Mai, Nachtrag
Wieder eine Idee nicht zu Ende gedacht: Ich weiß nicht, ob es mit den ganzen aktuellen Spannungen erlaubt ist, französische Matrosen an Land kommen zu lassen. Die sind ja in letzter Zeit gut gewachsen.

Und ich hatte gerade entgültig genug von Pauls Neugier. Er klopfte gerade zweimal in einer Stunde an meine Tür, um irgendwelche unwichtigen Fragen zu stellen. In Wirklichkeit wollte er wahrscheinlich wissen, wie lange ich brauchte, die Tür zu öffnen, weil ich ja erst wieder etwas verstecken muss. Ich habe die Zeitung gerade eben von Bord geworfen. Dann sind die Geister wenigstens auf dem neuesten Stand der Dinge.

12. Mai, Zweiter Nachtrag
Guy kam gerade zu mir und sagte, er fühlt sich seit zwei Nächten beobachtet. Habe nichts von meinem Gefühl erwähnt. Ich brauche nicht noch mehr Angst an Bord.


13. Mai
Ich weiß nicht, ob ich mich heute beobachtet gefühlt habe. Die ganze Nacht war unheimlich genug. Der Wind fing wieder mit dem Heulen an, diesmal so schrecklich, dass ich gegen Morgen kaum noch ein Auge zu bekommen habe. Die Mannschaft redet jetzt, besonders diese Idioten Robert und Guy, nur noch vom Geheul der Geister auf diesen beiden Schiffen und dass sie uns zu sich rufen. Jakob hat sich in sein Zimmer eingeschlossen (er hat die Tür wahrscheinlich mit einem Stuhl verbarrikadiert) und Jacques würde am liebsten mit Robert und Guy wimmern, wenn ich ihm nicht soviel zu tun geben würde.

Arbeit beschäftigt, hatte Vater immer gern gesagt, und lenkt einem von den Sorgen des Alltags ab. Ich hoffe, dass Jacques so nicht in seine Ängste verfällt. Ich selbst bin als Beispiel vorangegangen, habe die Karten geprüft und noch einmal das ganze Schiff nach den Feuerwerksraketen durchsucht – ergebnislos.

Der Nebel und dass es ständig bewölkt ist, machen es mir schwer, unsere Position zu bestimmen. Sobald wir die Küste erreichen, wird dieses Problem gelöst sein. Ich gehe jetzt schlafen und hoffe, dass der Wind diese Nacht nicht wieder so schreit.

13. Mai, Nachtrag
Es muss schon lange nach Mitternacht sein. Der Wind heulte heute so stark wie noch nie. Aber das war es nicht, was mich dazu brachte, jetzt noch mal bei Kerzenlicht zu schreiben. Guy, Pipin und Adolphe haben mich vorhin geweckt; aus Jakobs Quartier wären Stimmen gekommen. Jakob hat tatsächlich geredet, aber eher mit sich selbst. Es hörte sich so an, als würde er irgendetwas unter Tränen anflehen (wahrscheinlich Gott). Wir mussten gemeinsam gut fünf Minuten gegen seine Tür hämmern, bevor er endlich damit aufhörte und sie öffnete. Er sah furchtbar aus: Ausgemergelt, blass und kraftlos, so wie ich es von dem eigentlich sehr kräftigen Mann nie erwartet hätte. Sein Fieber schien aber zumindest gesunken. Wenigstens eine gute Nachricht heute.


14. Mai
Mittag
Endlich Land! Nene hat es heute als Erster gesehen, vielleicht eine Minute vor mir. Es ist immer noch sehr nebelig und regnet auch noch sehr oft, aber wir konnten es trotzdem gut erkennen. Schwarze Klippen, Strände, Büsche und Palmen, das ist alles, was ich im Moment sehen kann. Ich will auch nicht näher heranfahren, aber es ist zumindest ein Hoffnungsschimmer. Folgen wir ihm, werden wir sicher bald wieder Anschluss zu den Handelsrouten oder eine Kolonie finden. Die Mannschaft ist offensichtlich erfreut darüber. Das ist die gute Nachricht.

Die Schlechte: Das ist nicht die Küste um Monrovia und wahrscheinlich noch nicht mal die von Liberien. Wir müssen immer noch viel weiter nördlich sein. Ich hätte nie gedacht, dass wir soweit vom Kurs abgekommen sind. Habe es dem Ersten Maat erzählt und ihm gesagt, es nicht weiter zu sagen. Ich kenne ihn aber gut genug, also wird es vielleicht noch zwei Tage brauchen, bis mich die Mannschaft fragen wird.

Zuerst diese endlosen Stürme, dann die zwei Geisterschiffe und jetzt auch auf falschem Kurs. Ich weiß nicht einmal, wo genau wir sind. Dank den dichten Wolken kann man nicht mal erkennen, wo die Sonne auf und wo sie untergeht. Das weiß ich nur, weil der Kompass noch funktioniert. Wenns kommt, kommts dicke, sagte Mutter immer.

14. Mai, Abend
Jakob scheint wieder gesund zu sein, einigermaßen. Lief den ganzen Tag wie eine Leiche herum. Tiefe Augenringe, der Blick gebrochen und einen Atem, den man nicht mal hören konnte, wenn man direkt neben ihm stand. Er aß und trank nichts, den ganzen Tag keinen Bissen und keinen Schluck. Er hat sich nicht einmal nach dem Essen etwas aus der Küche geholt, hat mir Robert erzählt. Aber zumindest hat er kein Fieber mehr. Habe ihm heute noch den Tag frei gegeben. Wenn er sich gut genug fühlt, muss er morgen wieder an den Ofen. Wir müssen die verlorene Zeit irgendwie wieder aufholen und Robert ist ein sehr schlechter Ersatz als Köhler.


15. Mai
Das Land ist wieder weg. Vermutlich sind wir übernacht wieder von der Strömung weggezogen worden oder die Küste hat einen Bogen gemacht. Keine Ahnung, spielt auch keine Rolle. Wenn wir nicht bald wieder bestimmen können, wo wir sind oder Monrovia erreichen, werden wir noch später eintreffen. Zu meinem Glück rechnet man bei Kursen um den Kap immer mit Verspätungen. Was waren das für Stürme, die uns soviel Zeit gekostet haben?

Auch wenn das Land wieder weg ist, dafür hat es die Nacht nicht mehr so geheult. Habe endlich mal wieder durchgeschlafen.

15. Mai, Abend
Kaum ist das Land verschwunden, kommen die Ängste zurück. Pipin meinte heute vor versammelter Mannschaft, er hätte während der Wache ein Licht unter Wasser tanzen sehen. Dreimal in der Nacht. Es wäre dem Schiff gefolgt, hätte sich aber nach kurzer Zeit wieder aus dem Staub gemacht. Und dann wollten sie noch Jacques’ Geschichte vom glühenden Wasser hören und phantasierten wieder über Geisterschiffe. Allen voran diese zwei ewig abergläubischen Panikmacher Robert und Guy. Habe überlegt, sie beide in die Brigg zu sperren. Dann könnten sie dort den ganzen Tag über ihre irren Theorien von wegen Geister und dem Teufel spinnen und wir hätten wieder unsere Ruhe. Allerdings eine Arbeitskraft und den Koch weniger.

Jakob war heute genauso eine Leiche wie gestern. Sprach kein Wort, aß kaum etwas (wenigstens aber etwas) und zog in einer Trauerstimmung wie ein Gespenst übers Schiff. Gearbeitet hat er heute noch nicht. Er sieht furchtbar aus. Diese Blässe. Als wäre er dem Tod persönlich gegenüber gestanden und dabei war es doch nur Fieber gewesen. Oder habe ich da etwas übersehen? Für so was brauchen wir einen Arzt an Bord, aber die Reederei würde das niemals bezahlen.

