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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 12.08.2021, 09:26   #1
männlich Anaximandala
 
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Beiträge: 1.198

Standard Herbstfluten

Es war die Zeit der Herbstfluten,
Und mächtig wuchs der gelbe Fluss,
Genährt von vielen Wildbächen,
Dass man die Ufer suchen muss.

Da wurd der Flussgott hochgemut,
Dass er der Allergrößte wär,
Und fühlte sich ganz stark und gut,
Doch traf er bald schon auf das Meer.

Er sah bis an den Horizont,
Doch er konnt kein Ende finden,
Und sah vorm Gott des Nordmeers promt,
Seine ganze Größe schwinden.

"Es stimmt wohl, was im Sprichwort steht:
Für unvergleichlich klug hält sich,
Wer hundert Wege kennt und geht,
Und leider trifft das zu auf mich.

Wohl hab ich Leute getroffen,
Denen nicht viel lag an Größe,
Doch hab ich, ich bin ganz offen,
Ihnen nicht geglaubt, welch Blöße.

Erst jetzt, bei Euch, erkenne ich,
Was Größe, Unerschöpflichkeit,
Zurecht hätt jeder Meister mich,
Verlacht für meine Närrischkeit."

Der Gott des Nordmeers sprach darauf:
"Ein Brunnenfrosch kennt nicht das Meer,
Denn schließlich ist ja sein Ablauf,
Beschränkt aufs Loch, und nicht auf mehr.

Kein Sommervogel kennt das Eis,
Es ist die Zeit, die ihn beschränkt,
So kommt es, dass er nichtmal weiß,
Was er nicht weiß, was er nie denkt.

Mit einem Fachmann spreche nicht,
Vom Leben, ihn bindet sein Fach,
Doch hast du nun etwas Einsicht,
Bist sozusagen aufgewacht.

Erkennst nun deine Ärmlichkeit,
Dass ich dir mehr erzählen kann,
Ein jeder Fluss hier, weit und breit,
Fließt in mich, doch ich steig nicht an.

Es ändert sich nie mein Gesicht,
Was mit der Zeit auch so passiert,
Selbst Flut und Dürre kenn ich nicht,
Doch wer mich groß nennt, fantasiert.

Zwischen Himmel und der Erde,
Bin ich wie'n Steinchen auf nem Berg,
Froh, wenn ich gesehen werde,
Und trotzdem nur ein kleiner Zwerg.

Wenn man den einz'neln Mensch vergleicht,
Mit den Myriaden Wesen,
Ist es nicht so, dass er vielleicht,
Nie bedeutend ist gewesen?

Und doch hält jeder sich für groß,
Wie du selbst noch eben dachtest,
Das größte Wasser wärst du, bloß,
Dass du nun zum Glück erwacht bist."





"Ging es denn, man würde sagen,
Die Spitze eines Haars sei klein,
Und, weil sie die Welt ja tragen,
Muss Erd und Himmel riesig sein?"

"In der Welt der echten Dinge,
Gibt es kein begrenztes Maß,
Nichts, das dauerhaft fortginge,
Und nichts, das fortzugehn vergaß.

Höchste Weisheit schaut deswegen,
Nah und Fern auf gleiche Weise,
Einheitlich sieht sie das Leben,
So zieht Weisheit ihre Kreise.

Sieht Kleines nicht mehr als gering,
Und Großes nicht als wichtig an,
Gleichgültig sieht sie, was verging,
Lässt Ungeduld nicht an sich ran.

Erforscht des Lebens Wechselspiel,
Zwischen Aufstieg und dem Fallen,
Sich gleich zu bleiben ist ihr Ziel,
Angst und Freud lässt sie verhallen.

Sie trauert nicht mehr um Verlust,
Und gewinnt so, als tät sies nicht,
Denn schließlich ist ihr ja bewusst,
Dass jeder Zustand mal zerbricht.

Es gibt nun kein begrenztes Maß,
Genauso wenig ruht die Zeit,
Der Umstand bringt dem, ders vergaß,
Bestimmt nichts anderes, als Leid.

Die Zeit, die man auf Erden lebt,
Gleicht nicht der Zeit, die mans nicht tut,
Und wie sehr man nach Wissen strebt,
An Nichtwissen bleibt eine Flut.

Wer nun, trotz allem, so beschränkt,
Zu ordnen sucht, was ohne Maß,
Sich zwangsläufig an Irrtum hängt,
Wie fest er auch im Sattel saß.

Denn niemals könnt man sicher sein,
Ob die Spitze von nem Haar,
Erscheint sie uns auch noch so klein,
Was klein ist, festlegt, klar und wahr.

