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Alt 23.06.2021, 17:10   #1
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Standard Und sie fließt doch ...

Die Sonne stand tief am Nachmittag, als die Kutsche vor dem Gasthof „Zum Ochsen“ hielt und der Kutscher vom Bock sprang. Der Mann, dem er beim Aussteigen zu Diensten war, mochte kaum dreißig Jahre alt sein. Er war städtisch gekleidet und führte eine gebauchte, lederne Reisetasche mit sich. Neugierig sah er sich um, und während er seinen Blick gegen die Strahlen der Sonne abschirmte, betrachtete er die Burg, die auf dem nahegelegenen Berg zum Himmel ragte. „Die Burg da oben, ist das …“

Der Kutscher hörte nicht hin, sondern schlug die Tür seines Gefährts zu. „Mann, ich hab’s eilig. In dieser unseligen Gegend will ich nicht die Nacht verbringen.“ Er schwang sich auf den Kutschbock. „Fragt den Wirt, der ist hier großgeworden. Hüa!“ Seine vier Pferde setzten sich gehorsam in Bewegung, bildeten einen Halbkreis und trabten in die Richtung davon, aus der sie die Kutsche hergezogen hatten.

Der Reisende sah ihr kurz nach, ehe er den Gasthof betrat. „Ein Zimmer. Für drei Tage. Vielleicht auch länger.“

Der Wirt beugte seinen Rücken, um den Fremden willkommen zu heißen. Vornehme Leute aus der Stadt hatte er selten zu Gast. Leute von Wohlstand, die ihre Schulden nicht in Naturalien und Dienstleistungen, sondern in Gold bezahlten.

„Mein bestes, mein bestes … ganz selbstverständlich. Für einen Herrn wie Euch nur mein bestes. Ich halte sie immer frei, meine besten Zimmer. Für vornehme Leute, wie Ihr es seid. Meine Tochter wird Euch das Bett bereiten, ganz nach Euren Wünschen. Sie ist ein gutes Mädchen, müsst Ihr wissen …“

„Schon gut“, unterbracht ihn der Reisende. „Für das Zimmer zahle ich in Goldmünzen, und dafür, dass du mir deine Tochter vom Leibe hältst, eine Münze dazu.“

Der Buckelwirt nickte beflissen, hielt die Hand auf und ließ sich die Münzen auf die Innenfläche zählen. Doch er löste nicht den Blick von dem ledernen Beutel., der inhaltsgeschwellt in der Hand seines Gastes ruhte.

„Du willst mehr?“

Der Buckelwirt nickte. „Was verlangt Ihr dafür?“

„Auskunft. Erzählung. Überlieferung …“

In das Gesicht des Buckelwirts trat Misstrauen. „Worüber?“

„Zum Beispiel über die Burg dort drüben. Auf dem Felsen.“

Der Buckelwirt senkte das Kinn und schwieg eine Weile. Dann hob er den Kopf und sah dem Reisenden direkt in die Augen: „Wer seid Ihr? Warum seid Ihr hier?“

„Mein Name ist Fabrizio Goldini, ich komme von der Universität in Bologna, und ich bin hier, um zu forschen.“

„Worüber?“

„Über die Zeit.“

Der Buckelwirt senkte seinen Blick tief in Goldinis Augen, als wolle er dessen Verstand prüfen. „Über die Zeit … hm.“ Dann wandte er sich den Gästen im Schankraum zu. „Leute, schaut her, hier ist einer, der sich Gedanken über die Zeit macht.“

Gelächter und Gegröle.