Jakob bat mich, ihn heute für die Wache einzuteilen. Heute Nacht will er wach sein, meinte er, warum auch immer. Ein bisschen Beschäftigung kann ihm nicht schaden, also habe ich ihn zugeteilt. Er hat mit Pipin Dienst, seinem glaube ich besten Freund. Hoffentlich erzählt der ihm bloß nicht zuviel von seinem Licht.

15. Mai, Nachtrag
Habe vorhin Paul auf dem Gang getroffen. Er schüttelte immer wieder den Kopf, wie ein irrer Hund. Keine Ahnung, was wieder in ihn geraten ist.


16. Mai
Jakob ist verschwunden.

Pipin hat mich heute Morgen geweckt und meinte, er hätte Jakob verloren. Hat total aufgeregt von seinem Licht und Geistern geredet. Jakob ist angeblich zum Pinkeln an die Reling auf der anderen Seite vom Schiff gegangen. Dann kam das Licht im Wasser, angeblich für weniger als eine Minute und als es wieder erlosch, war Jakob auch schon weg.

Keine Ahnung, was ich davon halten soll. Habe erst mal das ganze Schiff durchsuchen lassen und selbst mitgemacht. Jakob ist nicht mehr an Bord. Wenn doch, hätte er sich zumindest gut versteckt, was ich ihm nicht zutraue. Guy ist eher der Typ, der so was wirklich über einen ganzen Tag durchziehen könnte, nur um die anderen zu erschrecken.

Jetzt erzählt sich die Mannschaft alle möglichen Geschichten von bösen Geistern, die Matrosen zu sich ins Wasser holen. Frage mich, was wirklich passiert ist. Hat Jakob vielleicht den Freitod begangen? Oder wahrscheinlicher: Er hat einen Schwächeanfall bekommen (er sah ja immerhin noch schrecklich aus), hat beim Pinkeln das Gleichgewicht verloren und ist ins Wasser gefallen. So oder so ist das gar nicht gut. Ein toter Kamerad wird der Mannschaft den letzten Fetzen Moral kosten. Ich werde morgen eine Andacht für ihn halten.

Wenn ich nur langsam wüsste, wo wir eigentlich sind.

16. Mai, Abend
Pipin und seine Scheißangst machen mich ganz verrückt!

Jakob hat Selbstmord begangen. Ich bin heute zusammen mit dem Ersten Maat und Nicholas in sein Quartier: Er hat ein riesiges Chaos (Kleidung wild auf dem Boden verstreut und anscheinend hat er versucht, sein Bullauge mit einer Gabel zu zerkratzen) und einen unheimlichen Abschiedsbrief hinterlassen.

Ich übertrage ihn ins Tagebuch, weil ich das Original den Reeder überlassen will (er soll dann entscheiden, ob ihn der Pfarrer lesen soll oder nicht):

Er sagt, er nimmt mich als Erster
weil mein Willen schon bricht
zerreißen wird er meine Seele
und meine Knochen zermalmen.
Wir sind auf seinem Tisch
Nacht für Nacht
in den Tagen des Leids.

Unheimlich ist für mich, dass Jakob kaum Lesen und Schreiben konnte. Er muss es in den letzten Wochen gelernt haben. Zumindest weiß ich jetzt, wohin mein zweites Tintenfass und mein Füllfederhalter verschwunden sind (und dass sie mir überhaupt fehlen). Ich habe dem Ersten Maat und Nicholas strengstens verboten, mit irgendwem darüber zu reden. Das Ganze würde diese Geisterangst noch schlimmer machen. Mir stellt es die Haare auf, wenn ich diesen irren Abschiedsbrief nur ansehe. Ich werde ihn jetzt gleich in der Brücke deponieren und das Fach verschließen. Hätte ich nur Pipin mit Jakob im Zimmer gelassen – dann wäre das jetzt gar nicht notwendig.

16. Mai, Nachtrag
Ich kann es sehen. Das Wasser leuchtet grün!


17. Mai
Früher Morgen
Bin sehr müde.
Zuerst habe ich dieses seltsame Leuchten gesehen. Ich bin davon aufgeweckt worden. Weiß nicht, ob es das ist, was Wissenschaftler eine optische Täuschung nennen, aber es hat wirklich geleuchtet. Es hörte dann zum Glück einfach auf. Vor lauter Angst konnte ich kaum schlafen. Dieser blöde Pipin und seine verfluchten Geistergeschichten!

17. Mai, Abend
Der Tag kann kaum noch schlimmer werden. Eventuell haben wir einen Mörder an Bord.

Beim Morgenappell fiel es gleich auf, dass der Erste Maat fehlte. Er ist wie Jakob verschwunden. Einfach spurlos. Einen Abschiedsbrief hat er nicht hinterlassen. Dafür aber haben wir Blutspuren an der Bugtreppe zum Deck gefunden. Eine kleine, frisch getrocknete Pfütze auf den Stufen und ein paar Spritzer an der Wand. So als hätte ihn jemand von hinten mit einem Knüppel niedergeschlagen und wahrscheinlich ins Wasser geworfen. Keiner will natürlich was gehört haben. Dafür haben aber Pipin, Robert und der Neue das grüne Leuchten gesehen.

Die Panikküche brodelt wie noch nie! Angeblich hat der Erste Maat Nicholas erzählt, er hätte in den letzten Tagen furchtbare Alpträume gehabt, hätte sich beobachtet gefühlt und es war so, als würde jemand zu ihm im Schlaf reden und ihm die schrecklichsten Dinge erzählen. Die ganze Mannschaft redet nur noch von Geistern und dass sie heute Nacht alle aufbleiben werden. Natürlich hat ihnen Nicholas noch von Jakobs Abschiedsbrief erzählen müssen. Paul hat den ganzen Tag wie eine Frau geweint und Jacques erbrochen, vor Angst. Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist.

Der Verlust des Ersten Maates trifft mich hart. Er war ein guter zweiter Mann und hat sich an wirklich jeden meiner Befehle gehalten und war wirklich gut, wenn es darum ging, den Zorn auf sich zu lenken und meine Autorität unangetastet zu lassen. Ohne ihn wird es schwer, die Mannschaft ruhig zu halten. An eine Andacht für die beiden ist in nächsten Tagen nicht zu denken.

Zu der Mördertheorie: Hörte gruselige Geschichten aus England, in der ein Mann Frauen einfach zum Spaß umbrachte. Angeblich gibt es Menschen, die andere nur zum Spaß ermorden. Vielleicht haben wir so ein Monster auf dem Schiff. Er hat Jakob aufgelauert und ihn von Bord gestoßen; den Bären von einem Ersten Maat musste er wohl niederschlagen und dann entsorgen. Aber kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer das getan haben könnte. Ich kenne meine Besatzung und keiner hat wirklich das Potenzial, seine Kameraden umzubringen. Und der Neue kann es eigentlich nicht gewesen sein: In seinen Augen sehe ich mehr Angst als dunkle Seiten. Verdächtig sind mir Nene und Robert: Nene blieb mir in letzten Tagen etwas zu gelassen, Robert ist seltsam. Ein böses Gefühl sagt mir aber, dass es keiner meiner Leute war, aber an einen Geist will ich auch nicht glauben.

Höre die Männer draußen auf den Korridoren marschieren. Heute Nacht wird wohl keiner schlafen.

17. Mai, Nacht
Kann es kaum beschreiben.

Es ist wirklich wahr!

Sie haben mich geweckt. Das Licht ist wieder da.

Habe es im Wasser gesehen: Eine große Kugel aus Licht. Tauchte unter und verschwand. Paul ist weg. Es hat ihn mitgenommen. Habe solche Angst.


