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Alt 28.06.2010, 18:27   #1
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Standard Wiedersehen

Ich weiß nicht, warum die Krokusstraße so schlecht beleuchtet ist. Ich habe mich das schon so oft gefragt, eigentlich seit Jahren schon. Ich laufe diese Straße seit fünf Jahren etwa zweimal die Woche nachts entlang, um zu meiner Bushaltestelle zu kommen. Ein mulmiges Gefühl ist immer dabei. Als ob ein paar Straßenlaternen irgendetwas an dem trostlosen Betonbild ändern würden, auf das man hier so großen Wert zu legen scheint. Ich könnte natürlich das Auto nehmen und die Straße selbst auszuleuchten. Es gibt keinen Grund, warum ich es nicht tue. Was es gibt, ist ein Muster. Ich lasse das Auto stehen und nehme den Bus, wann immer ich weiß, dass es spät wird.
Sobald ich in die Hammerstraße einbiege, ist es, als ob man aus einer schummrigen Gasse in eine gut befahrene Innenstadtstraße einbiegt. Dabei liegt sie ebenso im Industriegebiet. Viel gibt es hier nicht zu sehen. Eine Hand voll großer Firmen, eine Alternativdiskothek, die mir vor zehn Jahren gefallen hätte und ein verlorener Schmuddelkiosk, der sein Geschäft wohl vor allem mit seinen Würstchen macht und bei dem man sich gerade deshalb fragt, wie er sich überhaupt halten kann. Bockmist, Bockbier und Bockwurst also, sonst nichts.
Als ich heute das Tor hinter mir abschloss und mich auf den üblichen Weg die Krokusstraße entlang machte, sah ich überraschenderweise vor mir eine Gestalt auf dem Bürgersteig. Sie war vielleicht 300m vor mir, ging sehr langsam, fast unsicher und hatte ihren Blick stur auf die Straße geheftet. Ohne Anstrengung holte ich auf und erkannte bald ein Mädchen von vielleicht 17 Jahren, das mit zerzausten Haaren und ohne Schuhe unterwegs war. In der einen Hand trug sie ihre Keilsandalen, von der anderen ringelten sich blaue Wölkchen in die Luft. Sie rauchte nicht, die Zigarette glühte zwischen ihren Fingern vor sich hin. Ich konnte nicht fassen, was ich da sah. Hier, im diffusen Licht einer schlecht ausgeleuchteten Industriestraße, 600km entfernt von jedem Gefühl von zu Hause, hier, auf dem trostlosesten aller Heimwege - sah ich mich selbst wieder.
Ihr Blick war auf den Bürgersteig gerichtet, um die vielen Schottersteinchen zu umgehen, die ihr in die Füße schnitten. Davon behielt man feine weiße Linien unter den Fußsohlen. Sie hatte die ganze Nacht auf diesen Schuhen getanzt, war unermüdlich herum gesprungen, hatte sich gegen die Musik an heiser gebrüllt und zahllose alte und neue Bekannte umarmt und mit ihnen die ganze Welt. Erst auf dem Heimweg hatte sie gemerkt, dass sie keinen Schritt mehr auf diesen Schuhen würde laufen können. Jetzt war es ihr egal, dass ihre Füße schwarz wurden, egal auch, dass sie ohne Schuhe um so Vieles kleiner war. Nicht ganz egal, dass sie falsch abgebogen war, weil sie so angestrengt auf den Asphalt zu ihren Füßen geachtet hatte. Aber nun, die Hammerstraße blieb in Sicht, kein Problem also. Und der Pfeifton im Ohr würde morgen früh auch verschwunden sein.
Es ist so verrückt, wie wenig einzigartig wir doch sind. Die Jeanspassform mag sich geändert haben. Ich wäre niemals mit einer Röhrenjeans, die unten schmal zuläuft, aus dem Haus gegangen. Aber am Ende war ich es doch. Die blonden Locken, der unsichere Schritt, der Wunsch ins Bett zu kommen und die letzte Zigarette der zweiten Schachtel, die ja längst nicht mehr schmeckt, aber noch aus Prinzip angezündet werden muss.
Als ich knapp hinter ihr lief, drehte sie sich zu mir um, entschied, dass auch ich egal war und ging einen wohlüberlegten Schritt zur Seite, um mich vorbei zu lassen.
Während ich sie zügig überholte, musterte ich meine Füße heute. Sie steckten in flachen Ledersandalen, bequem, praktisch, teuer und unauffällig. Ich war ein Gegenteil meiner selbst geworden. Nur ein paar weiße Linien waren geblieben und natürlich der Tinitus, der auch weiterhin fröhlich von vergangenen Tagen pfeifen würde. Und doch war es tröstlich zu wissen, dass ich nur wenige Schritte hinter mir noch meinen Weg nach Hause finden würde. Steinchen, aber nicht die Zukunft fürchtend, die ohnehin schneller unterwegs war als ich, um den Bus noch zu erreichen, den ich verpassen würde.
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Alt 30.06.2010, 00:00   #2
weiblich sturmmöwe
 
