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Alt 28.06.2011, 11:21   #1
männlich steigerm
 
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Beiträge: 1

Standard Wir kommen so was von überhaupt nirgends hin

Der Regen klatschte unaufhörlich gegen die Windschutzscheibe, und Tanja, Ron und Clemens überlegten bereits, ob es sinnvoll gewesen war, überhaupt loszufahren. Immerhin war es mitten in der Nacht, die Fahrbahn stand unter Wasser und sie mussten kilometerweit durch die Einöde fahren, weil die Diskotheken am Land nun mal kilometerweit weg in der Einöde gebaut waren.
Der Abend war, soweit waren sich Tanja und Ron einig, am Anfang ein voller Erfolg gewesen. Clemens war so entspannt und locker wie schon lange nicht mehr zu einem gemeinsamen Abend zu überreden gewesen. Die Trennung von seiner Langzeitfreundin – und hier begannen bereits die Meinungen auseinanderzudriften, unaufhaltsam wie die tektonischen Platten unter Island ob fünf Wochen bereits als „Langzeitbeziehung“ galten, oder nicht – hatte ihm doch ordentlich zugesetzt und Clemens war aus Liebeskummer ein ganzes Wochenende nicht in der Disco erschienen. Aber Ron hatte ihm schließlich verständlich machen können, dass er sich, wegen so einer gescheiterten Beziehung, nicht sein ganzes Leben in seinem Zimmer einschließen könne. Und mit Achtzehn sei Clemens ja auch zu jung, um dermaßen zu übertreiben. So hatten sie getanzt und getrunken, bis zu dem verhängnisvollen Augenblick, als Rosi, die Exfreundin von Clemens, mit einem Macho der freiwilligen Feuerwehr eng umschlungen über die Tanzfläche schwang. Seit diesem Ereignis hatte Clemens einen Ochsenfrosch, eine nur bedingt genießbare Red Bull – Tequilla – Mischung, nach dem Anderen in sich hineingegossen und jedes Mädchen an der Bar mit unnötigen Anmach-Sprüchen überhäuft, bis Clemens in einem dermaßen desolaten Zustand war dass Ron ihn unter Tanjas Drängen ins Auto verfrachtet hatte.
Vierzig Minuten waren sie schweigend mit dem rhythmischen Schnarchen Clemens von der Rückbank als einzig hörbarem Geräusch durch die stockfinstere Nacht gefahren. Bis sich Clemens ruckartig aufsetzte und „Mussamal bingeln!“ zwischen Ron und Tanja lallte. „Du wirst es aushalten müssen, bis wir daheim sind. Bei dem Scheißwetter bleibe ich sicher nirgends stehen.“
Ron wusste, dass Tanja nicht mitten in der Nacht anhalten wollte, weil es ihr zu gefährlich erschien, mutterseelenallein im Dunkeln an der Landstraße zu stehen.
„Du bisssn Egoist.“, kam postwendend die Antwort von der Rückbank. Ron riskierte einen Seitenblick zu seiner Freundin Tanja, die das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten und ihre Lippen waren so fest aufeinander gepresst, dass ihr Mund nur mehr als Strich zu erkennen war. Gleich, da war sich Ron sicher, würde Tanja explodieren. „Ihah seids Beide Egoisten:“, maulte Clemens.
Tanja sprang mit beiden Bleistiftabsätzen auf das Bremspedal, so dass der C3 ihrer Mutter mit einem unheimlichen Zischen, so als hätten alle Menschen auf der Welt gleichzeitig „Sssss!“ gemacht, über die nasse Fahrbahnoberfläche rutschte. Und als einer der Vorderreifen über die scharfe Asphaltkante auf das Bankett holperte schnitt sie den weichen Gummi der Mantelinnenseite auf. Der Reifen verabschiedete sich mit einem lauten Knall, Tanja riss das Lenkrad nach rechts und der C3 schlitterte unter wildem Drehen über die Landstraße. Die Fernlichter tauchten die Waldränder, die auf beiden Seiten der Landstraße nur als schwarze Mauern zu sehen waren für den Bruchteil von Sekunden in gleißendes Licht, so dass die Baumstämme aussahen wie übergroße weiße Gitterstäbe des Käfigs der Landstraße.
Nach einigem Ringen mit dem Lenkrad schaffte es Tanja, den Wagen am Straßenrand zum Stehen zu bringen und die Warnblinkanlage einzuschalten.
Es vergingen zehn Sekunden, in denen nur die Tiefen Atemzüge der Insassen zu hören waren. Nach einer kleinen Ewigkeit stiegen Ron und Tanja aus, um den Schaden zu begutachten. „Nein bitte, das Auto von der Mama. Ich krieg das doch nie wieder geborgt, wenn die das mitkriegt.“ Die Augen von Tanja füllten sich mit Tränen und ihre Stimme zitterte. Ron nahm sie in die Arme, und schlug vor, jetzt einmal das Notrad zu montieren und morgen in Ruhe einen Plan wegen des Reifens zu schmieden.
