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Alt 01.09.2023, 18:34   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Lohntüte

Noch heute sehe ich meinen Vater an der Ecke Frankfurter und Kaiserstraße vom Fahrrad steigen, ein Lächeln auf den Lippen, als er meine Mutter und mich dort warten sah. Wir waren ihm entgegen gegangen, an diesem Winterabend, an dem um achtzehn Uhr der Himmel schon stockdunkel war. Die Luft war kalt, aber dennoch strömte eine vorweihnachtliche Wärme durch die Straße, ausgelöst durch bunte Adventslichter an Kabeln, die quer von Haus zu Haus gespannt waren und die Lampen trugen.

Weshalb wir gerade an dieser Ecke aufeinander trafen, ist mir bis heute unklar. Vater arbeitete als Dreher (heute würde man Betriebsmechaniker sagen) bei den MSO, den Maschinen- und Schleifmittelwerken Offenbach, die weit vor der Stadt lagen, dreimal so weit wie der Hauptbahnhof, der bereits den Urvätern der Stadt als weit draußen gelegen galt. Auf welch verschlungenen Pfaden man von den MSO zur Stadtmitte und geradewegs an die Ecke gelangte, an der sich das Universum-Kino, ein Tabakwarenladen und der Marbach, ein Radio- und Fernsehgeschäft befanden, konnte ich auf keinem Straßenplan nachzeichnen.

Jedenfalls war es just in diesem Moment, als mein Vater vom Fahrrad stieg, in seine Gesäßtasche griff und meiner Mutter stolz seinen Wochenlohn präsentieren wollte, dass das Lächeln von seinen Lippen schwand. "Ich muss die Tüte unterwegs verloren haben." Schon schwang er sich wieder auf sein Fahrrad und stob den Weg zurück, den er gekommen war.

Den Kummer im Gesicht meiner Mutter werde ich nie vergessen. Wir hatten nichts, das man als nachhaltig hätte bezeichnen können, und lebten von der Hand in den Mund. Mutter verdiente dazu, indem sie die Teller und Gläser in einer Gastwirtschaft wusch und trocknete, aber ihre Entlohnung reichte nur für Brot und Butter, nicht für die Miete oder ein paar neue Schuhe für mich, die im Wachstum war und alle paar Monate neue brauchte. Schon gar nicht für die monatliche Rate an Marbach, bei dem meine Eltern eine Fernsehtruhe auf zinsfreies "Stottern" gekauft hatten, eine Schaub-Lorenz, mit integriertem Radiogerät und Plattenspieler – ein Luxus der Nachkriegsmarke "Wir sind wieder wer".

Es war ein Wagnis, sich auf solche Käufe einzulassen, denn was auf Raten war, gehörte einem noch lange nicht. Andererseits befand sich Deutschland wirtschaftlich im Aufwind. Arbeit gab es in Fülle, so viel, dass wir für jeden Gastarbeiter aus Italien dankbar waren. Man konnte also ordentlich Geld verdienen. Aber mein Onkel, Vaters jüngerer Bruder, dachte darüber anders. Nach Klassenbewusstsein sah er in sich etwas Besseres als Fabrik- und Bauarbeiter oder gar Tellerwäscher, egal, über welche Expertise diese verfügten. Er selbst war gelernter Kaminkehrer mit Meistertitel, selbständig und berechtigt, Lehrlinge auszubilden. Seine Frau, meine Tante, war Friseuse, ebenfalls mit Meistertitel. Heute würde man über die beiden sagen: "Dinkis, double income, no kids."

Als mein Onkel die Schaub-Lorenz bei uns stehen sah, platzte es aus ihm heraus: "Gehört einem Arbeiter so etwas?!" Zwei Wochen später stand in seinem Wohnzimmer ebenfalls ein solches Kombinat aus Fernsehen, Radio und Plattenspieler, ich glaube, der Marke Grundig. Mein Vater und mein Onkel: zwei Brüder wie Hund und Katz. Wenn meine Großmutter erzählte, dass wann immer einer von beiden in einem Streit auf dem Schulhof zu unterliegen drohte, der andere ihn herausgeboxt hatte, bekam ich vor Staunen den Mund nicht zu, weil mir diese Erzählung unwahr erschien. Letztendlich spielte es keine Rolle, denn ich liebte beide, meinen Vater und meinen Onkel.

