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Alt 08.08.2023, 19:44   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die Tiefe

Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich mich gefragt, weshalb ich einen Respekt vor Tiefe hatte, der ans Absurde grenzte. In West-Berlin schaffte ich es mit dem Aufzug des Funkturms nur bis zur ersten Plattform, höher hinauf hätte mich eine Überwindung gekostet, der mein Herzschlag nicht gewachsen gewesen wäre. Im Grand Canyon hielt ich mich trotz eines breiten Pfades, auf dem zwei Personen ungefährdet hätten nebeneinander gehen können, eng an der Bergwand, nicht fähig, zum Rand des Abgrunds zu schauen. Wenn ich Menschen sah, die auf transparenten Aussichtsplanken standen und in die Abgründe unter ihren Füßen schauten, wurde mir schlecht. Die Eingangssequenz des Kinofilms "Cliffhanger", in der eine junge Bergsteigerin zu Tode stürzt, bereitete mir jahrelang Albträume. Und in dem Hochhaus, in dem ich arbeitete, ging ich lieber die acht Etagen zu meinem Büro die Treppenstufen hinauf, als den Aufzug zu betreten, der nur aus Glaswänden und Glasschiebetüren bestand und das Gefühl vermittelte, sich im freien Fall zu befinden.

"Komisch, dass dir das Reisen im Flugzeug aber nichts auszumachen scheint". Wann immer ich diesen Einwand hörte, der mir zu unterstellen schien, dass ich Selbstinszenierung betriebe, musste ich zugeben: "Das wundert mich auch. Vielleicht suggeriert mir die Geschlossenheit des Passagierraums Sicherheit und schränkt meine Phantasie ein. Und natürlich sitze ich immer am Gang, nicht am Fenster. So vermeide ich den Blick in die Tiefe. Mir genügen die Wolken, die wie Wattebällchen am Fenster vorbeifliegen und von einer zwar weichen, aber doch tragenden Substanz zu sein scheinen."

Das änderte sich mit dem Anschlag von 9/11 auf das World Trade Center in New York. Da ging die Phantasie vollends mit mir durch. Es dauerte ein volles Jahr, bis ich mich überwand, wieder in ein Flugzeug zu steigen, und auch dann nur für einen Flug von etwa einer Stunde: Frankfurt – Rom. Gerade noch auszuhalten. Meiner Freundin überließ ich den Platz am Fenster.

Es war meine letzte Reise in einem Flugzeug.

Als meine Mutter zur Greisin wurde, sich erste Anzeichen von Demenz einstellten und sie immer mehr in die Vergangenheit abdriftete, erzählte sie mir zu meiner Überraschung von einem Erlebnis, das sie bis dahin vor mir verborgen hatte:

"Ich war mit dir schwanger, und wie du weißt, war ich damals oft bei deiner Oma und habe ihr im Haushalt geholfen, weil sie tagsüber als Putzfrau so hart arbeiten musste. Ich war dabei, das Geschirr abzutrocknen, das ich zuvor gespült hatte, und sah dabei aus dem Küchenfenster. Auf dem Wohnhaus gegenüber beging ein Mann das Dach, offenbar, um es auf Schäden zu prüfen. Als er zu nah an den Rand trat, legte er zu viel Gewicht auf ein Holzbrett, das nicht befestigt war, was er aber nicht erkannt hatte. Die Bohle kippte und warf ihn über den Rand. Er stürzte vier Stockwerke tief."

Mutter hielt kurz inne, als habe es ihr wie damals den Atem verschlagen. Ich sagte nichts, um ihre Erinnerung nicht zu durchbrechen, um sie im Damals zu lassen, anstatt sie in die Gegenwart zurückzuholen, denn ich fühlte: Da war noch etwas.

"Ich sah ihn fallen, mit Armen, die in der Luft ruderten und nach einem Halt suchten. Obwohl er wusste, dass ihn nichts halten konnte. Sonst hätte er nicht geschrien. Sein Todesschrei gellt mir noch heute in den Ohren. Er hat mich nie verlassen. Genauso wenig wie die Detonation seines Aufschlags auf dem harten Boden. Wie eine Bombe."