Inzwischen hatte sich Clemens von der Rückbank geschält und war aus dem Wagen geklettert. „Wsis mit euch?“
„Clemens, du kannst uns doch morgen einen Reifen aus eurer Werkstatt besorgen, oder? Dein Paps merkt doch nie, wenn einer fehlt. Außerdem geben wir die das Geld diese Woche noch.“ Die Situation erschien Ron beinahe gerettet. Außerdem wollte er jetzt wirklich nach Haus. Wenigstens hatte der Regen nachgelassen und sie wurden nicht völlig durchnässt. „Warum sollte ich einen Reifen klauen? Ich wollte eh noch da bleiben und was trinken. Und die mim Rock hätt mich heimgebracht, die war mim Auto da.“
Clemens stand auf der anderen Seite des C3, mitten auf der Landstraße und öffnete geräuschvoll seine Hose.
„Du bist so ein Idiot, ich versteh nicht was dein Problem ist. Hilf uns jetzt den Reifen wechseln und morgen bringst du uns einen Neuen und wir geben dir das Geld.“ Tanjas Stimme überschlug sich vor Ärger. Sie schrie Clemens über das Autodach hinweg an. „Wenn du uns nicht hilfst, dann lass ich dich da stehen und du kannst dir selber überlegen, wie du heimkommst, du Egoist. Wir ham einen gemeinsamen Abend sein lassen, damit du aus dem Haus kommst, und jetzt benimmst du dich so Scheiße? Ich kümmer mich ab jetzt nicht mehr um dich, wenn dich jetzt ein Auto überfährt, is mir das auch wurscht.“
Clemens entleerte seine Blase genau auf die Stoßlinie, die entsteht wenn sich die zwei Asphaltschichten der beiden Straßenseiten treffen. „Wurscht isses dir nicht, und das is nicht das Selbe wie einen Reifen zu klauen, nur weil du nicht fahren kannst, du blöde Tussi.“
Ron spannte jeden Muskel in seinem Körper an, bereit sich auf Clemens zu stürzen. Freund hin oder her, dem Drecksack musste jemand die Fresse polieren. Und beinahe hätte er das auch getan. Beinahe. Weil keiner der Drei den LKW sah, der zwar gut beleuchtet, aber viel zu schnell über die Landstraße gerauscht kam und Clemens mit voller Wucht rammte. Das Geräusch klang nicht fürchterlich, nicht einmal scheußlich. Da waren sich Ron und Tanja einig, ohne ein Wort zu wechseln. Es klang so, als hätte jemand ein Kopfpolster mit voller Kraft gegen eine Wand geschleudert. Und nach dem Geräusch war von Clemens keine Spur mehr. Einmal mehr legte sich eine gespenstische Stille über den Ort des Geschehens und Tanja und Ron sahen sich an. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und der Regen rann ihr aus ihrem Haar ins Gesicht. Ron konnte sich nicht erinnern, sie jemals so wunderschön, so verletzlich, so beschützenswert gesehen zu haben. Nicht mehr seit er sich in sie verliebt hatte, als sie im selben H&M shoppen waren und sie vom Kaufhausdetektiv beim Klauen einer Sonnenbrille erwischt worden war. Da war ihm zu ersten Mal aufgefallen, wie süß Tanja war, wenn sie Angst hatte. Zu süß, um die wütende Tanja nicht in Kauf zu nehmen, vor der Ron Angst hatte. Aber die bekam er zum Glück selten zu sehen. Das letzte mal am Schulball, als er mit einer gemeinsame Klassenkollegin rumgemacht hatte, weil er die Chance nutzen wollte. Immerhin war er in einer Beziehung und da küsst man fast immer die Selbe. Also wenn sich schon so eine seltene Gelegenheit ergab, fand er, dann musste die auch genutzt werden. Was er nicht bedacht hatte war, dass es ihn daraufhin erhebliche Mühe kostete, auch Tanjas Freund zu bleiben. Die hatte nämlich kaum Verständnis für „Fremdküssen um die eigene Beziehung zu stützen“.
Uns so nahm Ron seine Freundin, mitten in der Nacht im Finstern in die Arme und küsste sie wie schon lange nicht mehr. Nach einem halben Jahr Beziehung schleicht sich eben der Alltag ein und schon ist Nichts mehr wie es am Anfang war.
„Was machen wir denn jetzt?“ Tanjas Stimme zitterte immer noch. „Ist der Clemens tot? Ich kann dem Truck nicht nachfahren, ich hab echt nicht die Nerven dafür.“
