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Alt 19.08.2023, 14:29   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die grüne Schlange

"Kind, du hast Fieber. Achtunddreißigfünf." Andrea legte das Thermometer auf den Nachttisch. Sie strich Karla eine Haarsträhne von der Wange, die der Schweiß dort festgeklebt hatte. "Noch kein Grund, sich Sorgen zu machen. Schlaf jetzt. Wenn es morgen früh nicht besser ist, rufe ich Dr. Grimm an, damit er nach dir sieht."

"Muss ich dann nicht in die Schule?"

"Natürlich nicht, Liebes. Das einzige, was du musst, ist gesund werden." Andrea gab Karla einen Kuss auf die heiße Stirn. "Gute Nacht."

Kaum hatte ihre Mutter die die Deckenleuchte ausgeknipst und die Tür bis auf einen Spalt herangezogen, so dass noch ein schmaler Streifen Licht ins Zimmer fiel, drehte sich Karla auf die Seite und zog die Bettdecke bis unter das Kinn. Mit einem seligen Lächeln sah sie Barbie an, die auf der Seitenablage des Bettes an der Wand lehnte. "Hast du das gehört, Barbie?", flüsterte sie, "ich muss morgen nicht in die Schule." Im Halbdunkel schien das Gesicht der Puppe eine skeptische Miene anzunehmen, als wolle sie sagen: "Was soll daran gut sein, wenn du dafür krank bist? Und außerdem ist das noch gar nicht sicher. Vielleicht ist morgen wieder alles gut." Karla gähnte. "Ich will nicht, dass es wieder gut wird. In der Schule ist alles viel schlimmer." Dieses Mal blieb Barbies Gesicht ausdruckslos.

Wenige Sekunden später war Karla eingeschlafen und tauchte in einen Traum. Oder war sie schon wieder wach geworden, jedoch in einer anderen Welt? In einer Welt, die märchenhaft schön war, in der aber dennoch Raum und Zeit zu existieren schienen. Karla befand sich in einem Garten mit hohen Gräsern, üppigen Sträuchern und leuchtenden Blüten, manche schneeweiß, andere goldgelb, dann wieder welche in Blau und andere in Blutrot. Die Halme beugten und hoben sich im sanften Wind wie die Wellen einer friedlichen See, und am Himmel, zartblau wie Vergissmeinnichtblüten, zogen weiße Wolken entlang.

Karla hatte keinen Zweifel: Dies konnte kein Trugbild, sondern musste Wirklichkeit sein. Doch als sie an den weißen Blüten riechen wollte, erlebte sie eine Überraschung, denn augenblicklich stob eine Schar Kohlweißlinge auseinander. Die goldgelben Blüten flatterten als Zitronenfalter auf, die blauen als Morphofalter und die roten als Tagpfauenaugen. Was Karla für Blumen gehalten hatte, waren Trauben von Schmetterlingen gewesen, die jetzt durch die Luft tanzten, als seien sie von einem Zauber erlöst worden.

Vor Entzücken über diesen Anblick klatschte sie in die Hände. Was für ein herrliches Flügelspiel! Sie versuchte, den Reigen der Insekten nachzuahmen und tanzte mal rechts, mal links herum, bis ihr schwindelig wurde. Während sie ausruhte, keimte in ihr die Frage, wo die echten Blumen zu finden seien. Denn wo es Schmetterlinge gab, mussten auch Blüten sein, die ihnen Nektar feilboten.

Also ging sie weiter, um danach zu suchen. Am Ende des Gartens kam sie zu einem Apfelbaum, an dem rotbackige Früchte hingen. Bei ihrem Anblick verspürte Karla Hunger und ein starkes Verlangen, einen der Äpfel zu pflücken. Doch als sie die Hand nach dem niedrigsten Ast ausstrecken wollte, ließ sich eine grüne Schlange vom ihm herunterbaumeln, die unter der Tarnung seiner Blätter verharrt hatte. "Endlich bist du da", zischte sie Karla an. "Ich habe auf dich gewartet."

"Warum?", fragte Karla arglos. "Um dir deinen Wunsch zu erfüllen." Blitzschnell stieß die Schlange zu und senkte ihre Giftzähne in Karlas Hand, mit der sie noch immer nach dem Apfel zu greifen trachtete. "Du wolltest doch krank werden, damit du nicht in die Schule musst." Karla fühlte Hitze in sich aufsteigen. "Aber ich will nicht sterben. So hatte ich es nicht gemeint." Die Schlange wand sich wieder um ihren Ast. "Das liegt jetzt bei dir, du törichtes Mädchen."

In Panik lief Karla los, um zu der Wiese mit den Schmetterlingen zurückzukehren und den Ausgang des Gartens zu finden. Doch alles um sie herum kam ihr fremd vor, und dann wurde es plötzlich dunkel, stockdunkel. Sie fühlte keine Kraft mehr in ihren Beinen, sank zu Boden und schloss die Augen.

* * * * *

"Ihre Tochter muss ins Krankenhaus, und zwar schnell", sagte Dr. Grimm am nächsten Morgen. Er war in aller Frühe gekommen, als er von Karlas Zustand erfahren hatte. "Das Fieber ist über Nacht enorm gestiegen", hatte Andrea der Sprechstundenhilfe gesagt, kaum dass um acht Uhr die Praxis besetzt gewesen war, und binnen einer Viertelstunde saß Dr. Grimm mit seinem Instrumentenkoffer an Karlas Bett. "Ich will Sie nicht unnötig beunruhigen, Frau Rehberg, aber es gefällt mir nicht, dass Karla trotz hoher Körpertemperatur Schüttelfrost hat und sich ihre Pupillen asynchron zueinander bewegen. Da könnte mehr dahinterstecken, als ich mit Sicherheit diagnostizieren kann." Er schob Andrea eine Visitenkarte hin. "Hier ist die Telefonnummer des Rettungsdienstes. Fordern Sie einen Notarztwagen an. Ich fülle inzwischen das Einweisungsformular für die Klinik aus."