Benutzerbild von sturmmöwe
 
Dabei seit: 05/2010
Alter: 34
Beiträge: 110


Hallo Aquaria

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut! Ich kann mich gut damit identifizieren, auch wenn ich wohl eher das junge Mädchen bin statt das LI. Aber darum gehts ja nicht, sondern darum dass die Menschen - wie du ja an einer Stelle schreibst- wenig einzigartig sind. An dieser Aussage ist viel Wahres. Wir werden älter, verändern uns, aber die Welt und ihre Menschen ändern sich nicht. Überall auf der Strasse können wir uns selbst, bzw unseren früheren Ichs begegnen.
Der Schluss gefällt mir auch sehr gut. Leicht Melancholie, die aber vom Satz "Steinchen, aber nicht die Zukunft fürchtend" wieder etwas genommen wird.
Gerne gelesen!

lg
Sturmmöwe
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Alt 30.06.2010, 16:20   #3
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Oh, danke, das freut mich sehr, dass sie dir gefällt!
Was mich betrifft, ich stecke irgendwo zwischen dem Mädchen und dem LI, vielleicht deshalb eine Geschichte, die beide irgendwie vereint...
Den Schluss hast du schön zusammengefasst. Ich hatte ein bisschen die Befürchtung, dass er zu wirr ist, weil das Mädchen und das LI plötzlich beide "ich" sind und die Perspektiven zusammenfließen.

Vielen Dank für dein Interesse!

Aquaria
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Alt 03.07.2010, 11:37   #4
weiblich sturmmöwe
 
Benutzerbild von sturmmöwe
 
Dabei seit: 05/2010
Alter: 34
Beiträge: 110


Den letzten Teil fand ich anfangs tatsächlich etwas verwirrend, wegen den zwei Ichs, die plötzlich vereint sind. Aber wenn man ihn genau liest, versteht man ihn auch. Und irgendwie passt er so, wenn man ihn anders (klarer) schreiben würde, wärs nicht mehr dasselbe.

lg
Sturmmöwe
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Alt 04.07.2010, 15:48   #5
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
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Beiträge: 521


Jetzt bleibt er auf jeden Fall so

Einen lieben Gruß an die aufmerksame Leserin zurück!

Aquaria
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.07.2010, 14:14   #6
Wackelpudding
 
Benutzerbild von Wackelpudding
 
Dabei seit: 03/2010
Beiträge: 158


Grüße!

Deinen Text begreift man recht schnell, er zeigt am anfang eine recht triste Umgebung, da hättest du mich als Leser fast verloren. Dann kamm der Teil mit der Gestallt die 300 Meter entfernt ging. Meine Aufmerksamkeit stieg an und schließlich hast du etwas geschaffen, das ich nicht erwartet hätte. Ich dachte ehrlich nicht, dass das LI sein past LI trifft, es waren ehr 30 andere Gedanken in meinem Kopf.

Von der Aussage her finde ich das ganze sehr gelungen, die Darstellung der Veränderung des eigenen Ichs. Wie dem LI sehr deutlich klar wird, wie stark es sich von dem einstigen Selbst entfernt hat.

Die Einleitung bzw. die ersten zwei Sätze habe ich in der Form noch nicht gesehen aber im Nachhinein ist es legitim und gut.

Ich habe noch eine Frage zur Formulierung, denn das lässt mich beim Lesen etwas holpern.
Zitat:
...hatte sich gegen die Musik an heiser gebrüllt und zahllose...
Da an der Stelle, denn diese Wortkonstellation ist für mich persönlich etwas sehr ungewöhnlich, so ein Satz den ich 2 mal lesen musste.



Deine Geschichte ist es wert gelesen zu werden! Danke für diesen kleinen Einblick!
Wackelpudding ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.07.2010, 16:16   #7
Aporie
 
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Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151


Was mir an dieser Geschichte am besten gefällt, ist der gekonnte Wechsel zwischen Handlung, Beschreibung und Gedanken, Was erzählt wird, geschieht ohne viel Aufheben darum zu machen - gleichsam nebenher, sprachlich unprätentiös, aber genau.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.07.2010, 11:17   #8
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
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Beiträge: 521


Hi Wackelpudding,

erst mal danke für den Einblick in das Leseerlebnis meiner Geschichte. Das ist für mich echt interessant mal durch die eigene Geschichte so mitgenommen zu werden!

Von klassischen Einleitugen halte ich bei Kurzgeschichten nicht so viel, ich beginne meistens "in medias res" und versuche später eher beiläufig zu erzählen, was man als Hintergrund wissen muss.

Bei der Formulierung hast du recht und warst noch viel zu nett. Der Satz ist einfach falsch . Ich habe es in der word-Version geändert.

Aporie,

Bullseye! Handlung, Beschreibung, Gedanken. In dieser Reihenfolge. Die Handlung ist funktionaler Auslöser für das LI zur Eigenreflexion. Am Ende wird sie sogar ganz aufgelöst, um nur noch in den Gedanken des LIs weiterzulaufen.

Herzlichen Dank für das Interesse und die Anregungen!

Aquaria
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