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Alt 15.05.2008, 12:23   #1
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Standard Anon Ymius

„Ich liebe dich“, sagte Mona zum Abschied. Sie meinte es nicht.
„Bis später dann. Ich liebe dich auch.“ Er meinte es auch nicht.
Anon Ymius winkte seiner Frau, trottete gefolgsam über den Schotterweg zu seinem Auto. Er drehte sich nicht noch einmal um, stieg ein, startete den Motor, fuhr los. Graue leblose Adern wanden sich durch die Stadt, schwemmten Menschen mit sich. Anon ließ sich von ihrem Fluss treiben, bis sie ihn bei der Bank wieder freigeben würden.
Es war ein normaler Arbeitstag mit vielen Zahlen, die bedeutungslos durch seine Finger marschierten und Kunden, die mit leeren Schritten an ihm vorbei gingen.
Jetzt musste er nur noch zur Reinigung, einen der schwarzen Anzüge abholen, die jeden Tag wie ein Urteil an seinem Leib klebten.
„Guten Tag, Herr Ymius“, grüßte die junge Frau von der Reinigung wie immer freundlich und blickte ihm direkt in die Augen.
„Bitte sehr.“ Mit einem Lächeln reichte sie ihm seinen Anzug.
„Danke schön“, antwortete Anon pflichtgemäß, wollte sich schon umdrehen, zurück in den leblosen Strom da draußen. Da meinte die Frau plötzlich: „Ist ihnen eigentlich Mal aufgefallen, dass sie gar keinen richtigen Namen haben?“
Er wandte sich ihr wieder zu und sah sie an. „Nein“, erwiderte er wahrheitsgemäß und Gedanken gruben sich in sein Gesicht. „Aber jetzt, wo Sie es sagen … Ich schätze meine Eltern hatten nie richtig Zeit, um sich einen Namen für mich zu überlegen.“
„Das ist aber schade“, bekundete sie und meinte es so. „Wissen Sie was.“ Eine Idee leuchtete in ihren Augen auf. „Ich nenne Sie ab heute Florian. Das passt zu Ihnen.“
„Da haben Sie Recht.“
„Ich bin übrigens Vera.“
„Freut mich Sie kennen zu lernen, Vera.“
Sie redeten noch eine Weile und lachten viel dabei. Dann kamen neue Kunden und sie verabredeten ein Treffen. Er fuhr nach Hause und nahm dieses Mal einen anderen Weg, auf dem er grüne Alleen erkundete und ihre tanzenden Schatten auf dem grauen Parkett.
„Ich möchte die Scheidung, Mona“, erklärte er, als er zu Hause ankam. „Macht nichts, Anon“, antwortete sie und zuckte mit den Schultern.
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.05.2008, 22:01   #2
Grob
 
Dabei seit: 05/2008
Beiträge: 45


Du hast die Kurzgeschichtenform gut eingehalten und es dennoch geschafft, deine Charaktere sehr menschlich rüberkommen zu lassen, außer bei diesem Zwischenteil mit den Namen und dem Ende, die allerdings für den Leser und den Verlauf der Handlung wichtig sind.
Zu deiner Sprache muss man nicht viel sagen, die ist toll und sehr gut instrumentalisiert.
Ich finde die Entwicklung der Geschichte und damit des Prots sehr gut umgesetzt, zuerst diese auf dem Leser lastende Langatmigkeit, Monotonie, dann der plötzliche Umschwung gegen Ende und sofort wieder mit dem letzten Satz zurück in diese ehemals kontrastlose Welt - natürlich mit Ausblick auf Hoffnung.
Ich bin nicht recht bewandert in der Kritik dieser Gattung, deshalb geb ich jetzt mehr Eindrücke als Verbesserungsvorschläge ab:
Das Ende wirkt auf mich nicht authentisch, auch eine zerbrochene Ehe wird ja nicht einfach mit einem Achselzucken beendet. Ich fand dennoch, dass es die Geschichte abrundet, deshalb würde ich es nicht vermissen wollen.
Hat der Name irgendeine Bedeutung / Anlehnung? Er klingt doch recht exotisch für einen so gewöhnlichen - will man meinen - Menschen.
Grob ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.05.2008, 22:33   #3
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Huhu Grob :-)

zunächst einmal vielen lieben Dank für deinen Kommentar; freut mich sehr, wenn dir meine Geschichte, die Charaktere und meine Sprache gefällt.

