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Alt 17.03.2019, 13:48   #1
männlich Ex-Larkin
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Standard Ein Brief vom Absurden...

Lieber Freund!
Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, das Leben sei ein Traum? – wenn Sie dies Gefühl kennen … haben Sie hernach den Schluss gezogen, dass das Leben reichlich absurd ist? Was, höre ich Sie fragen, mag denn absurd heißen? – und was, ja, was soll diese sonderliche Fragerei meinerseits?!
Ach! das Leben ist so sonderbar! – ich möchte Ihnen, um zu veranschaulichen, was ich recht eigentlich meine, die kleine Geschichte erzählen, die mir mein guter Bekannter vor kurzem berichtete. Denn ein Beispiel liegt dem Menschen sicher eher als eine trockene Abhandlung. Er kam zu mir, mein lieber Bekannter, legte die Füße auf den Tisch und begann zu sprechen:

„Schau, ich habe vor kurzem eine sonderliche Kreatur getroffen: ein F… und er nennt sich Romantischer Künstler – wir, ich und einige Bekannte, wir saßen an einem Tisch beisammen und tranken. Es war ein ausgelassener Abend, wir haben viel gelacht und noch mehr geblödelt. Irgendeiner sagte dann, frag‘ mich bitte nicht, wie wir überhaupt darauf kamen, er sagte: Er wisse nicht, was seine Frau recht eigentlich von ihm wolle. Ein andrer: Niemand wisse das! Ein Dritter: Immerhin habe ER eine Frau, immerhin würde er nicht sein schlappes Gesäß auf Glatteis brechen … Und da steht dieser F… auf, ein unglaublich gestriegelter Mensch: Stufenhaarschnitt, mit dem scharfen Auge eine Geometers bearbeitet, starrende Augen, gezwungenes Lächeln, ein durch und durch … steriler Mensch. ‚Ich kann euch helfen, Jungens!‘, sagte er und dann stellte er sich in der Mitte der Kneipe auf – einige gafften hinüber, er solle nicht mit dem Feuer spielen. ‚Ich weiß wie ihr euch fühlt! Mit Frauen zu sprechen und sie dorthin zu bekommen, wo man sie haben möchte, das freilich ist fürchterlich kompliziert und – jawohl, ein System…‘ Und dann begann er uns von diesem sonderbaren System zu erzählen – das heißt, er begann wie ein Prediger zu schwadronieren, immer wieder ein: ‚Ihr könnt das! Ihr schafft das!‘ und federte mit den Fersen ab wann immer er seinen Ton erhob, fuchtelte wild mit den Armen umher, ich würde sagen: geschauspielerte Begeisterung. Und was er uns da vorsetzte! – die emporgehobene Wassersuppe eines selbstverliebten Tellerwäschers: Worauf achtet die Frau, wie erkennt sie den sozialen Status eines Mannes, wie bewertet sie den Mann, wie sollen wir Frauen bewerten – ist das junge Ding dort summa cum laude? –, wie spricht man mit dem Weibe, wie zieht man sie verbal über den Tisch, wie verhindert man, selbst über diesen gezogen zu werden, wie funktioniert das Mensch-Weib, welche Hebel muss man wann wo und wie ziehen, was ist dem Weibe wichtig, was muss dem Manne wichtig sein. Zweiter Kursus: conter fleurette oder die hohe Kunst des Flirts – welche Maßnahmen sind zu ergreifen, wie kann man das Spiel unbedingt gewinnen, wie kann man sein Spiel verbessern, was sind die Handwerkszeuge des Flirts. Dritter Kursus: Wo mag das begehrte Mensch zu finden sein …?
Und so ging das für gut anderthalb Stunden weiter – er redete unablässig davon, als wäre alles das eine Angelegenheit von Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Statistiken … Du hättest die Gaffer sehen sollen, mein R.! Hah! Die Herren sahen sich schon an Orten…“
„Freund, der Mensch schlägt sich schon immer mit seinen Leidenschaften herum! Die Erfüllung erscheint wie – und nun höre! – die Offenbarung … Dabei will ich eins freilich nicht ganz verstehen: Lust ist doch unseren ganz natürlichen Bedürfnissen zuzurechnen – meinst du nicht auch?“
