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Alt 12.11.2012, 12:12   #1
männlich Desperado
 
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Standard Schwarzfußindianer

Manches, was einem als Kind lieb und wertvoll war, wird einem später fremd und bedeutungslos.

Schon am Fuß des Berges kommen mir zwei unwirklich merkwürdige Gestalten entgegen. Der eine auf kleinem Pferd ist rundlich und kleinwüchsig, in eine zusammengeflickte Jacke gezwängt, hat schneeweiße wirre Haare auf dem Kopf und ist unablässig am Quasseln, der andere, langgeschossen und dünn, reitet ein Maultier, trägt einen Tropenhelm und steckt in maßgeschneidert militärisch anmutenden Klamotten, auf dem Rücken transportiert er einen merkwürdigen Kasten, an der Schulter baumelt ein großes Schmetterlingsnetz.
„Ey ey, sieh an“, schmunzelt der Dicke, „das Greenhorn vor uns scheint mir doch ein waschechter Desperado zu sein, wenn ich mich nicht irre.“
„Oh well, was für eine außergewöhnliche Zufälligkeit, ist es erlaubt zu mir zu machen eine Aufnahme von euch?“ stelzt der Dünne in seltsamer Sprechweise.

Im Nu hat er seinen Fotoapparat auf ragenden Beinen auf den Pfad gepflanzt, verschwindet mit dem Kopf unter einem großen ledernen Umhang am hinteren Ende des rechteckigen Kastens und weist mich mit einer Hand in die rechte Position, der ich ohnehin verblüfft und ungläubig regungslos verharre, drückt auf einen Knopf am Ende einer Art Schnur, es folgt ein paffendes Geräusch, eine große weiße Rauchwolke steigt in die Höhe, eine noch größere schwarze hinterher, und der Englishman steht über und über von Russ geschwärzt über seinem verschmort stinkenden Gerät, während sich der Haarschopf vom Kopf des Rundlichen gehoben hat und eine seltsam rosafarbene, von schwarzen Flecken durchsetzte Vollglatze zum Vorschein kommen lässt, die den Eindruck einer großen hässlichen Narbe macht, der Komiker indessen grinst verschmitzt, kratzt sich den kahlen Schädel und meint:
„Diese Aufnahme scheint mir wohl etwas überunterbelichtet geraten zu sein, wenn ich mich nicht irre.“

Ich lass die beiden schrägen Vögel einfach stehen, was ihnen gar nicht auffällt, und setze meinen Ritt fort, als ein Apache vor mir auftaucht, wie ich noch nie einen zu Gesicht bekommen habe. Er reitet ein fantastisches schwarzes Pferd, gezäumt und besattelt mit feinster Lederarbeit voller Perlen und Glitzersteine, sein prächtiges Kostüm ist über und über mit kunstvollen Strickereien und Mustern verziert, Mokassins, Hosenbeine und Ärmel schmücken lange Fransen, ein mit Silberbroschen beschlagener Stutzen ragt aus einer ebenso grandios gearbeiteten Lederhülse, um die hohe Stirn trägt er ein schimmerndes Band aus Schlangenhaut und sein glänzendes Haar wogt in sanften Wellen über stattliche Schultern.

„Der große Häuptling des stolzen und edlen Volkes der Apachen grüßt den fremden weißen Mann,“ hebt er pathetisch an und die Hand zum Gruß, „was führt die Hufe seines edlen Pferdes in die Heimat seines roten Bruders?“
„Ja nun“, sag ich verlegen, während Infini amüsiert losprustet, „genaugenommen bin ich nur auf der Durchreise...“
Aber er hört mir gar nicht richtig zu und fährt unbeirrt fort:
„Das Auge des weißen Mannes ist klar und ehrlich, seine gebrochene Stimme verbirgt kein Falsch und keine Arglist, er möge mein Herz mit der Ehre und Freude erfüllen, mich seinen Bruder zu nennen.“
„Du mich auch,“ stottere ich verdattert, „ich will sagen, du kannst mich mal, klar doch, gerne haben, mein’ ich, würd’ ich es, meinetwegen darfst du mich Bruder nennen, selbstverständlich, ist doch kein Thema...“