18. Mai
Ich weiß nicht, wo wir sind. Es ist immer bewölkt oder es regnet. Ich kann unsere Position einfach nicht mehr bestimmen. Nur der Kompass geht noch, der Funk immer noch nicht. Wir sind den ganzen Tag nach Osten gefahren und müssten schon längst an der afrikanischen Küste sein, egal an welcher. Aber da ist nur noch mehr See.

Ich habe es heute Nacht gesehen. Beschreiben kann ich es nicht. Nicholas und Jacques haben gegen meine Tür gehämmert und geschrieen, dass etwas aus dem Wasser kommt. Als ich an Deck war, habe ich es gerade noch untertauchen sehen. Es war eine Kugel aus grünem Licht, wie die Sonne nur halt grün, so groß und so breit wie zwei Männer. Ich glaube, eine Gestalt gesehen zu haben, irgendwo bei der Kugel. Sie tauchte immer tiefer und erlosch viele Meter unter dem Schiff. Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber dieses Gefühl war da! Ich konnte es genau spüren. Es fühlte sich wirklich ganz genauso wie diese mulmige Angst im Hinterkopf an, als ich mich beobachtet glaubte. Das war dieses Ding. Ich bin mir ganz sicher.

Pipin, der sich vor Angst in die Hose gepinkelt hat, erzählte später, dass sie Paul regelrecht überrascht hat. Was dann geschah, weiß er auch nicht, nur plötzlich war Paul einfach verschwunden. Dann kamen Nicholas, Jacques und ich an Deck, kurz bevor sich die Kugel wieder zurück ins Wasser warf.

Habe ihn dazu die ganze Nacht befragt. Er sagte, die Kugel hätte sich schwerfällig bewegt, wie ein fetter, riesiger Frosch aus Licht. Ich würde nicht glauben, dass wir seit drei Tagen von einem Monster aus Licht heimgesucht werden, dass die Männer einem nach dem anderen in die Tiefe zieht, hätte ich es nicht selbst gesehen. Das war keine Täuschung und auch keine Einbildung.

Den Morgen hat mir Nicholas wieder erzählt, dass Paul schon seit Tagen eine Stimme hörte. Er zitierte grausame Drohungen: Er, so hat er sich ihm vorgestellt, wollte noch lange mit Paul reden, bevor er ihm die Haut vom Gesicht reißen wird. Er wird seine Lunge zerkauen, noch während er ihm von sich erzählt. Paul, der ähnlich nüchtern wie ich sein konnte, wenn er nicht gerade wieder Frankreich lobte, hat ihr natürlich nicht geglaubt und sie nur für einen Alptraum gehalten.

Möge Gott seiner Seele gnädig sein, wenn er wirklich dem Teufel zum Fraß geworden ist. Genauso bete ich für Jakob und meinen Ersten Maat.

Robert und Jacques hören angeblich auch so eine Stimme. Habe heute versucht, sie zu befragen, aber Jacques reagiert schon gar nicht mehr auf andere (er sitzt nur noch da und weint) und Robert will davon nichts wissen. Ich werde Nicholas vorerst zum Ersten Maat machen. Wir brauchen Struktur, ganz Besonders jetzt!

Wir nähern uns jetzt einer Wand aus sehr dunklem Nebel. Daraus grollt und donnert es. Als würde eine Sturmwolke direkt über das Meer ziehen. Unsere Maschinen sind immer noch stark genug, um es mit schweren Stürmen aufzunehmen. Vielleicht können wir so dem Teufel entkommen.


19. Mai
Morgen
Unsere Fahrt durch den Schrecken hat kein Ende genommen. Bin sehr müde. Habe nur sehr wenig geschlafen, die zweite Nacht jetzt schon.

Hinter der Nebelwand wartete ein heftiger Sturm. Riesige Wellen, so hoch wie drei Häuser; eiskalter, grausam heulender Wind und Regentropfen, so fest wie die Faustschläge eines Bretonen. Ein Alptraum von einem Gewitter auf See – grollender Donner, den man in den Zähnen spüren konnte aber keine Blitze. Zweimal hatte ich Angst, das Schiff kentert. Zweimal habe ich mich getäuscht.

Und dann, als der Sturm endlich etwas nachließ, drehte Robert plötzlich durch. Er schrie irgendwas von wegen, er käme ihn jetzt holen, das Schiff sei verflucht, er müsse weg und was weiß ich noch alles. Dieser Wahnsinnige hat tatsächlich eines der Rettungsboote bereit gemacht und sich mit Jacques zu Wasser gelassen, noch bevor irgendwer eingreifen konnte. Beim allerheftigsten Sturm mit häuserhohen Wellen! Ich dachte, dass sie sofort kentern und ertrinken. Stattdessen kam plötzlich, kaum waren sie 10 Meter vom Schiff entfernt, das Monster aus der Tiefe. Es leuchtete hell genug, so dass es wirklich keiner übersehen konnte, selbst bei diesem Wetter nicht. Robert und Jacques sahen es auch und haben gerudert wie verrückt, aber gegen die Wellen kamen sie nicht an – keiner wäre das. Das Monster schien damit keine Probleme zu haben. Es schwamm auf die beiden zu, zerbrach irgendwie das Boot durch bloße Berührung und zog Robert in die Dunkelheit. Ein hilfloses, zappelndes Männchen. So etwas Grausiges habe ich noch nie gesehen.

Wir wollten Jacques retten – natürlich vergeblich. Schwimmend kam er niemals gegen die riesigen Wellen und die Strömung und wurde einfach von uns weggeschwemmt. Ich weiß nicht einmal, ob er uns gerufen hat, so laut war der Donner.

Es ist jetzt früher Morgen des 18. Mai. Das Schiff kam nicht mehr gegen den Sturm an und wir sind wieder vor der schwarzen Nebelwand. Wir sind sie eine Weile entlang gefahren. Es ist eine Wand, die sich als ein Kreis um einen Fleck im Meer zieht. Das hat Jakob wohl damit gemeint: Der Tisch, auf dem wir sind.

Ein Esstisch.

Werde jetzt schlafen gehen. Bin zu müde.

18. Mai, Abend
Jakob, der Erste Maat, Paul und Robert sind fort. Vielleicht hat das Monster sie so tief hinunter gezogen, bis ihr Schädel platzte; vielleicht hat es sie aber auch schon davor gefressen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob es sie überhaupt frisst. Jacques ist zumindest ertrunken. Ein grausamer Tod, aber hoffentlich besser, als die Beute von diesem Ding zu werden.

Ich konnte heute vor Angst kaum noch aus dem Bett aufstehen. Der Mannschaft geht es nicht anders. Was, wenn das Monster heute Nacht wieder zurückkehrt? Wen wird es dann holen? Oder kann es vielleicht nur Menschen rauben, die sich auf Deck befinden? Vielleicht passt es gar nicht durch die Korridore. Ich erinnere mich an die Spuren des Ersten Maats. Vielleicht hat er zu fliehen versucht und es musste ihn erwischen, bevor er unter Deck entkommen wäre. Ich habe heute zur Vorsicht die Wacht nach unten in den Speisesaal verlegt. Wenn sie an Deck müssen, sollen sie durch die Bullaugen sehen, ob das Wasser glüht. Das Ganze ist allerdings sinnlos – als ob heute Nacht irgendjemand schlafen könnte und wir eine Wacht bräuchten.

Ich kann auch nicht sagen, wer der Nächste sein wird, falls das so funktioniert, wie ich vermute. Also, wenn es jede Nacht einen von uns raubt. Wir sind noch sieben Mann. Vier von uns hören angeblich Stimmen. Nicholas, Nene und ich nicht. Nene wirkt weiterhin unheimlich ruhig, genauso wie Adolphe seit gestern oder heute.

Habe den Waffenschrank geöffnet und die Pistolen an die Mannschaft verteilt. Ich weiß nicht, ob man so ein Monster mit Kugeln töten kann, aber es verleiht uns zumindest eine gewisse Sicherheit.


