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Alt 06.07.2023, 20:26   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Kittelputtel

Brave Mädchen trugen, wenn sie alt genug geworden waren, um im Haushalt zu helfen, bunte Kittelkleider aus Baumwollstoffen. Frauen, die in amerikanischen Fernsehserien in adrettem Outfit am Küchenherd hantierten oder sich an der Spüle zu schaffen machten, ernteten den Spott deutscher Mütter, Großmütter und Tanten: "In so einem Sonntagsstaat kann man doch nicht kochen und putzen! Da versaut man sich die guten Klamotten und kommt aus dem Waschen nicht mehr raus."

Ich war zehn Jahre alt, als Mutter mir erstmals so einen durchgeknöpften Sack im Blümchenmuster überstülpte, bevor sie mir auftrug, unsere Schuhe zu putzen und anschließend den Müll runterzutragen. Jetzt unterschied ich mich von den Vetteln in Kittelkleidern, die sich beim Wäscheaufhängen im Hof zusammenrotteten und über die Nachbarschaft tratschten, nur noch durch meine geringere Körpergröße und meine zurückhaltenden Antworten, wenn sie versuchten, mich über die Familie oder die Schule auszufragen. "Genauso hochnäsig wie die Mutter", hörte ich mal eines dieser Weiber hinter meinem Rücken lästern. "Aber was kann man von so einem Flüchtlingsmensch erwarten? Die aus Pommern sind doch alle entweder halbe Polen oder halbe Russen." Woher sollten diese Schandmäuler wissen, dass ich mir nicht viel anders als sie vorkam, seit ich ein Kittelkleid tragen musste, für mich ein Symbol übelsten Hinterhausbodensatzes und nicht zu übertreffender Erniedrigung? Am Beginn meiner Teenagerjahre besaß ich nicht den Wortschatz, das Abstraktionsvermögen und die Sprachfähigkeit, zu artikulieren, dass die vermeintliche "Hochnäsigkeit" sich für mich überhaupt nicht gut anfühlte.

Mit den Jahren vollzog sich auch auf dem Sektor der Arbeitskleidung ein Modetrend. Als ich fünfzehn war, verpasste mir Mutter ein kniefreies Sackkleid im Pepita-Look mit einer aufgenähten Tasche aus dunkelgrünem Stoff und einem aufgedruckte Stickmuster: eine Rose mit Stiel und Blatt, die ich mit schwarzem Perlgarn ausstickte. Darin trug ich die nächsten zwei Jahre den Müll runter, putzte die Fenster im Treppenhaus und hängte im Trockenraum die Wäsche auf die Leine.

Damals – es war die Zeit, als Mireille Mathieu mit "Mon Credo" ein Star wurde – kamen ausgestellte Miniröcke und Blusen mit Schnabelkragen in schreienden Farbkombinationen in Mode, und man trug Schuhe mit Blockabsätzen. Anfangs lief diese neue Welle an mir vorüber, weil ich mich für Mode nicht die Spur interessierte. Es war wieder Mutter, die mich für die Außenwelt nach ihrem Gusto ausstaffierte. Als Quelle aller Quellen diente ihr der Quelle-Katalog, den Vater immer liebevoll-ironisch als "Mutters Bibel" bezeichnete. So kam ich zu einem Minirock in dunkelstem Aubergine, kombiniert mit zwei Rollis, der eine grün wie ein Granny Smith, der andere in grellem Orange. Es war der Inbegriff der Geschmacklosigkeit, die totale Mode-Finsternis – aber noch nicht die Apokalypse. Die kam in den Siebziger Jahren, als die jungen Männer fünfzehn Zentimeter breite Krawatten trugen, sich die Koteletten bis zum Adamsapfel heranzüchteten und sich wie die Mädchen Dauerwellen legen ließen, bis ihre Köpfe aussahen, als hätten sie ihre Finger in die Steckdose gebohrt.

Interessanter als die Mode war für mich das Make-up. Irgendwas kaufen konnte jeder; aber mit Pinsel und Farbtöpfen umgehen zu können war hohe Kunst. Also besorgte ich mir Lidschatten, Wimperntusche und Eyeliner und rahmte mir die Augen ein, bis ich wie ein Waschbär aussah. Als Mutter mich sah, traf sie der Schlag. "So schminken sich nur Nutten oder Hollywood-Stars! Was sollen die Leute denken! Runter damit!"

