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Alt 24.08.2023, 21:43   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Graziella - Erster Teil

Es war einmal ein König, dessen Gemahlin kurz nach der Geburt eines Mädchens, das sie Graziella nannte, im Kindbett starb. Ein Jahr später nahm sich der König wieder eine Frau. Doch schon bald erwies sich die neue Königin als machtgierig und eigensüchtig. Nachdem sie selbst ein Kind geboren hatte, begann sie, Graziella zu vernachlässigen, und je älter und anmutiger das Mädchen wurde, umso stärker ließ die Königin ihren Hass an ihm aus.

Der König sah es mit Kummer. "Was soll ich tun?", fragte er seinen Oheim, der sein engster Vertrauter und Ratgeber war. "Graziella ist im Schloss nicht mehr sicher. Die Königin fordert, dass ich die Zweitgeborene zur Thronerbin erkläre, und dieses elende Weib ist kaltherzig genug, Graziella nach dem Leben zu trachten, wenn ich mich widersetze. Du glaubst nicht, wie sehr ich bereue, sie ins Schloss geholt zu haben."

"Gib Graziella in die Obhut von jemandem, der sie in deinem Sinne erzieht und auf das hohe Amt vorbereitet, das sie erwartet, wenn du eines Tages nicht mehr König sein wirst."

Während der König die Worte wägte, fuhr sein Oheim fort. "Draußen im Wald haust eine Alte völlig allein. Sie heißt Punzella. Die Leute im Dorf sagen, sie sei einst hübsch gewesen, aber weil ihre Eltern arm waren, habe sie nie einen Mann gefunden. Sie habe sich immer eine Familie gewünscht. Mit vielen Kindern."

"Ich weiß von Punzella. Und du meinst …"

"Man könnte es versuchen."

"Sie sagen, diese Alte sei eine Hexe. Sie habe etwas Unheimliches, reite auf einem Besen durch die Lüfte und stieße dabei ein Gelächter aus, dass den Bäumen vor Schreck die Rinde abfalle und sich die Blätter von den Ästen lösten."

"Der übliche Aberglaube des einfachen Volkes, königlicher Sohn meines seligen Bruders. Es gibt keine Besen, die fliegen können, und ich habe noch nie einen Baum gesehen, dem ein Mensch mit purem Lachen die Rinde hätte lösen können. Vertrau mir. Gib Graziella in die Obhut dieser Frau. Sie wird es gut bei ihr haben."

Der König sandte einen Boten zu Punzella. Sie war dabei, Feldsalat in ihrem Garten zu ernten, als sie den königlichen Tross nahen sah. Am Gartenzaun angekommen, befahl der Bote seiner Eskorte, anzuhalten und rief hinüber: "Ich suche eine Frau mit Namen Punzella. Weißt du, wo ich sie finden kann?"

Punzella nahm ihren mit Feldsalat gefüllten Korb und trat aus der Gartentür. "Was wollt ihr von ihr?"

"Ich habe eine Nachricht des Königs zu überbringen."

"Des Königs? Nun, ich bin es, die ihr sucht."

"Du bist alt. Wie kannst du noch die harte Feldarbeit verrichten, die schon jungen Bäuerinnen den Rücken krümmt?"

Punzella lächelte. "In mir steckt noch viel Kraft."

"Genügend Kraft, dich eines Kindes anzunehmen und es großzuziehen?"

Die Augen der Alten leuchteten auf. "Ein Kind?"

"Eine Prinzessin", erwiderte der Bote, verlas Punzella das Anliegen des Königs und welchen Lohn er für sie vorgesehen hatte. Außerdem wolle er neben ihrer Hütte einen Turm zur Sicherheit der Prinzessin errichten lassen. "Ein fester Turm würde mir wohl gefallen", gab Punzella zurück, "mit Gold und Geschmeide kann ich hingegen nichts anfangen. Aber ein Brunnen und ein Teil des Wildbrets, das die Jäger des Königs im Bannwald erlegen, wäre mir recht."