19. Mai
Es kam letzte Nacht nicht. Weiß nicht, warum. Ich glaube aber, dass es sich Jacques’ Leiche geholt hat. Er war, so wie ich das vermute, nach Robert der nächste auf seiner Liste. Deswegen ist er wahrscheinlich auch mit ihm ins Boot gestiegen. Würden sie jetzt noch leben, würde ich sie fragen, ob sie auf einem Rettungsboot nicht eine viel leichtere Beute als auf dem Schiff wären.

Aber dass es nicht kam, ist gut. Die Mannschaft atmet auf. Ich habe viele schlafen geschickt. Pipin schlief auf einem Esstisch im Speisesaal. Nicholas, Nene, der Neue und ich steuern das Schiff jetzt in Richtung des Landes, das wir am 14. Mai passiert haben. Ich weiß nicht, was ich mir eigentlich von dort erhoffe. Eine Antwort? Oder Rettung? Mein Gefühl sagt mir, dass wir beides nicht bekommen werden. Zudem, ein Schiff, das 12 Mann braucht mit nur 4 zu lenken und anzutreiben, ist eine wahre Tortur. Gerade einmal Nicholas blieb heute auf der Brücke. Der Rest schaufelte, einschließlich mir selbst.

Der Neue schluchzte den ganzen späten Nachmittag lang oder er hämmerte wütend mit den Fäusten gegen die nächste Wand. Er wird kommen, flüsterte er mir, heute Nacht und ihm die Augen aus den Höhlen lecken und ihm die Hoden zerbeißen, bevor er ihn sehr langsam von den Füßen aufwärts verspeist. Dieses Licht muss der Teufel sein, wenn er den Männern solche Drohungen flüstert. Ich habe dem Neuen gesagt, er soll sich in einem fensterlosen Raum im Schiff verstecken. Vielleicht kann ihn so das Monster nicht finden. Er hat sich jetzt im alten Funkerraum, nicht weit von meinem Quartier versteckt.

Ist es Glück, dass ich noch keine Stimme höre?

19. Mai, Nacht
Rauch und Schwefel haben mich geweckt. Schreie aus dem Funkerraum. Der Neue ist weg. Überall Blut. Niemand kann dem Teufel entkommen.

Habe solche Angst.


20. Mai
Dieses Monster ist der Teufel, da bin ich mir inzwischen sicher. In der Nacht kam er wieder. Und holte sich den Neuen.

Ich wurde mitten in der Nacht einem beißenden Geruch geweckt (ich glaube, so was schon einmal in dem Stahlwerk in Paris gerochen zu haben). Es schmeckte wie Pech und Schwefel, genauso wie man sich die Hölle vorstellt. Ich konnte kaum begreifen, was ich gerade roch, da kamen furchterregende Schreie aus dem Funkerraum. Dann wusste ich sofort, das war der Neue. Ich lief zu der Kammer, aber kam zu spät. Sowieso, was sollte ich denn gegen dieses Monster machen? Dieses Ding muss an Bord geklettert sein und sich dann durch das Deck geschmolzen haben. In der Decke im Funkerraum ist jetzt noch ein großes Loch; seltsam verschmolzen, als hätte man Butter mit einem Schwefelholz bearbeitet. Als der Neue bemerkte, dass sich dieses Monster einfach zu ihm durch brannte, war es wahrscheinlich schon zu spät. Der ganze Raum ist voller Blutspritzer und von ihm nur noch ein blutverschmierter Schuh übrig. Alles deutet darauf hin, dass er noch zur Tür fliehen wollte. Aber es war wohl schneller. Es muss gewusst haben, wo er ist. Heute Nacht wird es Adolphe holen.

Nene hat mir am Morgen, als wir zusammen das Blut wegwischten, etwas Unheimliches erzählt: Angeblich war die Danton, die wir am 10. Mai gesehen haben, mit ähnlich großen Löchern übersäht, wie wir jetzt eines im alten Funkerraum haben. Und, dass dem britischen Eildampfer das komplette Dach fehlte. Sind diese Schiffe etwa auch von dem Monster heimgesucht worden?

Die Lage ist katastrophal: Wir sind nur noch 6. Von einer Moral will ich gar nicht erst reden. Die Hälfte von uns hat es sich bereits genommen. Ich habe Befehl gegeben, weiter zu diesem Land zu fahren. Hoffentlich erreichen wir es, bevor es uns alle geschnappt hat.

Guy hat die wildesten Ideen, was es sein könnte. Den Teufel hält er natürlich für wahrscheinlich, aber es könnte auch ein uralter Meeresgott sein, der irgendwie von unseren Taten erzürnt ist. Vielleicht ist es auch einfach ein menschenfressender Geist der See. Als er mir seine Theorien erzählte, lehnte er sich plötzlich mit einem düsteren Blick vor und flüsterte. Ich schwöre, ich konnte in seinen Augen den Tod sehen. Guy sagte, dass er ihn bald rauben will. Und dann darf er ihm die wildesten Geschichten erzählen, solange das Monster nur seine Därme frisst und ihm das Fleisch von den Beiden reißt. Mit allem, was er zum Reden braucht, wird es bis zuletzt warten. Aber nicht mit mir, versicherte er mir und grinste. Ich glaube, er will den Freitod gehen.

Heute Nacht beschützen wir Adolphe. Jeder von uns hat eine Pistole (6 waren im Schrank) und wenn es durch Blei zu verwunden ist, wird es garantiert sterben. Jeder ist einigermaßen ausgeschlafen und bereit. Wir werden an Deck warten, auf Adolphes eigenen Wunsch hin. Dort können wir es besser kommen sehen.

Gott im Himmel, ich bitte dich, führe unsere Hand im Kampf gegen deinen Feind.

20. Mai, Spätacht
Warum lässt Gott so eine Grausamkeit zu?

Warum tut er uns das an?

Warum wirft er uns dem Teufel zum Fraß vor?

Meine Hände zittern, mein rechtes Ohr ist taub. Ich musste etwas von dem Rum trinken, um mich nicht ständig zu übergeben. Das ist zuviel für mich. Ich weiß jetzt noch nicht einmal, was wirklich geschehen ist.

Ich versuche es aufzuschreiben. Vielleicht ergibt, was ich gesehen habe, irgendeinen Sinn.

Wir haben gewartet, direkt am Bug, die Waffen in den Händen. Das Wasser hat plötzlich grün geleuchtet und uns allen war klar, dass es jetzt kommt. Und es kam, wieder als eine helle Lichtkugel aus der Tiefe. Es hat sich wie eine Schnecke an die Schiffswand gehängt und ist fast gemütlich hinaufgekrochen. Wir haben geschossen; Nicholas direkt rechts neben mir und mich damit halb taub gemacht. Ob wir es getroffen haben, weiß ich nicht. Die Kugeln sind irgendwie einfach durch es hindurch. Sie sind nicht abgeprallt und haben ihn auch irgendwie nicht erwischt. Es war so, als wären sie gar nicht da gewesen. Das Deck erreichte es problemlos. Nicholas und Adolphe versuchten es, mit den Köhlerschaufeln zu bekämpfen – ohne Wirkung. Wieder sind sie nicht abgeprallt, sondern einfach hindurch. Zuerst war es so, als würde es uns überhaupt nicht bemerken, dann wuchsen ihm Arme aus dem gleichen grünen Licht und peitschte damit Nicholas zurück. Das Monster hat ihm den ganzen Rücken verbrannt. Mit jedem Hieb stank es, als würde man ein Schwein ins Feuer werfen und genauso hat Nicholas auch geschrieen.