Er nickte.
„Gut. Die Lust muss also zu solcherlei Dingen wie dem Hunger, dem Durst, der Müdigkeit gerechnet werden. Nun sehe ich aber keinen Menschen, der wohl ein derartiges Theater machen würde, dass er in den billigsten Gaststätten verkehren muss und nicht stattdessen Grande Cuisine genießen kann; ich sehe keinen Menschen, der wohl verzweifelt, weil er trinken muss – es ist ein Ding, uns eingegeben und deshalb nicht der größeren Beachtung wert. Und mag einer verhungern, mag einer verdursten … er wird nicht deshalb durch Neurosen geplagt, wird sich selbst völlig vergessen und zu einem Gespött oder im mindesten einer desperaten Hülse ohne Verstand, ohne G eist oder wenigstens etwas Würde – mag er verhungern oder verdursten, er wird alles daransetzen, diese schmerzhaften Notstände zu beenden; er mag Kakteen aufschlagen, um ihren Saft zu trinken, er mag sich auf die Jagd begeben … was aber, wenn das Nötigste gestillt, wenn Hunger und Durst überwunden worden sind?“
Er zuckte mit den Achseln.
„Wir vergessen diese Triebe, sie sind uns so normal, wir erledigen sie beiläufig – warum aber ist gerade die Lust für so viele Menschen der Fokuspunkt des Lebens, ja, das Leben schlechthin? Warum können wir nicht spielerisch genießen, wann sich uns eine geeignete Gelegenheit bietet? Warum wandelt reine Lust die Menschen in eine Rinderherde, die über die Felder stapft und in nichts die größere Erfüllung empfindet, als das saftige Gras mit den eignen Zähnen zu jäten.“
„Die Liebe ist wichtig für den Menschen, R. Wir sind soziale Wesen…“
„Sind Liebe und Lust, das eine und das andre miteinander – gleich?“
Er stutzte. „Nein.“, sagte er schließlich.
„Lust ist Trieb, Trieb ist natürlich…“, ich stellte meine Ellenbogen auf die Tischplatte und klatschte einmal mit den Händen, „Ist ein unstillbarer Trieb natürlich?“
Ich konnte sehen, dass er seine Lippen zusammenpresste und dann herausplatzte: „Wer verhungert, der kann nicht stillen!“
„Aber der Hunger selbst – der ist doch immer noch zu befriedigen; freilich, findet einer nichts, dann kann er seine Qual nicht befriedigen und verendet – würde er aber etwas finden, dass hieße doch, er wäre den Hunger los…“
(Name einfügen) schaukelte den Kopf hin und her – ich konnte sehen, dass sich ihm meine Sicht der Dinge offenbarte. „In Ordnung – aber wenn der Lüsterne, mein R., wenn er bekäme, was er dringend bräuchte … dann wäre doch gestillt, was ihn vorher gequält hat.“
„Ich meine: nein. Denn wenn er desperat sein Wesen und Leben verstellt, einzig in weiblichen Köpfen lebt, mithin nur für sie und seine Neigung lebt – kann das noch irgendwie gestillt werden? Gibt es eine solche Frau, die ihm immerzu zuweisen könnte, was er meint brauchen zu müssen?“
„Ich denke nicht.“ – „Dann ist es also ein Fehler, sich dieser Genusssucht hinzugeben, ganz und gar?“ – „Es scheint so.“ – „Dann können wir sagen: Gleich ob Hunger, ganz gleich ob Durst, ob Lust, ob Müdigkeit … für diese Dinge einzig und allein zu leben…“ – „…ist kein Leben, müssen wir wohl sagen.“ – „Ganz recht. Ich denke, Glück erstehen wir nicht, indem wir ein Mahl, ein Getränk, ein Bett oder einen Schoß dafür einsetzen. Genuss ist intensiv nur in Maßen – meinst du nicht? Und Glück … das ist dann eine ganz andre Frage.“
„Ich will mich sofort der Armut hingeben!“ – „Tu’s, aber denk ich vor allem eines: ‘s sind doch nur Gedanken … und freilich neu sind sie schon gar nicht.“ Alles ziemlich lächerlich.

