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Alt 09.06.2021, 08:56   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Zipfel der Welt

Da liegt es vor mir und verhöhnt mich. Es hat ein Gesicht, das leere Blatt. Es streckt mir die Zunge heraus, während ich am Ende meines Füllhalters kaue.

„Du Arsch!“, schreie ich, reiße es in Stücke und werfe es in den Papierkorb, der vor laute Ärschen überquillt.

Ich nehme ein jungfernes Blatt. Es schaut mich lüstern an. „So mach doch endlich!“

Aber ich vermag nicht, diese Unschuld zu besudeln. Tausend Gedanken schwirren, wirbeln, steigen, fallen, schweben und purzeln mir durch die Kopf, die wert wären, niedergeschrieben zu werden. Nur wie, ohne das unschuldige Weiß vor mir zu beleidigen? Vor meinem geistigen Auge läuft ein Film ab, dessen einzelne Szenen klar sind, die aber nicht zusammenhängen. Als hätte jemand aus dem Material, das am Schneidetisch abgefallen ist, etwas wahllos zusammengeklebt.

Wertvolles Material. Jedes einzelne Bild. Aber was daraus formen? Und wie? Wo fange ich an? Wohin soll es gehen?

Ich fühle mich wie ein Musiker, der von Tönen erschlagen wird, die er zu tausend Symphonien komponieren könnte, wenn er nur in der Lage wäre, Ordnung in sie hineinzubringen. So muss der Weg in den Wahnsinn gepflastert sein!

Ich starre auf das Blatt vor mir, dieses blütenreine Weiß, bis mir schwarz vor Augen wird. Angst steigt auf. Was, wenn ich versage? Ich habe doch die ganze Welt im Kopf, brauche sie nur auf dieses Stück Papier zu bringen, um sie zu bändigen … Warum finde ich den Zipfel nicht, an dem ich sie fassen und auf das Papier zwingen kann?

Aber warum gleich die ganze Welt?

Das Jungfernblatt vor mir schreit mich an: „Schreib endlich. Egal, was!“

Ich nehme mir ein Herz und setze den Füllhalter an. „Ich war drei Jahre alt, und das Viertel, in dem ich wohnte, war ein Trümmerhaufen, als …“

Plötzlich läuft es wie geschmiert. Und das entjungferte, aber immer noch blütenweiße Blatt lächelt mir zu.
__________________

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