Weiter komme ich nicht, weil ein muskelbekackter ebenso in Fransenleder gehüllter Blondschopf von erheblicher Schulterbreite, Körpergröße und mit gewaltigen Fäusten hinter ihm zum Vorschein kommt, einen doppelläufigen silbernägelbeschlagenen Bärentöter am Sattel, und mir ins Wort fällt:
„Fremder, das Land der Apatschen ist ein wildes Land voller Geheimnisse, der Gott des weißen und roten Mannes möge deine verschlungenen Wege behüten und dir die Tapferkeit und Aufrichtigkeit bewahren, die ein wahrer Westmann braucht, um in den Gefahren und Tücken des Lebens zu bestehen und aufrecht den guten Kampf zu kämpfen.“

„Ja ja“, stammle ich mittlerweile völlig verwirrt, „den aufrechten Gang wird er wohl brauchen in diesem Affenstall, damit man ihn auch unterscheiden kann von Seinesgleichen, ich will damit nur sagen...“

Aber hoffnungsloser brauche ich mich nicht zu verhaspeln, denn die Beiden haben mich ganz offensichtlich vergessen, ein düsterer Schatten ist über das ebenmäßig bronzene Gesicht des Apachen gefallen, er spricht zu seinem Freund mit trauriger aber fester Stimme davon, dass seine Stunde gekommen sei, er deutlich Manitous Ruf vernehme und seine Seele alsbald in die ewigen Jagdgründe gehen müsse, was dem Hünen gar nicht zu gefallen scheint, der erwidert was von unverbrüchlicher Treue und Blutsbruderschaft, nicht bewältigter Trauer über den Tod seiner geliebten Schwester, der sein betrübtes Herz für immer mit bitterem Schmerz erfülle, und ich mache dass ich fortkomme von den beiden tragischen Helden.

Zur Beruhigung meiner angegriffenen Nerven will ich mir grade eine Zigarillo anzünden, als ein Schuss aufpeitscht und das Zündholz in meiner Hand bis auf den Stumpf aus meinen Fingern fegt. Ein breitgrinsender bärtiger Typ im scheinbar hierzulande modischen Fransenlook ragt mit qualmendem Stutzen auf dem Felsen vor mir in die Höhe, und meint spöttisch lachend:
„Ha, zwielichtiger Geselle, du hast gezittert und gewackelt, denn die Kugel meiner Büchse sollte dein Zündholz nur auspusten, aber ich will nicht mit meiner im ganzen Westen gerühmten und gefürchteten Schießkunst prahlen vor einem alten Tramp, der seine Lungen mit Rauchwerk vergiftet.“

„Du meine Güte,“ entfährt es mir fassungslos mit erhobenen Händen, „schon gut, schon gut, Rauchen fügt mir und meiner Umgebung erheblichen Schaden zu, kann tödlich sein und lässt mich früher sterben, ich weiß Bescheid und schäme mich ...“, aber seine spukhafte Erscheinung ist wie vom Erdboden verschluckt und spurlos verschwunden.

Gerade will ich tief und befreit durchatmen, als mir ein dürres verlottertes Männlein mit langem Ziegenbart und weißer ausgedünnter Mähne vor die Hufe springt, mich mit erhobener Büchse böse anfunkelt und schnarrt:
„Ha, du elende verdorbene Seele, hast wohl Bekanntschaft gemacht mit den beiden Gutmenschen, würg, wie ich ihr verdammtes Getue hasse, ihre verfluchte Güte und ihren abgelutschten Edelmut, keinen blassen Schimmer haben die Träumer von der Härte des Lebens, grade mal gut genug sind sie für den feigsten Verrat, ich spucke auf ihre dämliche Einfalt.“

Irgendwie habe ich auf einmal von allem genug und die Nase gestrichen voll von dem Theater, der Widerling geht mir gewaltig auf den Geist, ich schnalze mit der Zunge, worauf Infini losspringt und das Gerippe einfach zur Seite schiebt, dass es nur so in die Grasmatten fliegt und grässlich hinter mir herflucht, und ich schwöre mir hoch und heilig, beim nächsten Mal den kurzen Weg durch Italo, Wildwest oder wie immer dieses gottverlassene Nest noch mal heißen mag zu nehmen.