Wohlgefällig wandte sich der Buckelwirt Goldini zu. „Da seht Ihr, was die Leute von der Zeit halten.“ Er winkte ihm, zu folgen. „Kommt, ich zeige Euch Euer Zimmer.“

Die Zimmer war geräumig und sauber. Von den Holzdielen stieg der Geruch frischen Wachses in die Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte. Von hier aus hatte man einen Blick auf den Berg, auf dem die Burg thronte. Obwohl der Tag klar gewesen war, schien sie von einer Dunstglocke umwölbt zu sein. Goldini streckte den Zeigefinger aus. „Wie kommt man dort hinauf?“

Der Buckelwirt runzelte die Stirn. „Dort hinauf? Zur Burg? Seit fast hundert Jahren ist niemand mehr oben gewesen. Der Weg ist zu steil und zu gefährlich. Die Leute sagen, er sei mit Dornengestrüpp überwachsen und vor der Burg hause ein Drache, der die kleine Rosalie vor Eindringlingen bewacht.“

„Wo beginnt dieser Weg?“

„Hinter den Weizenfeldern, in der Richtung, in der die Sonne aufgeht.“ Der Buckelwirt sah Goldini einen Moment lang nachdenklich an, bevor er fortfuhr. „Von diesem Weg ist noch niemand zurückgekehrt.“ Dann schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. „Abendessen könnt Ihr bis Mitternacht bekommen.“

Eine halbe Stunde später betrat Goldini die Schankstube und sah sich um. An einem Tisch entdeckte er einen weißhaarigen, bärtigen Mann, der einen Bierkrug vor sich hatte und seinen Gedanken nachzuhängen schien. Er winkte dem Buckelwirt, frisches Bier zu bringen, und setzte sich neben den Alten. „Lass es dir schmecken.“

Der Alte grunzte zufrieden vor sich hin und nahm einen langen Zug aus dem neuen Krug.

„Lebst du schon lange in diesem Dorf, alter Mann?“

Der Alte nickte. „Bin hier geboren. Warum?“

„Was weißt du über die Burg?“

„Alles und nichts.“

„Was heißt das?“

„Nur, was die Leute darüber erzählen.“

„Was erzählen sie?“

„Sie sagen, der Burgherr sei verflucht, samt seiner Familie und dem Gesinde.“

„Verdammt zu einem hundertjährigen Stillstand.“

„Warum fragt Ihr, wenn Ihr das wisst?“

„Ich brauche Einzelheiten. Für meine Forschung. Erzählt mir genau, was Ihr wisst.“

„Nun, der Burgherr hatte einen Sohn, der war anders als der Vater. Er lästerte Gott, und als er Herr über die Burg wurde, ließ er das Kruzifix aus der Kapelle nehmen und verbrennen und die Tür für immer verschließen. Als seine Tochter geboren wurde, verweigerte er die Taufe. Seine Frau ließ einen Priester holen, aber beide flehten vergeblich darum, das Kind in Gottes Hand zu geben. Da verfluchte der Priester den ganzen Hof zu einem hundertjährigen Stillstand, wenn das Kind nicht vor seinem fünften Lebensjahr getauft würde.“

„Der Burgherr blieb hart, und der Fluch wurde wahr.“

„So sagt man.“

„Ist jemals ein Mensch oben gewesen, um nachzusehen, ob das nur ein Märchen ist?“

„Möglich. Aber in diesem Dorf ist nie jemand aufgetaucht, der darüber berichtet hat.“

„Hundert Jahre. In dieser Woche gehen sie zu Ende.“

„Hundert Jahre, tausend Jahre. Hier führt niemand einen Kalender. Seht meine Haare. Die waren mal blond, ehe sie grau wie Asche und weiß wie Schnee wurden. Draußen wächst das Korn, und wenn es reif ist, wird es geerntet und gedroschen. Wenn die Blätter von den Bäumen fallen und die Tage kürzer werden, rückt die kalte Jahreszeit heran. Daran messen wir die Zeit.“

Goldini ließ dem Alten noch einen Krug Bier kommen, zahlte und ging auf sein Zimmer. Er öffnete seine Reisetasche und entnahm ihr das Nachgewand, in das er eine Machete gewickelt hatte.