Sehen Sie nun, warum ich das Leben einem absurden Traum gleichsetze – dann und wann zumindest. Das, was einstmals Freude bereitete, ein lustiges, manchmal schmerzhaftes Spiel! – das ist nun: eine Wissenschaft … nein! schlimmer! viel schlimmer! – eine Bürokratie! Die Paragraphen der Liebe! Die Erotik zum Quadrat! Die Quadratwurzel der Frau! – stellen Sie sich doch einmal kurz vor, Freund, was da erst Funktionen, die Analysis oder die … Stochastik bedeuten werden! Bah! Gar nicht auszudenken, was in unsrer Zeit aus allem Fröhlichen, Lustigen, Spielerischen gemacht wird!

Der Mensch – ist er denn schon derart sozial verkrüppelt, dass er eine Pseudowissenschaft braucht, um mit dem anderen Geschlecht auch nur zu kommunizieren! Und, da der Mann so desperat, getrieben von dieser einen Vorstellung: Jawohl! Ein Mann muss Frauen besitzen!, so ängstlich um seine Lust besorgt, zu diesen Lehrmeistern läuft – da zahlt er auch noch eine ungemeine Menge Geld.

Die Griechen nannten unter ihren Tugenden auch die Fähigkeit, Maß halten zu können – derlei Vorstellungen haben wir moderne Menschen freilich längst abgelegt. Wir wollen das Fleisch, wir müssen das Fleisch haben, und wir wollen es jetzt! Der Genuss – ach, fort mit dem Genuss, ich will nicht genießen, ich will – ja, was eigentlich …? Denn augenscheinlich geht durch dies zwanghafte Verhalten jegliche Freude verloren? Was will er dann, der gute Mann?!
Vielleicht sind das aber die Ideale unsrer Zeit – reine Körperbetonung, die absolute Lust, denn das ist frech, modern, jung, progressiv und absolut langweilig.

Die sogenannte ‚sexuelle Revolution‘ – was war sie denn? Die Befreiung, wie manche da behaupten? Oder eher die Industrialisierung der Erotik? Was war anregender, was wäre anregender für Sie? – gewaltige Bildnisse nackter Körper mit leeren, ja, seelenlosen Blicken oder … das geheim weitergereichte Bildchen einer schwach behangenen Frau, die mit einem verschmitzten Lächeln zu Boden blickt …
Als wir begannen, die Hüllen zu lüften, da nahmen wir dem Liebesspiel das Reizvolle – der Mensch will immer nur das, was er nicht hat. Und wenn ich raten muss, mir vorstellen muss, was sich unter einem Kleidchen versteckt – wäre das nicht anregender als der dumpfe Körper auf dem Silbertablett? Wir nahmen uns den Reiz und hernach mussten wir uns überreizen – jawohl, nun wir nur noch polygam gelebt: Pix, nix, nox, vermis, flagra, vincula, pus, pudor horror* – ganz gleich! Mit jedem und dann noch einmal! Fortan regierte die Lust – durch ihr Gegenteil, die Unlust nämlich.
Ja, es wurde dem Menschen schnell zu viel, dieses Übertreiben einer jungen Generation, die durch die Straßen zog und alles Erzkonservative mit Furor überfiel, mit Steinen bewarf und, unrasiert, ungekämmt und vollberauscht, das Leben vor lauter Erleben vergaß; während der Dschungel brannte, predigte man vor den Toren jener, die das Brennen verordnet hatten, den Frieden und die Liebe! – ja, es wurde dem Menschen schnell alles zu viel, viel zu viel, und er bremste sich ab. Rien ne m'est plus, plus ne m'est rien!**