So kam Graziella in die Obhut Punzellas, die dem Mädchen ihre volle Liebe und Fürsorge schenkte. Sie lebte mit ihm in einem festen Turm, besaß einen Brunnen, so dass sie das Wasser nicht mehr vom Bach herbeischleppen musste, und der Jagdtrupp des Königs lieferte ihr regelmäßig Wildbret, Kaninchen und Rebhühner, die sie in ihrer Hütte zu den herrlichsten Speisen verarbeitete, die sie jemals auf dem Tisch gehabt hatte.

Punzellas Dasein hätte wunderbar sein können, wäre Graziella damit ebenso zufrieden gewesen wie ihre Ziehmutter. Aber das Mädchen, an das prunkvolle Leben im Schloss gewöhnt, schien unglücklich zu sein, denn es lachte nie, interessierte sich nicht für die Schönheit der Natur, wollte Punzellas Geschichten nicht hören und lehnte es ab, sich kurzweiligen Spielen zu widmen. Vergeblich versuchte die Alte, Graziella das Lesen und Schreiben, das Kochen, das Häkeln, Sticken, Zeichnen und Malen beizubringen. Wozu und wie auch immer Punzella sie zu ermuntern suchte, stampfte sie auf und schrie: "Lass mich in Ruhe, du alte Kröte! Wenn ich groß bin, brauche ich nichts zu können, dann habe ich meine Zofen und Diener."

Je älter Graziella wurde, desto mehr schikanierte sie Punzella, als sei diese schuld an ihrem Schicksal, eine böse Stiefmutter zu haben, die ihr hätte gefährlich werden können. "Näh mir ein neues Kleid, das alte gefällt mir nicht mehr!" Sie blickte die Alte herausfordernd an, sich ihrer Macht bewusst. "Es ist nicht alt, du hast es erst seit drei Tagen", widersprach Punzella. "Ich bin die Tochter des Königs, und du machst, was ich will", beharrte Graziella. Also nähte Punzella ihr ein neues Kleid.

Ein anderes Mal weckte das Mädchen Punzella mitten in der Nacht. "Ich habe Lust auf Feldsalat. Geh raus und pflück mir welchen." Den Einwand, es sei stockdunkel, so dass man die Gartenbeete nicht vom schwarzen Himmel unterscheiden könne, ließ sie nicht gelten. "Wenn du es nicht tust, lasse ich den Jägern meines Vaters eine Nachricht überbringen, dass du mich schlecht behandelst und mir nichts zu essen gibst." Punzella fügte sich, zündete eine Kerze an, nahm ihren Weidenkorb und ging in den Garten, um Feldsalat zu pflücken.

Eines Mittags, als sie das fertige Essen von der Hütte zum Turm bringen wollte, um mit Graziella wie gewohnt zu speisen, fand sie die Eingangstür verschlossen vor. Sie rief das Mädchen beim Namen, und es erschien am Fenster. "Warum ist die Tür verschlossen?" Graziella warf ihr ein dickes Seil hinunter, dessen Ende sie in ihren Händen hielt. "Weil ich dich hier drinnen nicht mehr sehen und nicht mehr riechen will. Du bist so hässlich, dass mich dein Anblick schaudert, und du stinkst nach altem Weib. Stell mein Essen in einen Korb und binde ihn an dem Seil fest."

Punzella tat, wie ihr geheißen, schlich traurig zu ihrer Hütte zurück, setzte sich auf ihre Bank und begann zu weinen. Sie war so sehr von Kummer erfüllt, dass sie des Jünglings nicht gewahr wurde, der abseits zwischen den Büschen stand und die Szene beobachtet hatte. Auch an den folgenden Tagen, wenn Punzella den Korb mit den Speisen zum Turm brachte und Graziella ihn in die Höhe zog, bemerkte die Alte den Jüngling nicht, der sich im Gebüsch versteckt hielt, um von dort aus einen Blick auf Graziella zu erhaschen.

Mittlerweile war sie sechzehn Jahre alt und zu der gleichen Schönheit erblüht, die einst ihre Mutter war. Als Punzella eines Tages mit ihrem Korb zwischen den Bäumen verschwand, um nach Pilzen zu sammeln, wagte sich der Jüngling aus seinem Versteck und trommelte an die Pforte des Turms. Graziella schaute aus dem Fenster. "Warum machst du so einen Lärm, du Schwachkopf? Was willst du an meinem Turm?"

