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Alt 23.07.2019, 13:55   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Taschengeld

Carolin sah dem alten Hoffmann nach, bis sich die Ladentür hinter ihm geschlossen hatte. Es war kurz vor Feierabend, und wahrscheinlich war er für heute ihr letzter Kunde gewesen. Noch fünf Minuten, dann konnte sie die Tür abschließen, ihrem Chef den Schlüssel abliefern und sich auf den Heimweg machen.

Versonnen blickte sie auf die sechs Banknoten zu je fünfzig Euro, die sie in der Hand hielt. Als sie nach ihrer Handtasche griff, fiel ihr ein, dass sie Gerald das neueste Computer-Magazin mitbringen sollte. Sie legte die Banknoten neben ihre Tasche, zog die Zeitschrift aus dem Wandfach und öffnete die Kasse. Aus ihrem Portemonnaie nahm sie passend das Münzgeld heraus, klimperte es in die Fächer und schob die Kassenlade zu. Dann nahm sie die Banknoten, faltete sie und schob sie zusammen mit dem Portemonnaie in ihre Handtasche.

„Was machst du da, Caro? Hast du sie noch alle beisammen?!“

Carolin hatte Inge, die sich im Lager zu schaffen gemacht hatte, den Verkaufsraum nicht betreten hören. Der scharfe Ton ihrer Stimme hatte sie erschreckt, obwohl sie sich keines Grundes bewusst war, wegen irgendetwas erschrocken zu sein. „Was soll ich denn gemacht haben?“

„Du hast Geld aus der Kasse genommen, eine ganze Menge.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Hab’s doch gesehen.“

„Wie, gesehen? Ich habe Geld in meine Tasche getan, aber keins aus der Kasse genommen.“

„Das kannst du deinem Wellensittich erzählen. Ich weiß doch, was ich gesehen habe.“

„Das sagst du nur, weil du mich nicht leiden kannst. Du versuchst ja dauern, mir etwas anzuhängen. Bei jeder Kleinigkeit rennst du zum Chef!“

„Kleinigkeit? Was du in deine Handtasche gestopft hast, ist doch keine Kleinigkeit!“

„Holla, hier geht‘s aber laut zu,“ ertönte eine kräftige Männerstimme. „Was ist mit euch los, Mädels?“ Ihr Streit war bis zu Karlheinz Vollmars Büro gedrungen und hatte ihn auf den Plan gerufen.

„Die Caro hat Geld aus der Kasse geklaut,“ platzte Inge unverblümt heraus. „Ich hab’s gesehen. Sie hat es in ihrer Handtasche versteckt.“

Carolin sah, wie das Gesicht ihres Chefs von einer Sekunde zur anderen leer wurde. „Was hast du gemacht, Caro? Ausgerechnet du?“ Ehe sie ein Wort herausbringen konnte, hatte er sich ohne ihre Erlaubnis die Handtasche geschnappt, sie geöffnet und die Geldscheine herausgefischt.

„Dreihundert Euro! Caro!“

„Die gehören mir.“

„Stimmt nicht,“ warf Inge ein. „Sie war nicht auf der Bank. Sie war in der Pause überhaupt nicht draußen. Außerdem hab‘ ich gesehen, wie sie die Kasse zugemacht und dann das Geld in ihre Handtasche gesteckt hat.“

Vollmar öffnete die Kasse und legte die Geldscheine hinein. Dann drückte er Carolin die Handtasche vor die Brust. „Hier, nimm. Du kannst gehen. Ab sofort brauchst du nicht mehr wiederzukommen.“

„Aber ich kann’s erklären. Die Abrechnung …“

„Du weißt, wo der Hinterausgang ist,“ schnitt ihr Vollmar das Wort ab. „Und jetzt raus!“ Er drehte sich um und ging zu seinem Büro zurück.

Am nächsten Morgen betrat Hoffmann den Laden, um wie gewohnt seine Tageszeitung zu kaufen. Vollmar stand selbst an der Kasse. „Wo ist denn die Carolin?“, fragte der Alte. „Doch hoffentlich nicht krank?“

„Nein, alles in Ordnung, der Caro geht’s gut,“ antwortete Vollmar.

„Ich wollte nochmal ein paar Rubbellose kaufen, aber da warte ich lieber, bis die Carolin wieder da ist.“

Vollmar hob die Augenbrauen. „So?“

Hoffmann lächelte geheimnisvoll. „Die Carolin ist meine Glücksfee. Neulich wollte ich ein Rubbellos kaufen, aber die ganze Serie war fehlerhaft, so dass sich die Lose nicht von der Kasse scannen ließen. Da hat mir die Carolin Lose aus einer anderen Box empfohlen, ‚Täglich Taschengeld‘ heißen die, und die haben an der Kasse funktioniert. Und wass soll ich sagen: Habe glatt den zweiten Rang gewonnen, über 30.000 Euro!“

„Herzlichen Glückwunsch, Herr Hoffmann. Dafür können Sie ja noch jede Menge Rubellose kaufen.“

„Da können Sie drauf wetten. Aber erst, wenn die Carolin wieder da ist. Und dann bekommt sie wieder etwas ab vom Gewinn – zur Belohnung.“

„Wie meinen Sie das, Herr Hoffmann?“

„Na ja, das war ein Taschengeld-Rubellos, und ich dachte, die Carolin kann bestimmt auch ein bisschen Extra-Taschengeld gebrauchen. Und da habe ich ihr gestern dreihundert Euro geschenkt. Es war ihr ein bisschen peinlich, aber ich habe darauf bestanden, dass sie es nimmt.“

Verstört nahm Vollmar das Geld von der Theke, das Hoffmann für die Zeitung hingelegt hatte, und sortierte es in die Kasse ein. Ihm hatte es die Sprache verschlagen.