Auf dem Gipfel sitzt eine seltsame Gestalt auf einer Steinplatte, einen Bogen Papier auf dem Schoß, kaut unter geschwungenem Schurrbart versonnen auf dem Stiel einer Tuschefeder herum, nebst Tintenfässchen eine halbleere Whiskeyflasche neben sich, sieht mich kommen und meint abwesend mit einem Akzent, der mich entfernt an den des Baiern erinnert, eines recht guten Bekannten von mir.

„Hallo Reisender, siehst du das rechteckige Wäldchen dort unten im Talgrund, dass sich im Osten an den mäandernden Flusslauf schmiegt, durch das ein schmaler Pfad das klare Bächlein entlang führt, das sich mitten hindurch schlängelt, eine scharfe Krümmung macht nach Westen, genau in der Mitte, dort wo die zwei weißen spitzzulaufenden Felsblöcke aus dem Boden und über die grünen Wipfel der Tannen hinausragen, genau zwischen den mythischen Steinen hindurch zwängt sich der schmale Pfad, dessen östliche Seite mit dichtem Dornengestrüpp bewachsen und dessen westliche durch einen steil abfallenden Hang gesäumt ist, dort wo der ausladende Wacholderbaum seinen Schatten über die plätschernden Wellen wirft, kantiges Gestein den Pferden den Weg erschwert und sich dicke Wurzeln über den unebenen Boden schlängeln, eine Mulde die Sicht beeinträchtigt und die Rücken der Felsen den Blick versperren, dieser Punkt in der weiten Landschaft des Westens ist der ideale Ort für einen Hinterhalt der schmutzigen ruchlosen Schwarzfußindianer, um meinen edlen Helden aufzulauern...“

Ich hör ihm nicht mehr zu und reite mit rauchendem Kopf dem ersehnten Talgrund zu, Falle und Hinterhalt her oder hin, außerdem gab es in der Gegend noch nie so was wie riechende Schmutzfußindianer.

Blackfoot oder Schwarzfußindianer gibt es wirklich, oben im hohen Norden der Prärie, östlich von Saskatschewan am gleichnamigen Flusslauf oberhalb der Stammesgründe der Crow. Und weiter im Nordosten, im Gebiet der großen Seen, bei den Algonquin ist Manitou zuhause, der eigentlich Manito heißt und nicht gleichbedeutend ist mit dem großen Geist, sondern eher aus einer Vielzahl kleiner Geister besteht, einer Art nichtmenschlicher unbegreiflicher Wesen, die Tieren, Pflanzen, Sternen und auch Dingen innewohnen und ihnen auch schon mal Schaden zufügen können, in der Regel aber mächtige Helfer der Menschen sind.

Nur- wen interessiert das schon?

Der Wind hat mir eins der Papierblätter des theutschstämmigen Schreiberlings und Landschaftsdichters vor’s Gesicht und in die brennende Zigarillo geweht. Endlich erreiche ich das rechteckige Wäldchen im Talgrund, das sich an den Fluss schmiegt.

Ich biege ein in den Weg, der sich mitten durch das Wäldchen schlängelt, einen Bachlauf entlang führt, am Ostrand bewuchert von Dornenhecken, im Westen durch einen steil zum Bachbett abfallenden Hang begrenzt, bis ich an seiner Biegung die steinige wurzeldurchflochtene Mulde am Fuß der aufragenden Monolithen erreiche.

Tatsächlich kommt uns eine Gestalt aus dem Schatten des Wacholderbaums vor die Hufe gestolpert, ein halbnackter jugendlicher Indianer, Kiowa oder auch Comanche, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und nicht besonders auf der Höhe. Mit beiden Händen hält er sich seinen Kopf, an aufgelösten Zöpfen baumeln ziemlich zerrupfte Federn, und jammert in einem fort, dass ihm der Himmel auf den Kopf gefallen sei. Seine nackten Füße stecken bis an die Knie in schwarzen Schlammstiefeln, vermutlich hat er sich im Uferschlick des Baches verlaufen.