"Lass dein Seil herunter, damit ich zu dir hinaufklettern kann. Dann sag ich's dir."

Zum ersten Mal, seit Graziella im Wald lebte, musste sie lachen. "Du bist nicht bei Trost. Aber warte: Hier hast du ein Seil, vielleicht kannst du damit etwas anfangen!" Sie warf dem Jüngling einen kurzen Strick hinunter, der vor seinen Füßen landete. Er kickte ihn zornig zur Seite und ballte die Fäuste. "Hochmütige Schnepfe! Was glaubst du, wer du bist?"

"Ich bin eine Prinzessin."

Der Jüngling grinste spöttisch. "Natürlich. Und ich bin ein Prinz."

"Dann komm beim nächsten Mal auf einem Ross, du Dümmling. Und bring eine hohe Leiter mit, wenn du zu mir herauf willst." Mit diesen Worten verschwand Graziella vom Fenster.

Gedemütigt zog der Jüngling davon. Auf seinem Weg durch den Wald begegnete ihm Punzella, die ihn misstrauisch anhielt. "Wo kommst du her?"

"Vom Turm auf der Lichtung."

"Du warst drin?" Er schüttelte den Kopf, und Punzella atmete auf. "Gibt es Neuigkeiten im Dorf?" Er nickte. "Man sagt, der König sei krank und werde bald sterben."

Sie ließ den Jüngling weiterziehen. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten: Was mochte jetzt passieren? Graziella wäre alt genug, um den Thron zu besteigen, aber sie hätte ehrliche Berater nötig, da ihr jegliche Erfahrung im Regieren eines Reiches fehlte. Die Königin aber würde Graziella mit dem Beistand ihrer Günstlinge zu stürzen trachten, um die Macht vollends an sich zu reißen und sie auf ihre leibliche Tochter zu übertragen.

Nach ihrer Rückkehr aus dem Wald ging sie zum Turm. "Graziella, ich muss mit dir sprechen." Das Mädchen erschien am Fenster. "Dein Vater liegt im Sterben. Du bist die Thronfolgerin, und man wird dich ins Schloss holen. Aber da gibt es einige Probleme." Ohne Fragen zu stellen kam Graziella herunter und öffnete die Tür. Sie war ungezogen und undankbar, aber sie war nicht dumm und wusste, dass die alte Frau es ehrlich mit ihr meinte.

Punzellas Sorgen waren berechtigt. Zwei Tage nach ihrer Begegnung mit dem Jüngling traf eine Kutsche mit Eskorte ein, um Graziella ins Schloss zu bringen. Bei ihrem Anblick und sich eines Wendepunktes in ihrem Leben bewusst, bekam das Mädchen Angst. "Punzella muss mitkommen", forderte sie. Doch der Legat winkte ab. "Der König drängt zur Eile. Er wünscht, seine Tochter noch einmal zu sehen, bevor er aus dem Leben scheidet."

In Windeseile stob die Kutsche davon. Punzella winkte hinterher.
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.08.2023, 08:58   #2
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Standard Hallo Ilka

... ich finde der Bruch kommt zu plötzlich und kaum vorhersehbar. Ist zwar ein Märchen, doch dieses Ende wirbelt zu viele Denkfunken auf.
Märchen ohne Ende erscheinen mir einfach gemein, jetzt muss ich warten.

beaux rêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.08.2023, 09:02   #3
weiblich Ilka-Maria
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Überschrift genau lesen, dunkler Traum, dort steht: ... erster Teil.

Ich wollte erst einmal sehen, wie die Geschichte ankommt. Außerdem bin ich am überlegen, wie sie weitergeht.
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Alt 25.08.2023, 09:05   #4
männlich dunkler Traum
 
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... ich auch
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Alt 25.08.2023, 18:49   #5
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Ich erlaube mir, auf eine äußerst unrühmliche Aktion von Graziellas Stiefmutter zu tippen.
U.A. gefällt mir dann vor allem das Wort Oheim.
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