Sie machte nochmal eine Pause. Dann lächelte sie. "Damals hätte ich dich fast verloren, so tief saß der Schock. Aber dann kam Oma rechtzeitig von der Arbeit, ließ sich alles von mir erzählen und tröstete mich. 'Denk an dein Kind', sagte sie zu mir, 'das alleine zählt. Dort draußen sterben ständig Menschen. Aber du bist jetzt dabei, Leben zu schenken.' Oma. Sie hatte recht. Sie hat mich beruhigt. Sie hat dich und mich gerettet."

Mutter erzählte diese Geschichte fast tonlos, als hätte sie sich damit abgefunden, mit ihrer schrecklichen Beobachtung alt werden zu müssen. Aber in mir wirbelten die Emotionen.

War das Erlebnis meiner Mutter, einen Menschen vom Dach eines vierstöckigen Hauses stürzen zu sehen, der Schlüssel zu meiner Angst vor der Tiefe? Hatte sich ihr Schock auf mich in ihren Mutterleib übertragen? Ich spielte mit diesem Gedanken und versuchte, neben etwas Mythischem auch Wissenschaftliches hineinzulegen. Jedes Erklärungsmuster war willkommen, das von der Erkenntnis wegführte, sich eine neurotische oder gar phobische Störung eingestehen zu müssen.

Aber die Wissenschaft um Lebenserfahrungen, die genetisch übertragbar sein könnten, steckte noch lange in den Kinderschuhen. Selbsternannte Adepten widersprachen sich oder versuchten, wo sie nicht widersprechen konnten, Argumente für Wahrscheinlichkeiten zu entkräften.

Doch mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. In empirischen Versuchen mit Nagern kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass sich durch Angst und Schock antrainierte Verhaltensweisen auf die Nachkommen übertragen. Bekommt zum Beispiel eine Maus oder Ratte durch schmerzhafte Stromstöße ein gewünschtes, aber gegen ihre Natur gerichtetes Verhalten beigebracht, verhalten sich ihre Nachkommen auch ohne diese Stromstöße genauso. Sie sind genetisch konditioniert.

Ich habe Respekt vor Höhe. Bis zu der Absurdität, mich lieber acht Etagen zu Fuß die Stufen hoch zu quälen, als einen gläsernen Aufzug zu nehmen, der mich wie in einem Aquarium in eine Gefangenschaft hebt und fallen lässt und mich den Verlust meiner Selbstkontrolle mit dem Blick in die Tiefe der Hölle und dem Blick in die Höhe des Himmels bis in das Herzstück meines Seins spüren lässt.

Füße brauchen Boden, festen Boden. Hätte die Evolution es mit dem Menschen anders gemeint, hätte sie ihm Flügel wachsen lassen.

Obwohl auch Vögel zu Tode stürzen.

Der Tod holt jeden, egal, ob in oder außerhalb seines Elements. Wer keine Angst hat, wird Fallschirmspringer oder Tiefseetaucher. Fremde Welten schrecken ihn nicht, sie machen ihn neugierig und wagemutig. Wissen, wissen, wissen …