Andrea wich ihrer Tochter nicht von der Seite. Sie fuhr im Ambulanzwagen mit und hielt ihr während der Aufnahme in die Klinik die schweißnasse Hand. Karla war vom Transportbett der Sanitäter auf ein Krankenhausbett umgelagert worden. Obwohl man mehrere Decken über sie gebreitet hatte, suchte sie immer wieder Schüttelfrost heim. Sie schien zu phantasieren, was Andrea auf das hohe Fieber zurückführte. "Mama, da war eine Schlange, die konnte sprechen."

"Hab keine Angst, Liebes, das war nur eine Sinnestäuschung. So etwas kommt vor, wenn man hohes Fieber hat. Hier gibt es schon lange keine Schlangen mehr."

"Aber ich habe sie gesehen, und sie hat gesagt, dass ich nicht mehr in die Schule gehen muss."

"Natürlich nicht, solange du krank bist. Erst muss der Doktor herausfinden, was dir fehlt, damit er dich gesund machen kann."

Ein Assistenzarzt kam zur Aufnahme, um Karla und die Einweisungsunterlagen abzuholen. Er stellte sich als Dr. Buchmann vor und warf einen Blick in die Papiere. "Die Untersuchung kann dauern, bis wir eine klare Diagnose stellen können, Frau Rehberg. Sie gehen besser nach Hause. Sobald uns das Ergebnis vorliegt, rufen wir Sie an."

Es widerstrebte Andrea, Karla aus ihrer Obhut zu entlassen, aber sie gehorchte der Vernunft und verließ die Klinik. Zu Hause angekommen, traute sie sich nicht mehr aus der Wohnung, besorgt, den Anruf des Arztes zu verpassen. Doch entgegen der Bedenken des Assistenzarztes dauerte es nur etwas über eine Stunde, bis der Chefarzt namens Jonas sich meldete. Kurz und bündig kam er zur Sache: "Wir haben Karla auf die Station für Tropenkrankheiten verbracht, Frau Rehberg. Es ist Malaria."

Andrea rang um Fassung. Mit so etwas Exotischem hatte sie nicht gerechnet. "Malaria? Ist das sicher? Wir waren noch nie in den Tropen."

"Das ist nicht notwendig. Die Mücken, die Malaria übertragen, kommen zu uns. Diese Krankheit ist zwar selten in Deutschland, aber ein paar hundert Fälle, manchmal bis zu tausend jährlich, kommen vor."

"Und die Behandlung? Wird Karla wieder gesund?"

"Die Chancen stehen gut, denn wir können sofort mit den Maßnahmen beginnen. Je eher, desto besser. Kommen Sie morgen früh in die Klinik, dann kann ich Ihnen die Einzelheiten erklären."

Andrea wollte Dr. Jonas danken, denn sie hielt das Gespräch für beendet. Doch er zögerte. "Da wäre noch etwas, Frau Rehberg." Sie fragte nicht nach dem Was, denn ihr Bedarf an Sorgen war gedeckt. Nach einem kurzen Räuspern fuhr Dr. Jonas fort: "Karla scheint zu halluzinieren, was bei Malaria nicht ungewöhnlich ist. Doch hinter dem, was sie erzählt, scheint sich mehr als … sagen wir: Spinnerei … zu verbergen. Sie erwähnt wiederholt eine sprechende Schlange, die sie gebissen habe, und dass sie ihr dankbar sei, davon krank geworden zu sein und nicht mehr in die Schule zu müssen. Dort seien sogenannte 'andere' immer sehr gemein zu ihr."

"Von der Schlange hat sie mir auch erzählt, Herr Doktor, ebenso dass sie nicht zur Schule gehen mag. Aber sie hat nie etwas von Gemeinheiten erzählt. Ich hielt ihre Unlust auf die Schule für eine Laune."

"Es kann sein, Frau Rehberg, dass es sich nur um vorübergehende Halluzinationen handelt. Doch ich bin stutzig geworden, weil es immer die gleichen Bilder sind, die in Karlas Kopf spuken. Mein Gefühl sagt mir, dass in der Schule etwas schief zu laufen scheint. Es bleibt natürlich ihre Entscheidung, der Sache nachzugehen."

"Danke, Herr Doktor."

"Keine Ursache. Wir sehen uns morgen."

Andrea stellte das Telefon auf die Station zurück und atmete durch. Als ob die eine Baustelle nicht schon genug auf ihr lastete, tat sich jetzt noch eine zweite auf. Aber zu hadern half nicht weiter: Sie brauchte einen Termin für ein Gespräch mit Karlas Klassenlehrer. Ihre Armbanduhr stand auf halbzwölf, es war also noch Zeit genug bis zur Mittagspause, um das Schulsekretariat anzurufen. Kurzentschlossen startete sie ihren Laptop, suchte sich im Internet die Nummer heraus und tippte sie ins Telefon.
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Alt 21.08.2023, 14:18   #2
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... wunderbar um diese "Schulunlust" herum geschrieben. Somit kann der Leser in seiner Phantasie weiter spinnen ...
oder auf eine Fortsetzung warten, die nicht kommen wird.

beaux rêves
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Alt 21.08.2023, 14:20   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
oder auf eine Fortsetzung warten, die nicht kommen wird.
Schreib du sie!
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.08.2023, 14:32   #4
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... oh, lieber nicht, zu obskur.
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