Doch siehe! Freund, das Ideal war gekommen, um zu bleiben! – fortan wurde der Körper zum Dogma, nachdem er in der Wirtschaft seine Dienste geleistet und fürderhin Unterstützung brauchen würde. Es war nun der Kunst geboten, unbedingt körperlich, unbedingt sexuell, unbedingt tabu- und regelbrechend zu sein: alle Schriftsteller, die unbedingt nach Aufmerksamkeit dürsteten, wollten schreiben wie Bukowski; die Regisseure wollten ungleich mehr Skandale; der Schauspieler wurde für seine Statur, nicht sein Talent bewundert – man hat nun progressiv, sexuell offen und vor allem rebellisch zu sein! Rebellion als Dogma – das Erbe des letzten Jahrhunderts…

Und über alledem verkümmerten die Gefühle, über dem Lärm der absoluten Lust, des Konsums und des Leistungsdrangs, vergaß man die stilleren Emotionen, die Passiönchen, das Mensch-sein. In unsrer Zeit muss man einmal mehr mit einer Laterne am hellen Tage durch die Straßen laufen und die Frage, was denn das soll mit der bekannten Antwort begegnen: Man suche einen Menschen!

Aber! Horcht! Der Geist verließ uns nicht! – er kehrte zurück, strenger und bestimmter als je zuvor …! In der Gestalt – von sonderbaren Kreaturen, die von einer satanischen Unterminierung der Gesellschaft schwadronieren, die in diesen Wahn von Lust, Geilheit und Verödung hineinsteigen, behaupten, die Frau wäre unterlegen oder, nein! – der Mann ist unterlegen! Doch man kann dem Sexuellen nicht mehr trauen, dem schönen Spiel, ’s ist doch gar nimmer schön – es ist schlimmer als langweilig, es ist: gefährlich! Fort mit dem Körper, alles widert mich an! Ein Sack Fleisch und Knochen, ihn aufrechtzuerhalten – das bin ich, das sind wir!
Man hatte gehofft, nach dem Extrem der Lust käme … ein Ausgleich. Aber nein! – es kommt das andere Extrem. Wie ein Pendel schwingt der Mensch hin und her … hin und her … hin und her …

Dieses, Freund, sind die seltsamen Dinge, die mich fragen lassen: Warum ist das Leben so grässlich absurd.

Verzweifeln Sie auch, wenn Sie diese Zeilen lesen? Verzeihen Sie, das wollt ich nicht! Nimmer wollte ich Ihnen den Tag verderben! Ich gebe Ihnen Tröstendes mit auf den Weg: Beide Extreme – Gott Körper und Gott Geist – sind für eine Sache, unsrem Glücke nämlich, völlig unwichtig, denn … das Glück finden wir, wie Chamfort so schön gedichtet hat, nur sehr schwer in uns und gar nicht außer uns. Sie aber, mein lieber Freund, Sie werden’s ganz bestimmt in sich finden! Und was Sie gefunden haben, dass können Sie nicht mehr verlieren…!

Leben Sie wohl!

*: "Hitze, Kälte, Finsternis, Ungeziefer, Geißel, Ketten, Fäulnis, Schmach und Schrecken."

**: "Nichts bedeutet mir mehr etwas, etwas bedeutet mir nichts!"
Ex-Larkin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.03.2019, 13:45   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687

Lieber Larkin,

ein großartiger Text. Ich sehe die Herren in einem "Herrenzimmer" des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts (auch wenn es im Text "Kneipe" heißt) vor mir, wie sie sich, die Zigarette in der einen und den Brandy in der anderen Hand, die Köpfe heiß reden beim Philosophieren. Du hast die Atmosphäre gut eingefangen.
Und ja, der Mensch will immer das, was er nicht hat. Alleine das ist absurd und noch einiges mehr.

Ich habe diesen Brief mit großem Vergnügen gelesen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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