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Alt 29.06.2023, 03:14   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Gittes Stern

Gitte wachte auf. Sie war schweißgebadet, trotz des dünnen Lakens aus Baumwolle. Die Nacht hatte kaum Abkühlung gebracht, denn das erhoffte Gewitter war ausgeblieben. Am Nachmittag hatte sie dem Vater geholfen, die Kirschen vom Baum zu pflücken, und war dafür mit einem Plastikbecken belohnt worden, in dem sie den Rest des Nachmittags planschte und mit ihren Schwimmtieren spielte. Sie war todmüde gewesen, als Mutter sie zu Bett brachte und ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn drückte.

Vielleicht war es ein Traum gewesen, der Gitte glauben machte, wach geworden zu sein. Sie sah seltsame Tiere, manche schuppig, andere behaart oder stachelig. Sie konnten sprechen, und obwohl Gitte jedes einzelne ihrer Worte verstand, wusste sie nicht, worüber sie sprachen. Oder vielmehr wisperten. Aber ihr war, als ginge es um sie. Sie beschloss, aufzustehen, und da stoben die Tiere davon.

Mutter hatte das Fenster offen gelassen in der Hoffnung, die Schwüle im Kinderzimmer zu mildern. Gitte legte die Arme auf den Sims und schaute hinaus. Die Tiere waren fort. Der Himmel war blitzblank und zeigte tausende und abertausende Sterne. Manche regten sich nicht, sondern leuchten vor sich hin wie angeheftete Orden an der Uniform eines Operettenoffiziers. Andere pulsierten, als seien sie die Glühwürmchen des Universums, jederzeit bereit, von hier nach da zu fliegen.

Tatsächlich löste sich einer der Sterne. In rasender Geschwindigkeit näherte er sich der Erde und zog einen Schweif nach sich, der immer länger und sprühender wurde, als wolle er seinem Flaggschiff noch mehr Schub verleihen. Als der Stern in den Garten einschlug, schloss Gitte erschrocken das Fenster und verkroch sich in ihrem Bett.

"Mach wieder auf! Du hast mich gerufen."

Sie zog die Baumwolldecke über ihren Kopf. Es nützte nichts. Zu laut war die Stimme, die sie rief. "Mach wieder auf!"

Sie ging zum Fenster und schaute durch die Scheibe. Im Garten stand ein Falbe mit weißer Mähne und weißem Schweif. Er scharrte abwechselnd mit dem rechten und dem linken Vorderhuf. Sie öffnete das Fenster. "Was willst du von mir?"

"Du hast mich gerufen. Also sitz auf!"

Gitte sah sich beim Wort genommen, öffnete das Fenster, kletterte über dem Sims und ließ sich auf den Rücken des Falben plumpsen. "Hab schon mal leichter getragen. Aber was soll's. Greif mir in die Mähne." Sie krallte sich darin fest, und schon stob er davon.

"Wohin?"

"Schließe die Augen, lass dich überraschen." Gitte presste die Lider zu. Eine Weile spürte sie den Wind, auf dem der Falbe sich tragen ließ. Dann war ihr, als ob sie die Erde verlöre. Der Falbe trug sie in die Schwerelosigkeit, in der Zeit und Bewegung anderen Gesetzen gehorchen und die mit dem Raum im Kriege liegen. "Sieh ihnen zu, wie sie streiten und ringen, der Raum, die Zeit und die Bewegung. Jeder glaubt, zuerst dagewesen zu sein."

Gitte sah in diesen Wirbel. "Wieso streiten sie so erbittert?"

"Weil sie wie die Menschen sind. Sie halten die Welt am Leben."

"Und wenn sie nicht mehr streiten würden?"

"Das wäre der Fall, wenn sie nichts mehr hätten, um das sich das Streiten lohnte. Dann stürbe die Welt. Der Kosmos käme zum Stillstand, und irgendwann fiele er in sich zusammen."

Gitte rieb sich verwundert die Augen. "Also muss, wer leben will, streiten?"

"So ist es. Aber um das Gute, nicht um das Schlechte. Um Wichtiges, nicht Profanes."

"Was ist denn wichtiger: Das Huhn oder das Ei?"

Der Falbe blähte die Nüstern. "Die ungelöste Frage. Aber sie ist nicht wichtig, solange du beides hast, das Huhn und das Ei. Vielleicht war Gott ein Hahn."

Gitte musste lachen. "Die Frage nach dem Hahn hat sich mir nie gestellt. Aber wer bist du?"

"Ich bin dein Stern, das weißt du doch. Hast du hier draußen etwas gelernt."

"Ich denke schon. Manchmal muss man streiten. Aber nicht um alles. Bringst du mich wieder zurück?"

"Sitz auf!"

Er hielt unter ihrem Fenster, und sie kletterte hinauf in ihr Zimmer. "Mach's gut, mein Stern," rief sie, als der Falbe davongaloppierte und sich zurück in seine Heimat erhob. Sie sah ihm nach, bis er seinen Platz gefunden hatte, von dem er blinkte. Sie warf ihm eine Kusshand zu, und für einen kurzen Moment stellte er das Blinken ein und leuchtete auf.

Da wusste Gitte, dass ihr Leben behütet war.

29.06.2023
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Alt 29.06.2023, 09:02   #2
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
einfach mal so ein hübsches Märchen schreiben, der Fantasie die Zügel frei geben, - das gefällt mir.
Ich bade sozusagen in Deinen "unangestrengten" Worten, schau zu, selbst im Schaukelstuhl geruhsam wippend, wie Du aus dem schlichten Träumchen ein nächtliches Abenteuer zauberst.
Was bleibt mir übrig?
Ich werde Deine Bauklötzchen klauen, aus dem Mädchen ein Märchen, dem Einhorn (anders kann ich mir das Pferdchen in Deinem Märchen gar nicht vorstellen) einen geflügelten Pegasus, aus dem ausgebliebenen Gewitter ein blitz- und donnergewaltiges Naturphänomen machen und der Frage nachspüren, was Erfüllung der Träume sein könnte.
Liebe Grüße,
Heinz
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Alt 29.06.2023, 09:19   #3
weiblich Ilka-Maria
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Unsere Phantasie und die Fähigkeit zu träumen, lieber Heinz, gehören zui den wunderbaren Dingen, mit denen wir gesegnet sind.

Ein Einhorn hatte ich allerdings nicht im Sinn. Ich weiß auch nicht, weshalb ich einen Falben gewählt habe anstatt eines Schimmels, Rotfuchses, Rappen, Braunen oder Pinto. Ist aber egal, man traut Pferden einfach magische Kräfte zu.

Liebe Grüße
Ilka
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.06.2023, 13:10   #4
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
nein, von einem Einhorn ist bei Deiner Geschichte keine Rede. Da steht nur was von: "ein Falbe mit weißer Mähne und weißem Schweif". Nun, ich weiß schon, wie ein Falbe aussieht (ob das so mit Deiner weißen Mähne und den weißen Schweif zusammen passt, ist eine andere Frage).
Bei hellfarbenem Pferd, das kleine Mädchen glücklich macht (ich denke da an meine Enkelin Stella mit ihren Pferdchen), bin ich auf Einhörner programmiert.
Die Fähigkeit zu träumen und zu fantasieren, ja, die haben wir allen Lebewesen voraus. Ich bin gespannt, wie Du auf meine angefangene Story reagierst ("An der Saale hellem Strande").
Liebe Grüße,
Heinz
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