Wir waren meinem Vater, nachdem er zurückgeradelt war, nachgegangen, für wie lange, weiß ich nicht. In jenem Alter hatte ich für Zeit weder einen Begriff noch ein Maß. Ich ging an Mutters Hand, und das war das wichtigste in meiner kleinen Welt, denn darin lag alles Vertrauen, dessen ich gegenwärtig sein konnte.

Dann kam Vater zurück. Schon von weitem sah ich sein hellblondes Haar, das ihn im Lichterglanz der Beleuchtung in der Frankfurter Straße, der Einkaufsstraße von Offenbach, wie einen Engel erscheinen ließ. Einen Engel auf einem Fahrrad, dessen Lampe bei jedem Tritt in die Pedale in ein verrücketes Zittern geriet. Als er abstieg, blitzte ihm das Glück aus den Augen. "Gefunden", frohlockte er und zückte die Lohntüte aus der Brusttasche seiner Jacke.

Zusammen gingen wir die Allee der Kaiserstraße entlang. Meine Eltern spielten mit mir "Engelchen flieg" und immer, wenn meine Beine den Boden berührten, kickte ich die mürben Ahornblätter vor mich hin, deren raschelnder Zerfall mich entzückte. Bis mich meine Eltern wieder in die Höhe hoben: "Engelchen, flieg!"
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Alt 02.09.2023, 07:33   #2
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Liebe Ilka-Maria,
ein gelungenes Stück Zeitgeschichte präsentierst Du uns hier und ich (es ist bestimmt ein Zufall), selbst Sohn eines Drehers, kann gut nachvollziehen, wie nicht nur Du wie ein Englein geflogen bist, als sich die Lohntüte wieder einfand.
Lohntüte, das klingt nostalgisch und eigentlich gehört so ein Ding in das Museum für deutsche Geschichte.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 02.09.2023, 08:13   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Lohntüte, das klingt nostalgisch und eigentlich gehört so ein Ding in das Museum für deutsche Geschichte.
Guten Morgen, Heinz,

die Barauszahlung mit Lohnstreifen war noch zu meiner Lehrzeit üblich, also bis Ende der 60er Jahre und sogar noch in die 70er Jahre hinein. Rechnungen wurden nicht per Bank, sondern per Postüberweisungen beglichen, und oft waren dabei auch Wechsel im Spiel. Kennt man heute nicht mehr.

Wenn Lohnauszahlung bevorstand, ging der Chefbuchhalter meines Lehrbetriebs mit einem Leibgürtel unter seinem Hemd los, um Bargeld von der Bank zu holen, das er in der Tasche des Gürtels verstaute. Heller Wahnsinn, würde man heute sagen. Jeder im Büro wusste, was seine Mission war und hätte die Information locker weitergeben können, zumal unser Buchhalter todesmutig immer alleine, nie in Begleitung eines Mitarbeiters, mit dem Geld unterwegs war.

Wenn man das heute erzählt, erntet man verständnisloses Kopfschütteln.

LG
Ilka
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Alt 02.09.2023, 10:00   #4
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Liebe Ilka-Maria,
stimmt, die Art und Weise der Lohnauszahlung würde man heute abenteuerlich nennen. In meinem Betrieb, der Zeche "Friedrich-Heinrich" gab es einen großen Raum, die sogenannte Lohnhalle. Bei der Lohnauszahlung stellte man sich in eine Warteschlange vor einem der Schalter, nannte seine "Markennummer" - bei mir war es (seltsamer Weise erinnert man sich an solche Kleinigkeiten) die 1001, erhielt die Lohntüte, in der auf Heller und Pfennig die entsprechende Summe war. Seltsam: Einen Überfall auf die Lohnhalle oder den Geldboten hat es nie gegeben. Damit die Kumpel (Bergleute) ihre Barschaft nicht gleich in Hochprozentiges investieren konnten, gab es in einem Umkreis von paar Kilometern keine Kneipe und in der Kantine wurden keine alkoholischen Getränke ausgegeben. In den späten sechziger Jahren (gegen den erfolglosen Protest der Belegschaft) ging man von der wöchentlichen Zahlung zur monatlichen über und noch ein bisschen später auf die bargeldlose Überweisung auf ein Konto des Arbeitnehmers (kaum einer verfügte über ein Konto, musste sich aber eines einrichten).
Verrückte Zeiten, aber so war es halt.
Liebe Grüße,
Heinz
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