Dabei wissen wir nicht einmal genug über den Boden, der unsere Füße trägt. Diese Füße, die uns nackt rund um den Erdball tragen können, aber nackt weder auf dem Mond noch in einem Virenlabor oder an einem Tatort bestehen können.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2023, 21:38   #2
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
die Story hast Du sehr glaubwürdig zu Papier gebracht und ich weiß nicht, ob meine Mutter ähnliche Absturzerlebnisse hatte, denn was das Zurückschrecken bzw. Vermeiden vor oder von großen Höhen angeht, bin ich ähnlich gestrickt wie Du. Ich erinnere mich, dass ich in einem mehrstöckigen Haus auf zwei Balken (mit dem linken Fuß auf dem ersten, dem rechten auf dem zweiten Balken) stand und ich glaubte, auf den Balken festgeschweißt zu sein und keiner Bewegung fähig war. Unter mir gähnten in dem unfertigen Neubau vielleicht fünfzehn oder zwanzig Meter und "befreit" aus meiner Starre wurde ich erst, als meine Tochter mir ein Seil zuwarf.
Komischerweise habe ich keinerlei Ängste in einem Hubschrauber oder Flugzeug. Vielleicht ist der Mangel an Höhenvergleichsmöglichkeiten der Grund für dieses Verhalten. (Auf den Balken stehend sah und wusste ich: Bis zur rettenden Plattform waren es drei Meter - eine greifbare, dem Gehirn fassbare Entfernung. Im Flieger sind es fünftausend oder mehr Meter - Luft, und für dieses Medium war mein Hirn nicht konditioniert.
Du hast Deine Gefühle (ich nehme in diesem Fall an, dass es nicht welche eines LI, sondern tatsächlich erlebte sind) in einer spannenden, zum Mit- und Nachfühlen geeigneten Weise geschildert. Super gemacht!
Liebe Grüße von einem, der auch lieber festen Boden unter den Füßen hat,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.08.2023, 09:06   #3
weiblich Ilka-Maria
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Lieber Heinz,

es ist noch nicht lange her, dass meine Mutter mir von ihrem Erlebnis erzählt hat. Ich weiß nicht, weshalb sie ein so einschneidendes Ereignis bis ins hohe Alter für sich behielt. Auch meine Oma und mein Vater, die davon wussten, hatten nie etwas darüber gesagt.

Vielleicht ist meine übermäßige Furcht vor Höhe tatsächlich auf diesen Schock, den meine Mutter damals erlitt, zurückzuführen. Vielleicht lege ich aber auch zuviel an Erklärung in die Geschichte hinein. Der Mensch ist nun mal nicht für Höhe gemacht, das haben Versuche gezeigt, in denen die Testpersonen vertikale Abmessungen meistens zu hoch bzw. zu tief, horizontale Entfernungen hingegen zu gering schätzten. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Deshalb schauderte es mich, als mein Sohn sich bei mir zu Hause ohne Sicherung auf die Balkonbrüstung stellte, um ein Katzennetz zu befestigen - die Gene seines Vaters, der sich früher bei seinen Eltern im dritten Stock (Altbau mit hohen Decken!) außen am Balkon mit einer Hand festhielt und mit der anderen Hand die Regenrinne säuberte.

Ein krasses Beispiel für Kaltblütigkeit ist der Seilakrobat Phlippe Petit. Legendär ist sein Auftritt Anfang der 70er Jahre auf dem Seilkonstrukt zwischen den WTC-Türmen in New York, wo er in 400 Metern Höhe etwa zwanzig Minuten lang nicht nur hin- und herbalancierte und dem Zugriff der Cops entwischte (der Auftritt war nicht genehmigt), sondern sich auch mit dem Rücken auf das Seil legte - ohne jegliche Sicherung. Ich hätte damals nicht unter den Zuschauern sein wollen. Nicht einmal die Verfilmung "The Walk" konnte ich mir anschauen, lediglich die Doku, weil darin nur Standphotos von Petit vorkommen. Sein Kommentar auf die Frage, ob er denn niemals Furcht habe, abzustürzen: "Was kann schöner sein, als in der Ausübung seiner Leidenschaft zu sterben." Plus de questions!
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.08.2023, 10:27   #4
männlich dunkler Traum
 
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... interessante Ausführung zu diesem Thema, Angstvererbung. Naja, bei Menschen weiß man bisher kaum etwas darüber, aber wenn es Raupen - Schmetterlingen und Mäusen funktioniert, vielleicht auch bei uns.
Als Kind kletterte ich noch auf dem Fensterbrett im 4. Obergeschoss herum (die abgeschlossene Küche war nur so zu erreichen), als Heranwachsender die Wand bis ins 6te (Mädchen besuchen), heute schaudert mir schon bei 3 Metern Höhe, obwohl ich schon aus 300-1200 Meter sprang (natürlich mit Fallschirm).

beaux rêves
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