Oder ob der Erde Größe,
Am Ende wirklich groß genug,
Festzulegen, ohne Blöße,
Was groß ist, ganz ohne Betrug."





Der Flussgott sprach ganz intressiert,
"Manch große Denker sagen ja:
Das Feinste seine Form verliert,
Das Größte ist uns unfassbar.

Liegt in dem, was sie uns sagen,
Die Wahrheit über groß und klein,
Oder muss man tiefer graben,
Will man der Wahrheit näher sein?"

"Es kann garnicht übersehen,
Das Große, wer vom Kleinen schaut,
Und kaum sieht das Kleine stehen,
Wer seinen Blick aufs Große baut.

Doch lässt sich das, was ohne Form,
Zahlenmäßig auch nicht teilen,
Und muss, was unfassbar, enorm,
Unerschöpflich hier verweilen.

Worüber man drum reden kann,
Das ist schlichtweg das grobe Ding,
Das Feine ists worüber man,
Sich selber zur Besinnung bring.

Doch das, was grob und fein schlechthin,
Entzieht sich unsrer Geisteskraft,
Drum handelt man erst nach dem Sinn,
Hat man sich davon freigemacht.

So ist am Ende der nur groß,
Der sich nichts drauf zugute tut,
Und den nicht hasst, der selber bloß,
Sich rühmt aus innerer Armut.

Der nichts auf seine Stärke gibt,
Und dabei auch noch den versteht,
Den seine Gier zum Schmutze zieht,
Dass er im Schmutze untergeht.

Nicht alle Ehre dieser Welt,
Ist zu reizen ihn im Stande,
Dass er aus seiner Rolle fällt,
Weilt er auch in tiefster Schande.

Der Mensch des Sinns bleibt ungenannt,
Sucht im Leben nicht das Seine,
Und hat sein eignes Selbst verbannt,
Hängt ans Schicksal sich alleine."





"Wo genau wird denn entschieden,
Was Unwert ist, und was von Wert,
Kann der Punkt im Ding selbst liegen,
Oder bleibt ihm das verwehrt?"

Der Gott des Nordmeers holte aus,
"Vom Sinn betrachtet gibts ihn nicht,
Den Wert, den Unwert, weil daraus,
Ja immer nur ein Standpunkt spricht.

Denn jedes Ding hält sich für wert,
Doch andren es den Wert abspricht,
Die Masse macht es umgekehrt,
Für sie zählt nur der andren Sicht.

Sieht man die Relativität,
Und nennt ein Ding, weils größer ist,
Als andre, groß; es dahin geht,
Dass alles man als groß ermisst.

Bezeichnet man ein Ding als klein,
Weil etwas größres existiert,
Dann müsste jedes Ding klein sein,
Weils gegen irgendwas verliert.

Sieh, dass Himmel und auch Erde,
Am Ende wie ein Reiskorn sind,
Und Haarspitzen groß wie Berge,
Wenn man die Relation ersinnt.

Sehn wir vom Punkt der Qualität,
Und sagen dann, dass etwas sei,
Weil Qualität es in sich trägt,
Kein Ding der Welt wär nicht dabei.

Und sagten wir, etwas sei nicht,
Weil eine Qualität ihm fehlt,
Von allen Dingen würde schlicht,
Ein jedes mit hinzugezählt.

Ost und West stehn sich entgegen,
Zu jeder Zeit im Weltenlauf,
Ohne, dass sie sich aufheben,
Und Qualitäten gibts zuhauf.

Würd von der Wertung aus gesehn,
Man die Dinge wertvoll nennen,
Die selbst als wertvoll sich verstehn,
Werte würden die Welt schwemmen.

Und sprächen wir jedem Wert ab,
Den irgendwer für wertlos hält,
Dann sage ich mal kurz und knapp,
Ganz wertlos wär die ganze Welt.

Ein Heiliger und ein Tyrann,
Sehen beide sich als wertvoll,
Den andren doch als wertlos an,
Das beschreibt Werturteile toll.

Yau und Schun gaben auf den Thron,
Und doch hatte ihr Reich bestand,
Das selbe tat Dschi Guais Person,
Bracht seinem Reich den Untergang.

Tang und Wu kämpften um Herrschaft,
Als Könige endeten sie,
Dem weißen Prinz hats nichts gebracht,
Sein Gegner zwang ihn in die Knie.

Hier zeigt sich, dass Kampf und Verzicht,
Dass Wert und Unwert Zeiten hat,
Wers absolut ansieht, der bricht,
Die Umstände spieln mit ins Blatt.