Was dann passierte, war noch schlimmer. Es packte Adolphe mit seinen Armen, er hat gebrüllt und gezappelt und es ihn in seinen Körper gestopft und zerkaut. Richtig zerkaut. Ich habe es gehört und gesehen. Dieses Knacken, als seine Knochen brachen und das Stöhnen und wie es sein Fleisch zerrissen hat. Sein Kopf ist wie eine überreife Tomate zerquetscht worden; sein Körper verkrümmte sich, als hätte er keine Knochen und seine Haut platzte auf. Als wäre er von unsichtbaren Zähnen zerkaut worden. Es hatte kaum angefangen, als es sich wirklich träge, wie Pipin erzählt hat, über die Reling warf und untertauchte. Wahrscheinlich wollte es ungestört fressen. Von Adolphe blieb nur eine riesige Pfütze Blut auf dem Deck.

Ich saß nur da und konnte nichts tun. Ich hatte einen Revolver in meiner Hand, aber ich konnte nicht schießen oder ihn auch nur heben. Zu meiner Linken lag eine Schaufel. Ich konnte nicht mal meine Arme ausstrecken. Ich saß einfach nur da, gelähmt und sah zu, wie einer meiner Männer in einen Mund aus Licht gesteckt, gekaut und gefressen wurde.

O Herr im Himmel, warum tust du uns das an? Warum lässt du uns diesen Anblick ertragen? Warum verfütterst du deine Schafe an den Wolf?


21. Mai
Es geht kaum noch voran. Morgen erreichen wir mit etwas Glück dieses Land, wenn überhaupt noch. Vielleicht können wir ins im Inland vor dem Monster verstecken, aber Hoffnung habe ich keine. Pipin redet davon, dass es vielleicht nur Butterland gewesen ist – neblig genug dafür war es allemal. Ich erinnere mich allerdings noch sehr genau an die Palmen und die schwarzen Klippen. Sie trieben viel zu real an uns vorbei. Zu echt für ein Butterland.

Nicholas Rücken sieht schlimm aus, allerdings scheint es ihm wenig auszumachen. Ab und an ein leicht schmerzverzerrter Blick, ansonsten fehlt ihm nichts. Die Stimmung ist im Allgemeinen furchtbar. Keiner hat mehr Hoffnung. Das Monster frisst sich durch Stahl und ist durch egal welche Waffe nicht zu verwunden. Es wird wohl einen nach dem anderen holen, bis das ganze Schiff leer ist.

Guy gibt nur noch seltsame Wortfetzen von sich. Er stammelt und weint und schüttelt ständig den Kopf, wie Paul, kurz bevor er geholt wurde. Wahrscheinlich ist er heute Nacht an der Reihe.


22. Mai
Kann nicht mehr schreiben.

Alles zu furchtbar.


23. Mai
Mittag
Habe seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Ich konnte es nicht. Unsere Vorräte sind sowieso bald knapp und das Angeln bringt kaum etwas. Auf seinem Tisch (so nenne ich inzwischen diesen Fleck im Meer) scheint es nur sehr wenige Fische zu geben. Wahrscheinlich frisst er sie, solange er keine Matrosen dafür fängt.

Gestern hat er sich Pipin geholt. Der arme Junge flehte und bettelte ihn an – er versuchte sogar, uns alle an ihn zu verkaufen – aber das Monster riss ihm einfach Arme und Beine aus und zerfleischte ihn danach noch an Deck. Es muss dann gegangen sein. Ich konnte nicht mehr hinsehen und bin nach unten geflohen. Heute Morgen habe ich das viele Blut allein weggewischt. Er hinterließ keine Fleischfetzen oder sonstige Überreste, nur das Blut und das reichte auch schon, dass ich mich zweimal übergeben musste.

Guy hatte es weitaus leichter, wenn man das so vergleichen kann. Er hat sich eine gute Stunde bevor das Wasser wieder leuchtete erschossen. Ich habe den Knall vom Deck gehört und bin zusammen mit den anderen schnell nach oben. Er lag vorne am Bug, wo es vor drei Tagen Adolphe geholt und zerkaut hat, mit einem großen Loch im Kopf. Ein scheußlicher Anblick. Ich habe die Wunde verbunden und ihm den Kopf mit einem Schwamm gewaschen, danach haben wir ihn einfach liegen lassen. Wenn das Monster seine Leiche holt, lässt es uns andere in Frieden, so wie ich das verstanden habe. Pipin weinte und weinte. Wir alle wussten, wer die Nacht des 22. Mai nicht überleben würde.

In der Nacht hörte ich entsetzliche Schreie von Guy, der sich doch erschossen hatte. Sein furchtbares Kreischen jagte durch das ganze Schiff. Am Morgen war er fort, ohne jeden Tropfen Blut vergossen zu haben. Ich weiß nicht, ob ihn das Monster irgendwie wiederbelebt und dann gefressen hat oder ob es einfach nur seine Seele verschlang. Jedenfalls scheint es ihn nicht zerkaut zu haben. In der Nacht nach dem Schrei weinte ich mich stundenlang in den Schlaf.

Nicholas wird der Nächste sein. Er redet nur noch von einer Stimme und den düsteren Drohungen, die ich hier gar nicht mehr auflisten will. Er bat mich vor etwa einer halben Stunde, dass wir ihn heute Nacht allein lassen sollen. Nicholas will dem Monster unbewaffnet gegenüber treten und wahrscheinlich gar nicht kämpfen. Alle, die es versucht haben, sind ja inzwischen tot.

Wir haben vorhin das Land wieder entdeckt. Es ist anscheinend eine sehr lange Insel aus schwarzen Klippen. Wir werden einen Landeingang suchen und uns umsehen.

23. Mai, Abend
Der Wind heult wieder so furchtbar. Das hat er in den letzten Tagen auch getan. Wäre Guy noch am Leben, würde er sagen, dass das der Klagegesang der Toten ist.

Wir haben einen Eingang ins Inland gefunden. Die Maschinen zu stoppen war schwieriger, als ich dachte, aber es gelang uns trotzdem sehr schnell. Mit unserem letzten Beiboot (das andere haben ja Robert und Jacques gestohlen) übersetzten Nicholas und ich zum Strand. Schon dort war es ziemlich unheimlich: Tausende und Abertausende von Fischgräten, so als bestünde der Strand nur daraus, begrüßten uns praktisch. Ich entdeckte sogar die Panzer von mehreren Schildkröten und Vogelskelette. Ein Ort des Todes nannte es Nicholas sehr treffend. Er sollte so verflucht recht behalten.

Vom Landeingang aus gab es einen Weg oder zumindest eine Strecke, auf der nichts wuchs und der wir leicht folgen konnten. Die Insel selbst ist von Gewächs überzogen, das ich eher von Niederländisch-Indien, als von Südafrika kenne: Hohe Palmen, Sträucher mit riesigen Blättern und mannshohes Gras. Unheimlich wurde mir allerdings diese ewige Stille. Im indischen, genauso wie im afrikanischen Urwald ist es laut. Da schreien die Affen und brüllen die Tiger, aber hier gab es bis auf dieses gruselige Heulen im Wind keinen einzigen Ton. Wir fanden zwei Haifischskelette am Wegrand, überall Fischgräten und etwas, das wohl einmal ein Lederhandschuh gewesen ist. Etwas tiefer im Landesinneren entdeckten wir dann eine Höhle. Hineingegangen sind wir nicht. Davor lagen Hunderte Knochen von mindestens drei Dutzend Menschen. Viele davon waren alt und verwittert, manche frisch und voller Blut. Ein Dutzend Kiefer konnte ich schon beim ersten Überblick erkennen, genauso viele menschliche Schädel, die uns wie der Sensenmann angrinsten. Nicholas deutete auf einen halben Augapfel, der noch in einem der Totenköpfe hing. Wir mussten uns beide übergeben.

Das war der Schlund der Hölle, da bin ich mir jetzt sicher.