„Wünsche noch einen guten Tag, Herr Vollmar.“ Schlurfend verließ der Alte den Laden.
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Alt 24.07.2019, 06:50   #2
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Liebe Ilka,

ich schicke mal voraus, dass mir die Geschichte nicht besonders gefällt. Ich weiß ja, dass du grundsätzlich eher dafür bist, eine Geschichte hauptsächlich in Dialogen wieder zu geben, meiner Meinung nach tust du dann manchmal des Guten zuviel. Mir fehlen in der Geschichte die Emotionen der Protagonistin.

"Aber ich kann es erklären, die Abrechnung" - das ist alles und dann lässt sie sich widerstandslos rauswerfen, obwohl sie unschuldig ist? D. h., eigentlich wird ja noch nicht mal das erwähnt, sondern die Protagonistin ab da mit keinem Wort mehr. Finde ich nicht sehr glaubwürdig, dass sie dazu gar nichts mehr sagt (selbst wenn sie im ersten Schock nichts herausbringt, sie hätte ja später beispielsweise versuchen können, ihren Chef anzurufen) und als Leser hätte mich schon interessiert, wie sie sich fühlt.

Die Schlusspointe ist auch keine wirkliche Überraschung. Außer dass Caros Chef abends noch nicht mal die Kasse zählt (was normalerweise in jedem Betrieb jeden Abend gemacht wird), dann hätte ihm nämlich sowieso auffallen müssen, dass die Kasse stimmt bzw. nicht stimmt, weil jetzt 300 Euro zuviel drin sind, die er Caro weggenommen hat und Caro somit gar kein Geld herausgeholt hat. Und das hätte er feststellen müssen, bevor am nächsten Morgen Hoffmann auftaucht.

LG DieSilbermöwe
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Alt 24.07.2019, 08:05   #3
weiblich Ilka-Maria
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Deine Kritik in puncto Emotionen leuchtet mir ein.

Auf Dialoge wird in der modernen Literatur großen Wert gelegt. Wenn bei einem Manuskript nicht spätestens auf Seite 2 Dialog auftaucht, schmeißt es der Lektor auf den Schredderstapel. Der Erzähltext muss schon verdammt gut sein, dass er stattdessen weiterliest. Die Zeiten, in denen endlos dialogfreier Text vom Schriftsteller produziert werden kann, sind längst vorbei.

Psychologisch glaube ich, dass du auf dem Holzweg bist. Menschen, die sich eine Meinung gebildet haben, sind schwer davon abzubringen. Selbst wenn sie einen Fehler gemacht haben, geben sie das ungern zu. Sie konstruieren dann in ihrem Kopf etwas zurecht, das der Aufrechterhaltung ihrer Meinung dient, um ihr Gesicht nicht zu verlieren, erst recht, wenn sie in einer übergeordneten Position sind. Was Carolin angeht, ist ihre Wehrlosigkeit meiner Meinung nach durchaus glaubhaft. Jeder Polizist, der Erfahrung in Vernehmungen hat, kann bestätigen, dass Menschen, die von einer ungerechtfertigten Anschuldigung überrumpelt werden, völlig sprachlos reagieren.

Die Sache mit dem Kassensturz ist mir auch klar. Aber da die Kasse wahrscheinlich nur selten stimmt (Fehler werden fast immer gemacht), müsste erst einmal geklärt werden, wo der Fehler ist, egal, um welche Differenz es sich handelt.

Die Geschichte muss nicht gefallen. Ich habe mit ihr eine Idee festhalten wollen, die mir kam, nachdem ich vor ein paar Tagen eine Szene in einem Zeitungsladen beobachtet hatte. Anders gesagt: Sie ist umarbeitungs- bzw. ausbaufähig. Dazu war deine Kritik hilfreich.
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Alt 24.07.2019, 13:17   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
.Menschen, die sich eine Meinung gebildet haben, sind schwer davon abzubringen. Selbst wenn sie einen Fehler gemacht haben, geben sie das ungern zu. Sie konstruieren dann in ihrem Kopf etwas zurecht, das der Aufrechterhaltung ihrer Meinung dient, um ihr Gesicht nicht zu verlieren, erst recht, wenn sie in einer übergeordneten Position sind. Was Carolin angeht, ist ihre Wehrlosigkeit meiner Meinung nach durchaus glaubhaft. Jeder Polizist, der Erfahrung in Vernehmungen hat, kann bestätigen, dass Menschen, die von einer ungerechtfertigten Anschuldigung überrumpelt werden, völlig sprachlos reagieren.
Nun, schrieb ich ja: selbst wenn sie im ersten Schock nichts herausbringt, kann sie versuchen, den Chef später anzurufen. Ob das mit der Polizei ein gutes Beispiel ist, weiß ich nicht, denn hier (obwohl es bei uns gar nicht so ist) spukt uns immer das "Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden" im Kopf rum. Dem Arbeitgeber gegenüber ist es aber vielleicht anders, denn hier hat Caro nichts mehr zu verlieren, er hat sie ja gerade fristlos gekündigt.

Zum Kassensturz: Wir hatten früher selbst ein Geschäft. Die Kasse muss einfach abends stimmen, sonst ist irgendwas am Tag falsch gelaufen und muss nachgeschaut und korrigiert werden und zwar vor Feierabend. Und 300 Euro zuviel ist schon ein gewaltiger Fehlbetrag.

Zitat:
Dazu war deine Kritik hilfreich.
Das freut mich

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.07.2019, 13:21   #5
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Und 300 Euro zuviel ist schon ein gewaltiger Fehlbetrag.
Dachte ich mir auch. Hatte anfangs deshalb überlegt, den Betrag kleiner zu halten.
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