Es war einer ihrer klassischen Sprüche: "Was sollen die Leute denken …" Daran war ich gewöhnt. Was mich mehr beschäftigte, war die Fragte, was mit "Nutte" gemeint war. Ich hatte zwar eine vage Ahnung, aber da Mutter sich immer geniert hatte, mit mir über Sexualität zu sprechen, war ich mir über meinen Kenntnisstand nie hundertprozentig sicher. Und je älter ich wurde, umso mehr spürte ich die Unsicherheit meiner Mutter, auf diesem Sektor zu manövrieren. Das machte mich mutig. "Mir gefällt's aber. Dann bin ich eben eine Nutte!" Ich kassierte eine Ohrfeige und schminkte mich von da an weiter. Bezahlt war bezahlt, wenn auch nicht aus dem Portemonnaie, sondern mit Handschlag. Zum Ausleeren des Mülls zog ich aber immer noch meine rosenbestickte Kutte im Pepita-Muster an, nur dass ich jetzt nicht mehr wie ein Sklavin aussah, sondern wie eine bis an die Schläfen schwarz geschminkte Cleopatra. Und das fühlte sich gut an.

Was noch fehlte, war ein bisschen Duft. Kennt noch jemand das kleine eckige Fläschchen namens "Bambus"? Es war preiswert, enthielt aber einen dezenten, angenehmen Duft, der lange anhielt, obwohl es sich um kein reines Parfum handelte.

Mutter fand sich damit ab, dass ich meine eigenen Vorstellungen hatte, wie ich aussehen wollte. Vielleicht gewann sie mit der Zeit Sicherheit, weil ihre große Angst, ich könnte einmal geschwängert ankommen, durch Nichteintreten eingelullt wurde. Jedenfalls habe ich ihr keinen Kummer gemacht, über den die Leute sich etwas denken oder sich das Maul zerreißen konnten. Und zu meinem Neunzehnten schenkte sie mir sogar einen Schminkspiegel mit Beleuchtung.

Damals musste man bis Einundzwanzig warten, um volljährig zu werden. Als ich es war, trat ich die Flucht an.

06.07.2023
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.07.2023, 07:42   #2
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Zitat:
. Damals musste man bis Einundzwanzig warten, um volljährig zu werden. Als ich es war, trat ich die Flucht an.
Das kann ich mir vorstellen.

Eine unterhaltsame Geschichte aus früheren Zeiten.

Zum Glück musste ich nie in einem so schrecklichen Kittel herumlaufen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.07.2023, 11:12   #3
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Liebe Ilka-Maria,
das war ein hübscher Happen vor dem Frühstück!
Wie kriege ich, denke ich an Dich, diese aufgedonnerte Kleopatra aus dem Kopf?
Wir Jungs hatten es ein bisschen einfacher, aber ein Messerschnitt musste schon sein (ich glaube, der war ein bisschen teurer als der mit klappernden Scheren verpasste Rundschnitt.
Weil ich gerade bei den Frisuren bin: Es kostete Überwindung, das Kopfhaar der Mädchen zu kraulen. Aber was tut man nicht alles aus Liebe!? Die mit viel Spray zusammen gehaltenen Haartürme zu durchwühlen ohne die monumentalen Gebilde zu zerstören, wurde mit klebrigen Fingern belohnt, die sich später in geschätzten zwanzig Petticoatlagen verfingen.
Deine Story habe ich grinsend auf einen Schlag verschlungen.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 07.07.2023, 11:42   #4
weiblich Ilka-Maria
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Guten Morgen und danke für das Feedback. Hätte nicht gedacht, dass mein kleiner Rückblick ein so positives Echo auslösen könnte. Dabei waren gerade die 60er Jahre eine Zeit des Umbruchs, ohne dass es Jugendlichen wie mir bewusst war. Dazu fehlte uns der Kontakt zu den Studentenkreisen, in denen es zu brodeln begann, und da in meinem Umfeld nicht über Politik gesprochen wurde, verstand ich nicht, was in den Universitätsstädten vor sich ging und weshalb der damalige Bundeskanzler Kiesinger den Hass der Jugend auf sich zog. Als Teenager las man die BRAVO und hielt die "Pilzköpfe" namens "Beatles" für bekloppt, obwohl sie schon seit einigen Jahren Akzente für eine Protestbewegung gesetzt hatten, bevor es mit den 68ern richtig losging.

Die weniger intellektuelle Jugend aus Arbeiter- und Handwerkerkreisen, in denen ich aufgewachsen war, wurde zwischen dem Staub und der Prüderie der noch preußisch geprägten Traditionen und dem Aufbegehren der Studenten gegen den "Muff unter den Talaren von 1000 Jahren" hin- und hergebeutelt und völlig verunsichert, ausgerechnet in einem Alter, in dem man sowieso schon mit seiner pubertären Entwicklung genügend im Clinch lag. Vieles von dem, was sich damals abgespielt hatte, gewann für mich erst viel später an Klarheit.

Liebe Grüße
Ilka
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