Hinter einem Strauch lag die silberne Gürtelschnalle meines Ersten Maats, blutverschmiert und mit nur noch einem Fetzen vom Gürtel daran. Vor dem Eingang fanden wir einen von Jacques’ Stiefeln (wir erkannten ihn an der Schlaufe). Da waren noch viel mehr Gegenstände: Ein zerrissenes Kopftuch, ein kaputter Kompass, diverser Plunder und eine alte Pulverpistole aus der Hansezeit, um nur ein paar aufzuzählen. Wie lange frisst er schon Matrosen? Seit hundert Jahren? Zweihundert? Oder hat er sogar schon die alten Griechen von ihren Galeeren geholt? Ich will es gar nicht wissen! Als es plötzlich aus der Höhle heulte, wie aus Tausend gequälten Kehlen gleichzeitig, rannten wir zurück zum Boot und ruderten wie verrückt zum Schiff. Die Maschinen konnten wir sogar zu zweit wieder zum Laufen und das Schiff in Bewegung bringen (wo Nene ist, weiß ich nicht – ich habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen). Ich habe Kurs auf den Ort gesetzt, wo ich glaube, dass wir hierher kamen, also wo uns die ersten schweren Stürme heimsuchten.

Ich habe furchtbare Angst. Ich zittere. Ich bin auf einem Ohr taub und kann keinen Bissen mehr essen.

Nicholas werde ich seinem Wunsch gemäß alleine lassen. Die Höhle würde er so oder so wiedersehen, er hätte eigentlich gleich dort bleiben können, bemerkte er als wohl eine Art schauriger Galgenhumor.

O Herr, nimm seine Seele zu dir, nachdem der Teufel sein Fleisch gefressen und seine Knochen zerbissen hat.


24. Mai
Heute ist der letzte Tag in meinem Leben.

In der Nacht hat er mir zugeflüstert.
Heute wird er mich holen. Ich war ein schwerer Gegner, also wird er meinem Schmerz keine Grenze setzen. Er erlaubt mir zu leiden, soviel ich nur will. Bis zum Sonnenaufgang wird er mit mir tanzen, wie eine berauschte Dirne der Knochen.

Habe Nene heute nach mehreren Stunden der Suche gefunden. Er saß im alten Funkerraum, direkt unter dem Loch und hat etwas gesummt. Er wollte nicht reden. Habe ihn mit den Fäusten dazu gezwungen. Angeblich hat er ihn schon gehört, als wir gerade erst auf seinen Tisch gekommen sind. Er mag das Singen der Menschen und deswegen lässt er ihn leben, solange er nur jede Nacht für ihn singt. Irgendwann wird Nene nicht mehr genug Fische fangen und vor Hunger nicht mehr die Kraft dazu haben. Dann wird er ihn auch holen und seine wunderbar saure Lunge bis zuletzt aufheben. Warum hat er uns nichts davon erzählt, fragte ich Nene. Er antwortete, dass er genauso wie Pipin wäre und uns für jeden Tag Leben einfach eintauschte. Das war Teil des Handels: Er durfte uns kein Wort sagen, sollte jede Nacht singen und würde dafür Tag für Tag erkaufen. Dann hat er gelacht. Dieser miese Scheißkerl hat mit Tränen in den Augen gelacht! Das war mir zuviel. Ich holte eine Schaufel aus dem Köhlerraum und schlug ihn tot. Danach legte ich seine Leiche in den letzten aktiven Ofen. Dort unten stinkt es zwar inzwischen so bestialisch, dass kein Mann mehr die Kammer betreten könnte, aber das Monster soll keinen Gesang mehr bekommen und auch seine Lunge nicht.

Ich bin dann weinend und lachend (ich glaube, ich verliere den Verstand) über das Schiff spaziert. Habe alle Quartiere noch einmal überprüft. Viel Unordnung. Habe drei weitere Abschiedsbriefe gefunden: Paul hat nur wilde Versen hinterlassen, nichts was ich deuten kann; Pipin hat ihn anscheinend schon seit einer Woche flüstern hören (wieso ich erst gestern Nacht?), hat ihn regelmäßig angefleht und ihm alles Mögliche im Tausch für sein Leben angeboten, sogar dass er Jakob an Deck lockt oder ins Wasser wirft. Vater hätte dazu gesagt: Wenn es ums Überleben geht, zählen auf einmal ganz andere Dinge, als Freundschaft, Nächstenliebe oder Besitz.

Den dritten Abschiedsbrief kann ich nicht entziffern. Ich weiß nicht mal, von wem er geschrieben wurde, nur dass das Buchstaben und Zeilen sein sollen. Das Chaos in Jakobs Zimmer ist immer noch das alte. Keiner wollte hier wohnen, nachdem er verschwunden ist und keiner hat für ihn aufgeräumt. Ich werde es auch nicht mehr tun.

Heute Nacht wird die Besatzung dieses Schiffes entgültig ausgelöscht. Er hat uns alle nacheinander gefressen. Von Nene wird er immerhin nur noch verkohlte Reste oder Asche bekommen. Ich habe noch nie einen Menschen getötet, aber Gewissensbisse habe ich auch keine. Ich pfeife seit einer Stunde den Drunken Sailor. Ich glaube, ich verliere den Verstand, bevor er heute kommt.

24. Mai, Abend
Meine letzten Stunden will ich dazu nutzen, noch aufzuschreiben, was ich weiß. Das Schiff kann ich kaum noch steuern, allein um die Geschwindigkeit zu regulieren fehlen mir die Leute. Es ist furchtbar, so allein zu sein. Außerdem stinkt es überall nach Nenes verbrennenden Überresten. Hoffentlich riecht er das, bevor er heute Nacht auftaucht!

Zuerst holte er sich Jakob, danach den Ersten Maat, Paul und Robert. Jacques war der nächste, aber er ist davor ertrunken (ob er ihn wie Guy vor dem Fressen wiederbelebt hat, kann ich nicht sagen). Danach holte er den Neuen aus dem Funkerraum, einen Tag später zerkaute er Adolphe vor uns allen. Guy, Pipin und Nicholas waren die nächsten, heute bin ich an der Reihe. Wie viele Matrosen er mit Hilfe von anderen geholt hat, ist mir unklar und ob er Nene aus der Asche wiederbeleben kann und weitersingen lässt, weiß ich auch nicht. Es ist mir auch egal. Ansonsten weiß ich nur über ihn, dass er anscheinend nur Nachts auftaucht und sonst in einer Höhle auf der schwarzen Insel lauert.

Wo wir sind, kann ich nicht sagen. Vielleicht in einer Welt zwischen Hölle und Erde, seinem Tisch, wie Jakob es wohl meinte. Vermutlich sind wir irgendwie von ihm dorthin geführt oder gelenkt worden. Der Rand dieser kleinen Welt ist jedenfalls eine schwarze Nebelwand. Zumindest glaube ich das. Wissen tue ich es nicht. Eigentlich weiß ich überhaupt gar nichts. Die beiden Schiffe, diese alte Danton und den britischen Eildampfer wurden vermutlich genauso wie wir zu seinen Opfern. Dass wir sie am Eingang in diesen Alptraum gefunden haben, sagt mir eines: Wahrscheinlich verstanden sie genauso wie wir die Regeln dieses Monsters: Er flüstert zu seinen Opfern im Schlaf und holt sie Tag für Tag. Kugeln und andere Waffen verwunden ihn nicht.

