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Alt 05.10.2023, 16:24   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nicht umdrehen!

Louisa ging die gewohnten Straßen entlang. Der Weg war ihr derart zur Routine geworden, dass sie, wäre sie befragt worden, nicht hätte sagen können, was diese Straßen voneinander unterschied. Nie hatte sie ein besonderes Augenmerk darauf geworfen, welche Häuser dort standen, wie sie sich aneinanderreihten, welche Farben ihre Fassaden hatten, wie ihre Haustüren aussahen und wo ihre Mülltonnen standen. Louisa ging einfach nur nach Hause, versunken in Überlegungen, welchen der neu ins Kino gekommenen Filme sie sich am Sonntag anschauen würde.

Genau genommen bestand ihr Heimweg aus schmalen Straßen in einem südlich gelegenen Distrikt der Stadt, der neu und erst teilerschlossen war. Louisa war siebzehn, zu jung, um einen Führerschein zu haben und das Auto ihres Vaters fahren zu dürfen. Wenn sie nach dem Vorbereitungsunterricht für ihre Abschlussprüfung als Bürokauffrau oder von der Tanzschule nach Hause wollte, musste sie zu Fuß gehen.

An der Ecke Lortzing- und Beethovenstraße bog sie in die Schubertstraße ein. Die stählerne schwarze Katze, eine Skulptur auf dem Hof der Beethovenschule, kümmerte Louisa nicht; ebenso wenig beachtete sie den beleuchteten Informationskasten der Paul-Gerhardt-Gemeinde, in der wöchentlich die Besprechung eines aktuellen Kinofilms ausgehängt war, auf die zu lesen Louisa längst verzichtete, weil kaum ein Film die streng protestantischen Ansprüche an Kunst und Kultur zu erfüllen vermochte.

Von hier bis zur elterlichen Wohnung waren nur noch sechs bis sieben Minuten zu gehen. Louisa schaute auf ihre Armbanduhr: fast elf. Sie hatte einen Weg von einer halben Stunde hinter sich, den sie entspannt zurückgelegt hatte, denn die frühherbstliche Nacht war mild und klar, und den schwarzblauen Himmel dekorierten zahllose funkelnde Sterne.

Aber dann hörte sie hinter sich Schritte. Harte, eilige Schritte. Wie von einem schweren Menschen, der sein Ziel zu kennen schien.

Der energische Klang dieser Schritte bereitete Louisa Unbehagen. Sie ging schneller. Nicht viel, nur ein wenig, denn sie wollte keine Signale aussenden, unsicher oder gar ängstlich zu sein. Obwohl sie einen Grund dazu gehabt hätte, denn sie erinnerte sich an die besorgten Worte ihrer Großmutter, die am vergangenen Wochenende zu Besuch gekommen war. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die sich auf die Tagesschau des Fernsehens beschränkten, war Großmutter eine eifrige Zeitungsleserin und gewohnt, wie eine Brieftaube mit den aktuellen Nachrichten aus Stadt und Land ins Haus zu flattern. "Am Freitag hat wieder jemand weiter unten in der Straße, gleich hinter der Schule, eine Frau ins Gebüsch gezogen und sie vergewaltigt", hatte sie die noch semmelwarme Meldung aus dem Lokalteil verkündet. "Keiner der Anwohner will etwas davon mitbekommen haben, obwohl es erst kurz nach zehn war. Das ist seit Juni der dritte Fall in eurer Umgebung, und nie gab es Zeugen." Sie hatte einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse genommen, ehe sie mit einem vorwurfsvollen Blick auf Louisas Eltern fortfuhr. "Ihr solltet das Mädel nicht mehr im Dunkeln auf die Straße lassen. Das predige ich seit Jahren."

Wie ein Echo hallten die großmütterlichen Worte in Louisas Kopf nach. Bloß nicht zurückschauen, dachte sie, denn das könnte als Schwäche ausgelegt werden und ihren Verfolger motivieren, zur Tat zu schreiten. Sie straffte die Schultern, streckte den Hals und achtete auf einen gleichmäßigen Gang, um selbstsicher zu wirken. Den Blick hielt sie stur geradeaus gerichtet. Nur noch fünf Minuten bis Buffalo! Dass ihr in diesem Augenblick nichts Besseres einfiel als das abgewandelte Zitat aus einer Fontane-Ballade, kam ihr beinahe lächerlich vor.