„Wir fahren dem auch nicht nach. Wir wechseln den Reifen und fahren heim. Und du schläfst bei mir und wir sagen deiner Mama morgen, dass es schon zu spät zum Heimfahren war. Und dann kaufen wir einen neuen Reifen. Und wegen den Clemens sagen wir, dass wir den in der Disco ham lassen, wegen der mim Rock. Der hat eine Woche keine Freundin gehabt, da wir jeden klar sein, dass der sich eine aufreißt.“ Ron hatte die letzte Mutter vom Notrad festgezogen und nickte Tanja entschlossen zu. „Danke Schatz, du weißt immer was zu tun ist.“ Sie drückte sich an seine Brust und seufzte. Dann sah sie ihm in die Augen, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Und nach einer kleinen, aber wunderschönen Ewigkeit öffnete sie ihre Augen wieder und erblickte über Rons rechter Schulter ein blutverschmiertes Gesicht.
Tanja schrie auf und Ron fuhr herum. Vor ihnen stand Clemens im Licht der Scheinwerfer, seine Kleidung war zerrissen und die Haut darunter war wir mit Schleifpapier von seinen Muskeln gerieben worden. Aus dem rechten Unterarm ragten zwei Knochen aus einer Kruste trockenen Blutes, dafür schienen im linken Unterarm keine Knochen mehr zu sein. Der hing wie eine Schwimmwurst aus Moosgummi von seinem Ellenbogen. Durch die Haut am Hals konnten sie sehen, dass mehrere Halswirbel hervorstanden, wo sie nicht sein sollten und die Augen waren blutunterlaufen. Die Haare standen in alle Richtungen und Blut sickerte aus Wunden am Kopf. Er fixierte sie mehrere Sekunden lang und kam dann schwankend auf sie zu.
Ron und Tanja überlegten fieberhaft was zu tun sein. Weglaufen konnten sie nicht, weil ihre Beine im Stand schon fast nachgaben. Wegfahren war Unmöglich, weil dieses Scheusal direkt vor dem Auto stand. Die Rettung rufen wäre wohl am sinnvollsten, fiel Ron ein, und er kramte nach seinem Handy in den Hosentaschen. Der Clemens – Zombie, so sah er jedenfalls aus, blieb vor ihnen stehen, öffnete seinen Mund wobei in dünner Film aus Blut an seinem Kinn herunter lief und krächzte: „ Sei mir nicht böse, aber du bist ja das totale Arschloch, Tanja. Einer von euch beiden hätte mir ja entgegenkommen können. Ich bin sicher dreißig Meter weit weg von hier gelandete und hätte auch das Auto nicht gefunden, wenn die Lichter nicht zu sehen gewesen wären. Ihr seid solche Egoisten. Und dann komme ich hierher und ihr knutscht herum. Und dann wollt ihr morgen auch noch erzählen, dass ich bei der mim Rock war. Dann brauch ich bei der mim Handy gar nicht anrufen, weil die denkt dann eh, dass ich nur vögeln will. Kann ich jetzt bitte heim?“
Sekunden kamen und gingen, und weder Ron noch Tanja konnten sich bewegen. Sie standen nur vor dem Clemens Zombie, unfähig irgendwas zu tun. Unfähig irgendwas zu denken und unfähig irgendwas zu sagen. Schließlich räusperte sich Tanja und sagte: „Ich fahr jetzt mit euch beiden zurück. Dann will ich dass ihr aussteigt und ich will keinen von euch beiden wieder sehen. Clemens, du bist so ein Idiot, ich hätt nicht gedacht, dass du dich echt überfahren lässt. Und Ron, du nimmst ihn immer mit, das ist dein Freund und ich hab überhaupt keinen Platz in deinem Leben. Die Beziehung macht keine Fortschritte. Wir kommen so was von überhaupt nirgends hin.“
Tränen liefen Tanjas Wangen herunter als sie in das Auto stiegen.
Und hätte es in dieser Situation einen Beobachter gegeben, hätte der sehen können, wir die Rücklichter des C3 in der Dunkelheit verschwanden.
steigerm ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.07.2011, 18:26   #2
weiblich FeelLetter
 
Dabei seit: 08/2010
Ort: zwischen Grashalm und Teer
Beiträge: 278


Ganz ehrlich:
Ich hab bis zum letzten Satz versucht, die Nüchternheit der beiden Freunde, nachdem C. überfahren worden ist, zu verstehen. Was mir nicht gelang.

Aber: Ich hätte fast den Titel überlesen und muss nun sagen - nachdem ich ihn doch noch rechtzeitig entdeckt habe - er passt.

Auch wenn ich persönlich nicht so viel mit der Wendung in der anfangs sehr realitätsnahen Beschreibung anfangen kann, hat der plötzliche Fokuswechsel auf das Pärchen, obwohl da wohl ein Toter auf der Straße liegt, für Schrecken gesorgt. Und das ist eigentlich auch eine gute Art und Weise, den Moment eindringlich zu gestalten.

Mit dem restlichen Text geht zwar die Identifikation verloren, ist aber wohl beabsichtigt. Und wie gesagt - der Titel passt.

Gut gelungen ist mit dem Stil dann eben auch der Fokuswechsel und somit die Betonung des Wortes "egoistisch".

Gern gelesen und darüber nach gedacht. Meistens wenigstens
FeelLetter ist offline   Mit Zitat antworten
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