Der Eildampfer wurde vermutlich gefressen, bevor er überhaupt das Land erreichte. Ein oder alle Besatzungsmitglieder versteckten sich anscheinend in der Aufbaute, weshalb ihr das Dach fehlte. Die Danton mit ihren vielen Matrosen und vielen Tagen Zeit kam weiter: Sie stieß mit Sicherheit die Nebelwand und fanden vielleicht auch die Insel und seine Höhle. Und dann versuchte sie wie wir den Ausgang anzusteuern, auch wenn es bei uns von Anfang an zum Scheitern verurteilt war (das würde zumindest erklären, warum ihr Bug in die andere Richtung gerichtet gewesen ist). Wie es dann für sie weiterging, kann ich nicht sagen. Vielleicht gibt es den Eingang nicht mehr, sobald ihn ein neues Schiff passiert hat. Vielleicht wurde der allerletzte Mann gefressen, bevor sie dort ankamen, so wie es hier der Fall sein wird. Ich weiß noch nicht einmal, ob das wirklich Geisterschiffe gewesen sind oder wie man diesen Vorhof der Hölle wirklich betritt. Aber ich sehe die letzten Tage der Danton, wenn ich die Augen schließe. Ich stelle mir vor, wie die letzten Matrosen durch die Korridore flohen und ihnen das Monster unermüdlich folgte, bis sie von Bord sprangen oder in einer Sackgasse ankamen. Ein Mann springt in die Wellen, die grüne Lichtkugel lässt sich ebenfalls von Bord fallen. Er schwimmt und schwimmt, aber sie holt ihn trotzdem ein, packt ihn und zieht ihn immer tiefer ins Wasser. Ein anderer verschließt den Schott und hofft, dass sie nicht nachkommt. Aber sie schmilzt einfach das Metall, wie eine Faust, die sich durch Butter gräbt, und kommt zu ihm. Und dann frisst und zerreißt sie, bis nur noch ein blutverschmierter Kiefer vor ihrer Höhle bleibt. Ich weiß nicht, ob es so gekommen ist, aber ich kann es mir gut vorstellen.

Alles, was ich mit absoluter Sicherheit weiß ist, dass ich heute Abend die letzte Mahlzeit des Teufels sein werde.

24. Mai, Nacht
Das Wasser leuchtet grün.

Ich kann ihn fühlen. Er ist wütend. Er kommt jetzt.

Ich sehe ihn durchs Fen



Gutachten über Verbleib der Ari Martás 2

An Graf Le Fefré am 8. September.


Graf,

ich schreibe Euch hier, um Euch über meine Erkundigung über den Verbleib der Ari Martás 2 in Kenntnis zu setzen: Sie hat Madagaskar niemals erreicht. Wäre sie dort einer Freibeuterunternehmung zum Opfer gefallen, ganz gleich auf welcher Etappe der Reise, hätte ich davon erfahren.

Die Etappen sind mir allerdings schleierhaft, zumindest welche Etappen Euer Schiff erreichte: Ein Hafenmeister in Algeciras versicherte mir, die Ari Martás auf ihrer Durchreise gesehen zu haben. Danach verliert sich ihre Spur. So hat man sie beispielsweise in Monrovia und Lüderitz nicht mehr gesehen. Meine Theorie hierzu besagt Folgendes: Sie hat aus Zeitgier Lüderitz als Etappe übersprungen. Diese Methode ist selbstverständlich nicht empfehlenswert, gehört allerdings dennoch zu dem Repertoire der heutigen Kapitäne. Der darauffolgende Kap der guten Hoffnung gilt weiterhin unter Seefahrern als eine sehr tückische Passage und ich befürchte, die Ari Martás und ihre Besatzung sind Opfer dieser Gefahren geworden

Von weiteren Schritten der Überprüfung rate aus Kostengründen ab. Ohnehin habe ich den Weg Eures Schiffes nur verfolgen können, da es auf gleicher Route fahren hätte sollen.

Ich trauere um die Männer und ihre Witwen.


Hochachtungsvoll,

Louis Marceau de Montiniere
Großkargo in Vertretung Eurer Reederei in Tananarive
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Alt 02.04.2012, 10:27   #2
Thing
R.I.P.
 
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Hoiho!

Ja, was kommt mir denn da unter!
Eine dolle, phantastische Geschichte, die man lesen m u ß bis zum Ende, weil sie magisch anzieht.
Die wenigen Tipp- und Grammatikfehler stören überhaupt nicht; so könnte ein "Logbuch" ausgesehen haben.
Der Stil erinnert mich leicht an Arthur Gordon Pym (obwohl ich den nur als Übersetzung kenne).

Ich bin baff. Und das kommt selten vor.

Großes Lob
von
Thing!

Eh ich's vergesse:
Herzlich willkommen an Bord der Poetry!
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2012, 11:22   #3
männlich Ex-Ralfchen
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willkommen punanni -

ich lese üblicherweise immer nur die erste 2 drei absätze von neuer prosa im forum*). so auch hier. und: ich bin höchst erstaunt über dein kreatives talent. werde den text ausdrucken und heute nacht lesen.

wie ROMinchen bereits sagte: fehler sind bei einem sehr gutem text absolut unwichtig. die werden - wenn es zu einer publikation käme - vom lektor korr. es kommt einzig und allein auf die idee an. und die hat mich schon nach den ersten 15 zeilen beeindruckt. und glaube mir: das kommt bei mir äußerst selten vor.


*) das ist erfahrungsgemäß immer der qualitätsparameter.
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2012, 11:24   #4
Ex-zonkeye
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Beiträge: 504


Hallo @punanni,

sei erst einmal herzlich begrüßt. Zonkeye hofft, dass Du hier ein bisschen Freude und Spass hast und dass Dir die Mitgliedschaft etwas bringt.

Dass Du gleich mit einem derart langen Text einsteigst, noch dazu dessen Inhaltes, ist ungewöhnlich. Zonkeye mag Ungewöhnliches und antwortet Dir deshalb gleich darauf.

Den Anfang hat zonkeye genau gelesen und Dir ein paar Verbesserungsvorschläge gemacht:
Zitat:
Jeden Morgen kehrt er zurück. Manchmal bringt er Fisch, meistens aber nichts. Dann muss ich singen, was ich aber kaum kann. Manchmal nur zehn Minuten lang, manchmal eine Stunde oder sogar einen ganzen Vormittag. Ein paar schlechte Matrosenlieder, ein paar (einzelne) Verse eines Trinklieds, und das ist es auch schon, was ich kenne, wenn ich es überhaupt schaffe, die Stimme zu halten. Aber es genügt ihm, und solange das so ist, darf ich leben.
Jeden Vormittag nach dem Singen gehe ich fischen. Ich sitze mit einer primitiven Angel an einem Strand, der nur aus Fischgräten zu bestehen scheint und hoffe, dass irgendetwas herauszuziehen ist. Ansprüche habe ich dabei keine. Besteht meine Beute aus Fleisch, wird es gegessen, in letzter Zeit oft roh als Ganzes verschlungen, denn ich habe Hunger und ich merke jeden Tag, wie ich schwächer werde. Irgendwann werde ich zu schwach sein. Dann ist es vorbei. Er wird mich zu seiner Mahlzeit machen und sich einen Neuen holen. So hat er es immer getan, seit er hier ist, und so wird er es wohl weiter tun, bis zum Ende aller Zeit.
Jeden Tag stelle ich mir die gleichen Fragen: Wie lange werde ich noch durchhalten? Wie lange wird es noch dauern, bis mein Verstand zerbricht? Wie viele Schiffe liegen hier unter den Wellen? Hunderte? Tausende? Wo bin ich überhaupt?
Heute Abend geht er wieder. Vorher wird er Fisch fressen und ich werde ein wenig schlafen können. Am Morgen werde ich wieder singen müssen. Diesmal wird es das Lied "Zehn kleine Negerlein" sein. Das kennt er noch nicht. (Und) wenn ich ihm ein Lied singe, das er noch nicht kennt, bringt er am Tag darauf meistens etwas Fisch mit.
Ja, das Lied der zehn Negerlein. Ich war einmal (ein) Teil von diesem Lied. Damals auf der Fahrt nach Madagaskar.
Den Rest hat sie quer gelesen.