Ein Sturmbock berennt eine Stadt,
Doch kann keine Bresche füllen,
Den Renner, der gut Tempo hat,
Wird Mäusejagt mit Scham erfüllen.

Ein Kauz, der seine Flöhe fängt,
Und Haaresspitzen unterscheidet,
Am Tag sieht er nen Berg und denkt,
Kann ich nicht sehn, wie leidig.

Wer zur Bejahung sich bekennt,
Doch nichts von der Verneinung weiß,
Im Leben stets auf Ordnung brennt,
Verwirrung doch als schlecht verheiß.

Hat die Gesetze nicht durchschaut,
Durch die Himmel und Erde wirkt,
Wie einer, der dem Himmel traut,
Und vor der Erde sich verbirgt.

Es ist doch klar, dass das nicht geht,
Wer trotzdem davon weiterspricht,
In Dummheit oder Täuschung steht,
Denn es fehlt ihm die klare Sicht.

Ein Mensch, der von der Zeit abweicht,
Und der den Sitten widerstrebt,
Mit Sicherheit nicht viel erreicht,
Und dazu noch in Schande lebt.

Wer jedoch seiner Zeit entspricht,
Der wird dafür hoch angesehn,
Sei still, oh Flussgott, siehst du nicht,
Wir könnens einfach nicht verstehn."





Der Flussgott fragte nun verwirrt,
"Was kann man tun, was lieber nicht,
Wie schafft mans, dass man sich nicht irrt,
Und man dem Weltenlauf entspricht?"

"Am Ende sind, vom Sinn gesehn,
Wert und Unwert überflüssig,
Sie sind Standpunkte, die vergehn,
Oft sind sie nicht einmal schlüssig.

Lass dir von diesem Gegensatz,
Nicht das Herz gefangen nehmen,
Denn sonst verlierst du einen Schatz,
Und es wird dein Denken lähmen.

Sei streng mit dir, so wie ein Mann,
Der Ansehn der Person nicht kennt,
Der unparteiisch handeln kann,
Und dabei für das Rechte brennt.

Sei wie der Himmel grenzenlos,
Der nichts Bestimmtes nur umfasst,
Trag jedes Ding in deinem Schoß,
Ohne dass du ein Liebstes hast.

Wer ohne Gunst und Vorliebe,
Der ist wahrhaftig unumschränkt,
Nichts, dass nutzlos ihn umtriebe,
Das Schicksal seinen Weg ja lenkt.

Das Dasein aller Dinge eilt,
Während es sich ewig wandelt,
Derjenige im Wandel weilt,
Der es schafft, dem Sinn nach handelt."





"Was ist denn nun der Wert vom Sinn?",
Wollt zum Schluss der Flussgott wissen,
"Zum Gleichgewicht führt er uns hin,
Fügt zusammen, was zerrissen.

Dass man der Kräfte Gleichmaß schaut,
Kein Außending mehr Schaden bringt,
Man sich dem Schicksal anvertraut,
Und Handeln willenlos gelingt.

Man die Welt doch nicht verachtet,
Wenn man sie auch kaum noch berührt,
Ist ihr Einfluss erst entmachtet,
Man tief in sich den Frieden spürt.

Die Quelle von Gefahren sieht,
In Leid und Glück die Ruhe kennt,
Voll Sorgfalt schaut, wo man hinzieht,
Und wo man seinen Weg abtrennt.

Das Himmlische im Inneren,
Im Äußeren das Menschliche,
Wenn beide sich beeinflussen,
Erschöpfen sie das Mögliche.

Wer diesen Zustand erst erreicht,
Bewegt sich, wie nicht anwesend,
Weil sein Geist bis zum Ursprung reicht,
In dem er selber sich erkennt.

Wer nicht mehr durch Beeinflussung,
Die himmliche Natur zerstört,
Nicht mit Absichten Änderung,
Ersucht; den Weisen angehört.

Wer sorgfältig sein Ich bewahrt,
Im uferlosen Ozean,
Des Geistes nicht verlorn verharrt,
Den wäscht er rein von allem Wahn."


Das Gedicht basiert auf einem Text von Zhuangzi aus dem "Wahren Buch vom südlichen Blütenland", wer ihn im original lesen möchte findet hier die entsprechenden Links:

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zh...elbstbesinnung

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zh...3%9F+und+Klein

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zh....+Das+Absolute

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zh...+XVII/4.+Werte

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zh.../5.+Imperative

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zh...II/6.+Der+Sinn

Zwischen den jeweiligen Abschnitten habe ich immer eine größere Lücke gelassen.
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Stichworte
herbstfluten, taoismus, zhuangzi

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