Die Ehe von Mona und Anon ist am ehesten eine Art „Zwecksehe“. Darum bedauert Mona es nicht so richtig, sich scheiden zu lassen. Aber du hast schon Recht, es wirkt ein wenig sehr kalt von ihr, aber was Besseres ist mir an der Stelle nicht so richtig eingefallen. Wie du schon gesagt hast: Es rundet die Geschichte ab. Ich habe auch zuerst überlegt, ob ich sie nicht sagen lassen sollte: „Macht nichts, Anon, dann suche ich mir einen anderen.“ Ist nur die Frage, ob das das jetzt tatsächlich verbessert ... ich überlege es mir nochmal, ob ich das Ende nicht anders gestalte und danke dir sehr für den konstruktiven Hinweis.

Die Namen haben alle eine gewisse Bedeutung. Anon Ymius müsste eigentlich als Anonymius gelesen werden; ist halt von Anonym abgeleitet. Vera kommt von „wahr“ oder „echt“ ist, glaube ich lateinisch. Und Florian kommt von „florere“ also „blühen“. Hätte nicht gedacht, dass jemand darauf kommt, aber ich fand einfach die Spielereien mit den Namen interessant ;-)

In dem Sinne vielen Dank für deine hilfreichen Eindrücke
liebe Grüße
Traumi
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2008, 22:11   #4
Grob
 
Dabei seit: 05/2008
Beiträge: 45


Ah, klar, Anonymius Tut mir Leid, darauf hätte man nun wirklich kommen sollen. Wertet die Gesamtheit natürlich noch mal auf. Warum hat einzig Mona keinen sprechenden Namen (ich hab mal gegoogelt, das bedeutet so viel wie edel, gutmütig etc. - passt schlecht)?
Den Schluss finde ich, so wie er ist, einen sehr deutlichen Schluss, das heißt, er zeigt dem Leser, dass es hier vorbei ist - wie die Ehe - und entfernt Mona eindeutig aus dem Leben von Anon - das "Such ich mir halt einen anderen" würde ihr weiterhin eine Wichtigkeit für eine weitergesponnene Handlung, da nun auch sie in einen Konflikt geraten würde, geben. Lass den Schluss, wie er ist, so treibt er die Kälte in der Beziehung auf die Spitze.
Grob ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.05.2008, 11:36   #5
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Hallo Traumwächterin,

Es geht hier um einen Menschen, dessen Name Programm ist. Er ist einer von vielen, die ihre Erfüllung noch nicht gefunden haben und ihrem einmal eingeschlagenen Lebensweg fraglos folgen - nicht glücklich, aber auch ohne jegliches Betreben, etwas daran zu ändern - seien es nun eine lieblose Beziehung oder ein langweiliger Job.
Zu einem erfüllenden Leben gehört zuerst die Selbstfindung - man muss wissen, was man erreichen will, was einen glücklich macht, wofür man lebt. Dann erst kann man daran arbeiten.

"einen der schwarzen Anzüge" --> schick, aber die Einheitskleidung der Büroleute. Die Farbe Schwarz tut ihr Übriges - mit viel Fröhlichkeit hat das jedenfalls nichts zu tun. Mit Individualität schon gar nicht.

Den Satz: "Ich schätze meine Eltern hatten nie richtig Zeit, um sich einen Namen für mich zu überlegen." interpretiere ich so, dass dieser Trott, das fraglose Weiterleben, schon bei den Eltern Usus war.

Die Vergabe eines richtigen Namens setze ich mit der Selbstfindung gleich. Der Name definiert ihn und damit auch das, was er will.

"Er fuhr nach Hause und nahm dieses Mal einen anderen Weg" --> verstehe ich als Symbol für seinen neuen Lebensweg, den er hier einschlagen wird.

Zitat:
„Ich möchte die Scheidung, Mona“, erklärte er, als er zu Hause ankam. „Macht nichts, Anon“, antwortete sie und zuckte mit den Schultern.
Das würde ich unbedingt so lassen. Natürlich ist es nicht authentisch, aber bei einem derart symbolbelasteten Text erwarte ich das auch nicht (die Vergabe eines Namens ist ja auch nicht authentisch).
Gerade die seltsame Reaktion lässt hier aufhorchen. Ich habe zuerst darüber nachgedacht, ob die Frau ihrem Mann überhaupt zugehört hat. Das gibt immerhin eine Interpretationsmöglichkeit, die sehr gut zu dem Thema passt (und die bei einer Abwandlung verloren ginge). Der immergleiche Trott geht einher mit dem Nichtsehen und dem Nichtzuhören.
Aber ich glaube der Frau auch, dass es ihr tatsächlich nichts ausmacht. Nichts sehen, nichts hören, alles annehmen, wie es kommt - das passt zu der im gesamten Text beschriebenen Gesellschaft.