Wenigstens weiß ich jetzt, wo die halbvolle Whiskeyflasche des Schreiberlings abgeblieben ist.

„Nimm’s leicht, Junge,“ versuch ich ihn zu beruhigen, „das geht vorbei. Leg dich ruhig wieder hin und pack noch ein paar Stunden Schlaf drauf, dann wird sich der Himmel wieder gehoben haben und die Welt sieht anders aus.“
Er folgt meinem Rat willenlos bereitwillig, taumelt wankend in den Schatten zurück und sinkt stöhnend auf sein Moosbett, während ich durch die enge Schneise des Felsentores reite.

„Bist ja noch jung, blutjung, ein heißer Jungspund bist du“, murmle ich in mich hinein, „ich bin nur ein müder alter Fellow, der nachhause will.“
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Alt 12.11.2012, 14:47   #2
weiblich Poetibus
 
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Hallo, Desperado,

ach, die Jugendzeit, die Jugendzeit!

Bücher mit grünem Einband, ick hör euch trapsen ...

Ich erinnere mich noch gut an einen Faschingsmontag, als ich 11 Jahre alt war. Eine Woche zuvor war ich mit meiner Großmutter in der Stadt gewesen. Resultat: Alles perfekt, vom fransenbesetzten Anzug über die Perücke bis hin zur Silberbüchse. Und dann konnte ich am Montag darauf nicht raus: Ein grippaler Infekt mit Fieber. Ein Indianer kennt keinen Schmerz - da war ich damals aber ganz anderer Meinung. Stinksauer auf die ganze Welt ist gar kein Ausdruck ... ich wollte übrigens nie Old Shatterhand sein.

Wie ich schon sagte, ich schätze deine Geschichten, nicht zuletzt aufgrund des auch hier wieder deutlichen Desperado-Humors.

(Ich las diese Geschichte zwar schon "woanders", aber von Zeit zu Zeit möchte ich gerne einen Kommentar hinterlassen, schon prophylaktisch, damit du nicht aufhörst. )

Freundlichen Gruß,

Poetibus
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Alt 12.11.2012, 16:35   #3
männlich Desperado
 
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Hallo Poetibus,

ich hab als Kind und noch als Teenager Karl May regelrecht verschlungen, sogar seltene Werke wie Benito Juares oder Der Mestize, also durchaus keine Jugendbücher. Und hab sie tatsächlich schon als Kind sehr bald nicht mehr mit dem wirklichen Geschehen verwechselt und gleichgesetzt, von dem ich das Eine oder Andere schon damals aus Sachbüchern zusammensuchte, Winnetou war quasi der Harry Potter meiner Zeit, der Filmhäuptling bis zu einem gewissen Grade auch, obgleich mir die Kinospektakel allzusehr und oft schmerzlich von den Originalen abwichen.

Später kam dann die geringschätzige Distanzierungsphase, um die Kindheit abzustreifen und erwachsener zu scheinen als ich war, dann die "politisch korrekte" Hinterfragung, aber schon sehr lange kann ich Karl Mays fesselnde Erzählkunst und überbordende Fantasie als einzigartig stehen und gelten lassen, ja ihr die gebührende Ehre und verdiente Bewunderung zugestehen, ohne mich mit ungerechten und "aufgeklärten" Urteilen "konform" machen zu müssen.

Gerade diese achtende und wertschätzende Unbefangenheit erlaubt es mir, auch ironisch-humoristisch an die Sache heranzugehen wie in obiger Erzählung.

Im Fasching ging ich als Großer Bär, Cowboy und sogar Blaurock die ganze Palette durch, hat Spass gemacht ohne Frage, kann Deine bittere Enttäuschung sehr gut nachvollziehen.

Herzlich Danke für Dein Kindheits-Echo!
Desperado
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