Du bist sprachlich geschickt und kannst komplizierte Dinge sehr einfach und Eindrücklich darstellen. Es liest sich wie eine spannend geschriebene Melange aus "Imperium", Scott's Tagebüchern, "Beowulf" und Thomas' Drehbuch von "Predator". Eine richtig gruselige "Geisterschiff"-Geschichte im Tagebuchformat.

Schön findet zonkeye, wie trocken Du den Kapitän die Charkatere der Mannschaft beschreiben lässt: Schwulst- und schnörkellos. Das ist sehr gut! Du solltest im Hinblick auf die Zeit, in der die Fahrt stattfindet, moderne Sprachausdrücke oder gar Slang vermeiden; da geht ein paarmal der Gaul mit Dir durch.

Zonkeye bedauert, dass Du es bei einer eher lapidaren Abfolge von Mahlzeiten des Monsters belassen hast; man liest sich - bei aller Drastik des Geschilderten - dann doch recht bald satt daran und würde, wär's ein üblicher TV-Schinken, weiterzappen. So aber hält man durch bis zum Schluss in der Hoffnung, es löse sich etwas auf oder man fände eine Brücke zu jenem Monster, das Goya im Krieg erkannte und so schrecklich beeindruckend darstellen konnte.

Sie rät Dir, Dein gut gearbeitetes Stück dadurch zu einem besonderen zu machen, dass Du versuchst, die eben angelaufende "Blutpumpe" des ersten Weltkriegs zum Antrieb des fresssüchtigen Monsters zu machen und dessen Stoffwechsel zwar nicht zu rechtfertigen, aber andeutungsweise begreiflich zu machen. Zonkeye glaubt, dass Du das kannst.

Zonkeye
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Alt 02.04.2012, 11:35   #5
Thing
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Thing findet die "Anregungen" von Zonkeye nicht gut.
Der eigenwillige Stil des Originals wird dadurch verwaschen und weniger authentisch.

Glaube lieber erfahrenen Hasen, punanni, die haben ein Gespür dafür.
Selbst wenn sie nicht mehr querlesen, sondern Wort für Wort und Satz für Satz.
Dafür nehmen sie sich gern die Zeit.


LG
Thing
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Alt 02.04.2012, 12:05   #6
Ex-zonkeye
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Die Empfehlung, die sprachlichen Mängel im Vorspann auszubügeln, liegen ganz im Belieben des Autors, @Thing. Der Text würde daruch nicht "verwaschen" und "weniger authentisch", wie Du meinst, sondern klarer und leichter lesbar.

Zonkeye rät dem Newcomer, sich über einzelne Mitglieder dieses Forums sein eigenes Urteil zu bilden und danach zu entscheiden, wen er für qualifizert hält und wen nicht. Er fände hierzu zahlreiche Hinweise.

zonkeye
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Alt 02.04.2012, 12:09   #7
Thing
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Genau dieses ist meine Intention.

Klar und leicht lesbar ist der Text ohnehin, es sei denn, es gäbe hier User, die allzu schwer von Begriff sind.
Was ich nicht annehme.

Gravierende Mängel kann ich nicht erkennen.
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Alt 02.04.2012, 12:52   #8
männlich Ex-Ralfchen
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
...Thing findet die "Anregungen" von Zonkeye nicht gut. Der eigenwillige Stil des Originals wird dadurch verwaschen und weniger authentisch...
absolut richtig ROMINchen. wozu diese lächerliche antiquierung eines frisch-originellen textes? die autorin ist 25 jahre alt, also noch 65 jahre davon entfernt, auf den mond zu übersiedeln und dort die frau im mond zum begräbnis einzuladen.

also was ist an diesem absatz auszusetzen oder zu ändern? bestenfalls kann man unterstrichenes auslassen. bestenfalls.

Zitat:
Jeden Morgen kehrt er zurück. Manchmal bringt er Fisch, meistens aber nichts. Dann muss ich singen, was ich nur kaum kann. Manchmal nur zehn Minuten, manchmal eine Stunde oder sogar einen ganzen Vormittag. Ein paar schlechte Matrosenlieder, ein paar einzelne Versen eines Trinklieds und das war es auch, was ich kenne, wenn ich es überhaupt schaffe, die Stimme zu halten. Aber es genügt ihm und solange es das tut, darf ich leben.
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Alt 02.04.2012, 13:25   #9
punanni
 
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Wow........jetzt bin ich echt baff so eine Menge antworten, Verbesserungsvorschläge und Feedbacks...

DANKE

Ich freu mich grad wie eine kleines Kind, wenn es ne Kugel Eis bekommt

Mich erfreut es total, dass meine Geschichte so gut ankommt...
Bin jetzt grad sprachlos...
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Alt 02.04.2012, 14:33   #10
Ex-zonkeye
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Wäre zonkeye keine Avatar, würde sie wetten, dass keiner von Euch beiden so weit oder so sorgfältig gelesen hat, dass ihm aufgefallen wäre, das Tagebuch sei um den 28. Juni 1914 herumgeschrieben worden. Die Empfehlung, den damaligen Sprachtenor einzuhalten und keine Neologismen zu gebrauchen, machte daher Sinn. Der Rat, den Leviathan wie vorgeschlagen zu verorten, geschah nicht zuletzt aus demselben Grunde.

Ein Kolleg über korrektes Deutsch mag zonkeye nicht abhalten; es ist an @punanni allein, vorhandene Fehler abzustellen, Ungeschicklichkeiten und Ungereimtheiten zu beseitigen (so kann Fleisch nach zonkeyes Ermessen z. B. nicht "anbeißen", sondern müsste irgenwie anders "geangelt" werden; "es" wäre dann aber kein "Fang" mehr, sondern eher "Beute" etc. pp).

Wenn Du wieder zu Dir gefunden hast, @punanni, dann setz Dich auf Deinen Hosenboden und mach voran. Den Lorbeerkranz gibt's von zonkeye, wie schon gesagt, für diese Story noch nicht. Nur fast.

zonkeye

zonkeye
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Alt 02.04.2012, 14:52   #11
Thing
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Oha -

werden jetzt höchstpersönlich Lorbeerkränze angefertigt?
Das ist nicht im Sinne dieser Krönung.
Zumal heutzutage der Titel poeta laureatus sehr an Bedeutung verloren hat.

Goethe hat den Kranz ausdrücklich abgelehnt.
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Alt 02.04.2012, 15:03   #12
punanni
 
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Ui- Ein Kranz wär schon nicht schlecht.

Solche Schreibarbeiten haben einfach einen bestimmten Anspruch an Zeit, die im Moment eher etwas knapp ist. Leider.

Ich werde euch gern, demnächst die überarbeitete Geschichte zeigen.

Bei dieser, setzte ich einfach schnell die Idee um.

Ich kämpfe um den Lorbeerkranz
punanni ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2012, 15:06   #13
Thing
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Hoffentlich nicht allzusehr "überarbeitet".
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Alt 02.04.2012, 16:41   #14
Ex-zonkeye
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Das ist die richtige Einstellung, @punanni. Du wirst bestimmt mal ein(e) ganz Große(r).

Und lass Dir Zeit damit. In Deinem angegebenen Alter eilt's nicht so sehr. So was will ausgebrütet werden.

zonkeye
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Alt 02.04.2012, 16:48   #15
Thing
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edit.
doppelt
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Alt 02.04.2012, 18:50   #16
punanni
 
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Ich fühl mich echt geerht!!

Jetzt werd ich rot

Nein, brutal viel wird sich an den Zehn Negerlein nicht mehr ändern. Wohl eher die typische Rechtschreibfehlersuche
punanni ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2012, 23:24   #17
Ex-zonkeye
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Du musst die Geschichte nicht im Quelltext "korrigieren", @punanni. Du kannst sie später ein zweites Mal posten, verbessert, ergänzt oder geändert - falls Du an einem vernünftigen Kommentar interessiert bist. Mag sein, es nimmt sich nochmal jemand der Geschichte an.

zonkeye
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