Am nächsten Morgen war er der früheste Gast, der sich in der Wirtsstube niederließ. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen zur Erde und tauchte den Raum in einen warmen Glanz. Der Buckelwirt servierte Goldini warme Brühe und eine Schnitte Brot mit Griebenschmalz. Seine Augen wurden dunkel, als er die Machete sah. „Ihr wollt wirklich dort hinauf?“

„Dazu bin ich hergekommen.“

„Mann, was glaubt Ihr, dort zu finden?“

„Die Wahrheit.“

„Welche Wahrheit?“

„Die Wahrheit über die Zeit.“

Der Buckelwirt stieß ein höhnisches Lachen aus. „Die Zeit. Die Zeit. Das muss man gehört haben! Die Zeit …“. Er beugte sich noch tiefer zu Goldini herab, als er sonst vor Leuten gebildeten Standes zu buckeln pflegte. „Wen interessiert denn die Zeit? Außer, dass man sie verschwenden kann. So wie Ihr an diesem gottverlassenen Ort.“

Ohne Erwiderung nahm Goldini die Machete und machte sich auf den Weg. Vom Dorf aus sah er die Dunstglocke, die wie eine Schutzhaube über der Burg hing. Er brauchte Stunden, um sich durch das Gestrüpp zu kämpfen, das ihm den Weg zu verwehren suchte. Zerkratzt von Dornen und ermattet vor Anstrengung kam er vor dem Burgtor an, legte sich ins Gras und wartete.

Er wartete zwei Tage und eine Nacht. Dann öffneten sich die Tore wie von Geisterhand. Ungläubig, als traue er seiner eigenen Mission nicht, erhob er sich und schritt auf den Burghof. Was er sah, entlockte ihm einen Ruf des Entzückens.

„Es ist wahr!“

Überall waren Menschen. Männer sattelten die Pferde ab, Frauen standen am Brunnen, um Wasser zu schöpfen, ein Schmied bearbeitete ein Stück Eisen, ein Bäcker knetete Teig, und Kinder tollten mit Hunden umher. „Als ob ein Maler sie auf seiner Leinwand eingefroren hätte,“ sinnierte Goldini über die bewegungslose Szenerie. „Es gibt sie nicht, die Zeit an sich. Sie ist an das Objekt gebunden. Wenn die Welt stillsteht, erlischt die Zeit, und alles bleibt, wie es ist.“

Er betrat die Burg und durchschritt die Räume. In der Kemenate traf er auf die Burgherrin und ihre Zofen, die im Begriff waren, ein Kind in den Sitten des Hofes zu unterrichten. Mitten in einem Tanzschritt hatten sie innegehalten.

Im Nebengemach lag der Burgherr bekleidet auf seinem Bett, als ruhe er von einer Jagd aus. Erschöpft von der Überflutung seiner Erkenntnisse sank Goldini neben ihm nieder und schlief ein.

Als er die Augen aufschlug, starrte er ins Dunkel. Wie spät mochte es sein? Oder wie früh? Er stand auf und ging zum Fenster. Draußen begann eine Amsel zu singen, erst verhalten, dann lauter, bis sie Antwort bekam. Am Horizont stieg Morgengrau auf, und Goldinis Augen gewöhnten sich allmählich an den neuen Tag.

Der Totenschädel, der ihm aus der Kleidung des Burgherrn entgegensah, versetzte ihn in Schrecken. Er eilte in die Kemenate, um nach den Frauen und dem Kind zu sehen, doch er fand nur ihre von feinem Tuch umhüllten Skelette.

Auf dem Burghof schritt er über die Knochen der Stallknechte, des Schmieds, des Bäckers, der Kinder und der Hunde. „Und sie fließt doch, die Zeit,“ murmelte er enttäuscht. Über ihm öffnete sich die Dunstglocke, und er sah in den blauen, wolkenlosen Himmel.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
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