Leichen im Keller bei Poetry.de

Ilka-Maria · 24.05.2021, 19:00

Der Volksmund sagt, dass man im Älterwerden
allein der guten, nie der schlechten Zeit gedenke,
vergessen seien Kränkung und Beschwerden,
vernarbt die Wunden früh erlebter Ränke.

Wie falsch! Nur weil die Sinne langsam schwinden
wird kaum ein dunkler Fleck im Leben heller,
will man auch Leid nicht wiederholt empfinden,
die Leichen stinken trotzdem aus dem Keller.

Der Schlaue denkt: Ich zieh ins Haus daneben,
was war, ist dann in Ewigkeit vergessen.
Jedoch: Der Mief bleibt ihm am Leibe kleben,
die Macht der Schatten hat er untermessen.

Der Lebenschronik kann er nicht entrinnen,
Erlebtes nicht von seiner Saga spalten,
die Welt nicht neu und schöngefärbt ersinnen
und sich auf Dauer nicht zum Narren halten.

24.05.2021

Ex-Ralfchen · 24.05.2021, 19:08

eine tiefe und klare Erkenntnis fein verdichtet.

die sinne müssen notwendigerweise nicht schwinden um sich in diesem Karussell zu verdrehen. mag sein, dass wir uns nicht ändern. manch werden boshafter und auf Grund dessen verbitterter. nur: wer hält schon gerne nach der rechten die linke Wange hin?

Heinz · 24.05.2021, 19:31

Hallo Ilka-Maria,
was der Volksmund so sagt, ist oft mit wenig Worten ausgedrückte Langzeiterfahrung und oft bedarf es der richtigen Auslegung. Richtig ist sicher, dass man sich, je älter man wird, lieber den guten Erinnerungen hingibt. Dass man dann zur Schönfärberei neigt - geschenkt.
Die schlechten Erfahrungen, die Erniedrigungen, Verletzungen, Kränkungen und andere negative Erlebnisse bleiben und ich glaube sogar, dass sie unbewusst unser Verhalten mehr bestimmen, als wir es wahrhaben wollen. Ich habe mir kürzlich noch einmal ein Interwiew mit Ralph angehört, in dem er sagt, dass seine Erinnerungen z.B. an Nazizeit und das Kriegsende, sehr intensiv sind und die Schatten auf der Seele nicht blasser, sondern dunkler werden.
Ich gebe ihm (und Dir) recht: Wir glauben es gern, wenn man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Aber die Narben bleiben und schmerzen und mahnen.
Richtig ist sicher, dass wir etwas Älteren gelernt haben, besser damit umzugehen, aber in der Nacht sind wir allein mit unseren Träumen und die Leichen in unserem Keller haben vor dem Volksmund wenig Respekt.
Liebe Grüße,
Heinz

Vers-Auen · 25.05.2021, 01:13

Manche gehen über Leichen auch wenn
diese schon bis zum Himmel stinken!

Manche denken; „Der Himmel hängt voller Geigen.“
Mitnichten herrscht dort oben Hochstimmung,
genau das Gegenteil ist der Fall!

All denjenigen, die auf Erden etwas vergeigt
haben, wird dort oben die Meinung gegeigt.

PetScha · 25.05.2021, 09:32

Nein, Schmerz vergeht nicht. Aber mit den Jahren lernen wir ihn anzunehmen und verstehen, dass er zu uns gehört und uns zu dem macht, der wir sind.

24.05.2021, 19:00	#1
Ilka-Maria Forumsleitung Dabei seit: 07/2009 Ort: Arrival City Beiträge: 31.089 Meine Gedichte Meine Favoriten	Leichen im Keller Der Volksmund sagt, dass man im Älterwerden allein der guten, nie der schlechten Zeit gedenke, vergessen seien Kränkung und Beschwerden, vernarbt die Wunden früh erlebter Ränke. Wie falsch! Nur weil die Sinne langsam schwinden wird kaum ein dunkler Fleck im Leben heller, will man auch Leid nicht wiederholt empfinden, die Leichen stinken trotzdem aus dem Keller. Der Schlaue denkt: Ich zieh ins Haus daneben, was war, ist dann in Ewigkeit vergessen. Jedoch: Der Mief bleibt ihm am Leibe kleben, die Macht der Schatten hat er untermessen. Der Lebenschronik kann er nicht entrinnen, Erlebtes nicht von seiner Saga spalten, die Welt nicht neu und schöngefärbt ersinnen und sich auf Dauer nicht zum Narren halten. 24.05.2021 __________________ Workshop "Kreatives Schreiben": http://www.poetry.de/group.php?groupid=24

25.05.2021, 01:13	#4
Vers-Auen Dabei seit: 12/2017 Ort: Jenseits von Eden Beiträge: 2.196 Meine Gedichte Meine Favoriten	Leichen im Keller Manche gehen über Leichen auch wenn diese schon bis zum Himmel stinken! Manche denken; „Der Himmel hängt voller Geigen.“ Mitnichten herrscht dort oben Hochstimmung, genau das Gegenteil ist der Fall! All denjenigen, die auf Erden etwas vergeigt haben, wird dort oben die Meinung gegeigt.

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24.05.2021, 19:08	#2
Ex-Ralfchen abgemeldet Dabei seit: 10/2009 Alter: 77 Beiträge: 17.302 Meine Gedichte Meine Favoriten	eine tiefe und klare Erkenntnis fein verdichtet. die sinne müssen notwendigerweise nicht schwinden um sich in diesem Karussell zu verdrehen. mag sein, dass wir uns nicht ändern. manch werden boshafter und auf Grund dessen verbitterter. nur: wer hält schon gerne nach der rechten die linke Wange hin?

24.05.2021, 19:31	#3
Heinz Dabei seit: 10/2006 Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow Beiträge: 7.879 Meine Gedichte Meine Favoriten	Hallo Ilka-Maria, was der Volksmund so sagt, ist oft mit wenig Worten ausgedrückte Langzeiterfahrung und oft bedarf es der richtigen Auslegung. Richtig ist sicher, dass man sich, je älter man wird, lieber den guten Erinnerungen hingibt. Dass man dann zur Schönfärberei neigt - geschenkt. Die schlechten Erfahrungen, die Erniedrigungen, Verletzungen, Kränkungen und andere negative Erlebnisse bleiben und ich glaube sogar, dass sie unbewusst unser Verhalten mehr bestimmen, als wir es wahrhaben wollen. Ich habe mir kürzlich noch einmal ein Interwiew mit Ralph angehört, in dem er sagt, dass seine Erinnerungen z.B. an Nazizeit und das Kriegsende, sehr intensiv sind und die Schatten auf der Seele nicht blasser, sondern dunkler werden. Ich gebe ihm (und Dir) recht: Wir glauben es gern, wenn man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Aber die Narben bleiben und schmerzen und mahnen. Richtig ist sicher, dass wir etwas Älteren gelernt haben, besser damit umzugehen, aber in der Nacht sind wir allein mit unseren Träumen und die Leichen in unserem Keller haben vor dem Volksmund wenig Respekt. Liebe Grüße, Heinz

25.05.2021, 09:32	#5
PetScha Dabei seit: 05/2021 Ort: NRW Alter: 60 Beiträge: 78 Meine Gedichte Meine Favoriten	Nein, Schmerz vergeht nicht. Aber mit den Jahren lernen wir ihn anzunehmen und verstehen, dass er zu uns gehört und uns zu dem macht, der wir sind.