Zitat:
„Ich liebe dich“, sagte Mona zum Abschied. Sie meinte es nicht.
„Bis später dann. Ich liebe dich auch.“ Er meinte es auch nicht.
Ich weiß nicht, ob diese Erklärung, dass sie es nicht meinten, unbedingt nötig ist. Ich hab auch erst vor ein paar Tagen eine Geschichte gelesen, in der genau dieser Kommentar auch vorkam - mag sein, dass es mich deswegen ein wenig stört. Außerdem führst Du diese Anmerkung bei Vera weiter und diesen Gegensatz (dass sie es so meint, die anderen nicht) finde ich wiederum gut. Also lass es besser, wie es ist.

Die Spielerei mit den Namen find ich gut.

Ich hab gar keine Kritik (*misst bei sich mal Fieber*). Tolle Sache!

Liebe Grüße

Struppi
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.05.2008, 15:21   #6
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Huhu Grob :-)


Wie gesagt, hätte nicht gedacht, dass jemand, auf die ganzen Feinheiten mit den Namen kommt.
Das mit Mona ist ein wenig anders von mir konstruiert; es sollte nicht „edel“ bedeuten, das wäre wirklich schlecht ;-) Vielmehr sollte ihr Name ein wenig klingen wie der von „Anon“, es sind ja auch die gleichen Vokale. Es sollte eigentlich nur ausdrücken, dass sie genauso „Identitätslos“ ist wie Anon. „Mona“ war der Name, der am ähnlichsten geklungen hatte, sonst ist mir kein besserer eingefallen.
Hmm, ich glaube dann lasse ich den Schluss auch so ;-) Du hast Recht, dass ein „Dann such ich mir einen anderen“ die Geschichte auf die Perspektive von Mona und ihrem Schicksal lenken würde; obwohl das wiederum eine interessante Ergänzung wäre. Was macht Mona danach?
Auf der anderen Seite, würde es in diese Geschichte einfach nicht mehr rein passen. Danke für den Hinweis :-)

huhu Struppi :-)


Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, freut mich sehr, dass du meine Geschichte inhaltlich so wunderbar hast nachvollziehen können und sie dir gefällt.

Zitat:
Die Vergabe eines richtigen Namens setze ich mit der Selbstfindung gleich.
ich auch – war genau meine Intention :-)

Zitat:
Den Satz: "Ich schätze meine Eltern hatten nie richtig Zeit, um sich einen Namen für mich zu überlegen." interpretiere ich so, dass dieser Trott, das fraglose Weiterleben, schon bei den Eltern Usus war.
ganz genau und vor allem auch, dass sie keine Zeit hatten, ihn kennen zu lernen und somit, gar nicht im Stande waren ihm einen Namen bzw. eine „Identität“ zu verleihen.

Zitat:
Das würde ich unbedingt so lassen. Natürlich ist es nicht authentisch, aber bei einem derart symbolbelasteten Text erwarte ich das auch nicht (die Vergabe eines Namens ist ja auch nicht authentisch).
Du hast mich jetzt von meinem eigenen Ende überzeugt :-)

Freut mich vor allen Dingen auch, dass dir meine Spielereien mit den Namen gefällt; habe ziemlich lange daran gebastelt und überlegt. Meine Grundfrage war ja eigentlich auch: „Kann es jemanden geben, der keinen Namen hat?“ Die Frage fand ich sehr reizvoll und hat mich zu „Anon Ymius“ geführt.

Zitat:
Ich hab gar keine Kritik (*misst bei sich mal Fieber*). Tolle Sache!
Dass du keinen Kritikpunkt irgendeiner Art gefunden hast, den ich korrigieren müsste, sehe ich als großes Kompliment an. Vielen Dank. (Auch wenn ich mich frage, ob wirklich bei dir alles in Ordnung ist ;-) )

Ein ganz liebes Dankeschön auch für die Nominierung; fühle mich geehrt.

Liebe Grüße
vom Traumi
Traumwächterin ist offline   Mit Zitat antworten
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