Vor ihr schien die schwach beleuchtete Straße in nachtdunkles Grün zu versinken. Nie zuvor war Louisa der vielen Vorgärten mit den dichten Hecken und Büschen gewahr gewesen, wie sie typisch für Ein-, Zwei- und Dreifamilienhäuser sind. Fast überall waren die Rollos heruntergelassen, und nur bei wenigen drang Licht durch die Schlitze ihrer Profile. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Möglicherweise waren die Anwohner entweder ausgegangen, um sich in der Innenstadt mit Freunden zu treffen, oder sie genossen ihren Feierabend vor den Fernsehgeräten.

Die Schritte hinter Louisa kamen näher. Sie konnte nicht mehr verhindern, dass Angst in ihr aufstieg, widerstand aber dem Verlangen, in blinder Panik loszurennen. Doch sie ging deutlich schneller, um den Abstand zu ihrem Verfolger zu wahren. Wie nah mochte er ihr bereits gekommen sein?

Für ein paar Sekunden erwog sie, abrupt stehenzubleiben, sich umzudrehen und ihn wie eine tollwütige Katze anzufauchen, um diese Angst nicht mehr spüren zu müssen. Doch sie verwarf den Gedanken als zu riskant und eilte weiter. Jeder Schritt brachte sie dem sicheren Terrain ein Stück näher.

Sie hatte sich geirrt: Urplötzlich tauchte ihr Verfolger neben ihr auf. Er musste die letzten Meter gerannt sein, um sie einzuholen, was ihr Unterbewusstsein ignoriert hatte. Alles, was ihr in den Ohren dröhnte, war das Pochen ihres Herzens. "Louisa?" vernahm sie ihren Namen wie aus weiter Ferne.

Sie zuckte zusammen, ehe Erleichterung sie wie in ein warmer Sommerregen übergoss. Das Gesicht, in das blickte, war ihr vertraut. "Jochen, du? Was … was machst du hier?"

"Ich wohne seit einigen Wochen weiter unten in der Brinkstraße. Ich habe dich dort entdeckt, war mir aber nicht sicher, ob du es wirklich bist. Ist ja schon ein paar Jahre her, dass ich von der Schule gegangen bin. Ich wollt's aber wissen, und da bin ich dir einfach nachgelaufen." Er grinste. "Für dein zartes Figürchen hast du einen gewaltigen Schritt drauf. Ich dachte, dich krieg ich nie."

"Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, ist dir das klar? Hättest mich ja mal eher bei meinem Namen rufen können."

"Tut mir leid, das war blöd von mir." Er sah sich kurz um. "Gespenstische Gegend, fast wie auf einem Friedhof. Sag mir nicht, dass du hier wohnst."

"Was meinst du, was ich um diese Zeit hier zu suchen habe?" Louisa deutete mit der Hand die Richtung an. "Ich wohne dort vorn, auf der anderen Seite der Bundesstraße. In einem der Neubauten."

Jochen runzelte die Stirn. "Ist zwar nicht mehr weit, aber man kann ja nie wissen. Ich begleite dich bis zur Haustür, falls es dir recht ist."

Und ob es Louisa recht war! Ihr Bedarf an Spannung nach bester Hitchcock-Manier war für diesen Abend gedeckt. Außerdem: Wer hätte gedacht, dass sich Jochen vom ehemalige Klassen-Rüpel und Mädchen-Schreck im Laufe der Jahre zur ritterlichen Eskorte entwickeln würde, geschweige sich für sie stark genug interessieren könnte, um ihr hinterherzulaufen? Louisa hakte sich bei ihm ein, und gemeinsam setzten sie den Weg fort. "Sag mal, Jochen, gehst du gern ins Kino?"
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.10.2023, 09:07   #2
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Liebe Ilka-Maria,
einem Mann wie mir fällt es schwer, sich in die seelischen Qualen einer Frau bei nächtlichen Solowanderungen hinein zu versetzen. Ich kenne nur ein Land, wo Frauen sich über solche Angstzustände wundern: In Armenien geht eine Frau auch morgens um drei Uhr angstfrei nach Hause. Wie kriegen die Armenier es hin, ihre Frauen so in Sicherheit zu wiegen?
Deine Story macht mich nachdenklich.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
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