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Alt 19.06.2009, 18:31   #1
weiblich Athariel
 
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Dabei seit: 05/2009
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Alter: 28
Beiträge: 114


Standard Truth

Ich habe lange überlegt, ob ich es hier reinstelle, was mich am Ende doch noch dazu bewegt hat, weiß ich nicht. Es ist nur ein Ausschnitt einer Geschichte, die noch nicht fertig geschrieben ist. Ihr müsst die Ansichten nicht teilen, jeder hat seine eigene Meinung
Liebe Grüße
Athariel

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Truth

Als sie klein war, wollte sie immer eine große Autorin werden, aber sie wusste eigentlich schon immer, dass sie nicht wirklich Begabung dazu hat. Trotzdem entschied sie sich einst, diese Geschichte auf zuschreiben, ihre Geschichte. Wenn sie über sich selbst und ihre Ansichten sprach, fand sie oft nicht die richtigen Worte, die Menschen um sie herum verstanden sie nicht, und schließlich gab sie es entgültig auf, als sie ihr Vertrauen zur Menschheit verlor. Doch wenn sie schrieb, flossen ihre Gedanken, direkt aus dem Kopf aufs Papier.....

Ich erkannte früh die Ungerechtigkeit auf diesem Planet. Meine Familie stammt aus einem Land, indem noch heute vieles anders ist als hier. Doch so wie überall in der Welt sah man auch hier überall die starken Kontraste, wenn man genau hinsah, begegnete ihnen auf Schritt und Tritt. Die Städte waren riesig, voller prunkvoller Kirchen und mächtigen, alten Häusern und Staatsgebäuden, umgeben von wunderschönen Parkanlagen, wo die Bäume im Frühling blühten und das Wasser im Sommer in zahlreichen Brunnen plätscherte. Wie in vielen Ländern war die Regierung davon abhängig und so floss auch eine Menge Geld zur Erhaltung und Restauration solcher Sehenswürdigkeiten, denn nur diese waren es, die die reichen Touristen anlockten. Doch entfernte man sich nur wenige Meter vom Zentrum, wendete man sich von diesem trügerischen Bild ab, erkannte man das wahre Gesicht des Landes. Die meisten Menschen waren sehr arm, was man auf den ersten Blick erkannte. Sie arbeiteten alle hart, nahmen jeden Job, den sie kriegen konnten, und doch hatten sie zu wenig Lohn, im Vergleich zu dem was sie leisteten. Hier erkannte ich zum ersten Mal die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Hier werden heute die Hartz IV- Empfänger mit schiefen Blicken versehnen, dort waren es die Reichen. Wenn ich heute dort bin, wundere ich mich immer noch. An verkaufsoffenen Sonntagen kriegt man heute in einer Stadt wie Frankfurt kaum einen Parkplatz, dort herrscht oft Todesstille, wenn man einen Laden betritt. Und von den Augen der Kinder, die man ab und zu in einem Spielzeugladen trifft, kann man die Freude in den Augen förmlich lesen, wie Weihnachten und Ostern an einem Tag, wie man es so schön sagt. Die einzig gut besuchten Geschäfte waren Supermärkte und auch diese waren meistens nur halb so voll wie die bei uns.
Die Häuser, in denen die Menschen wohnten, waren heruntergekommen, der Putz war zerfallen und hier und da waren Löcher in Treppen und Wänden, Kinderspielplätze würden hier durch sämtliche TÜV- Tests fallen und selbst die asphaltierten Straßen wiesen überall kleine und große Schlaglöcher auf. Doch wenn man sich überwunden hatte und über das Treppenhaus eine der Wohnungen betrat, die im überall nur bis zu 80 m² groß waren, glaubte man fast schon wieder, hier in Europa zu sein. Und doch merkte man den unterschied, viele elektrische Geräte waren veraltet oder fehlten gar ganz.
Wer hier schon einen kleinen Kulturschock bekommen hatte, würde auf dem Land wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen. Meine Oma hatte viele Schwestern, von denen heute nicht mehr viele leben. Zwei von ihnen besuchten wir regelmäßig in ihren kleinen Dörfern. Die Dörfer liegen meist im Tal, die Straßen sind nicht betoniert, niemand kümmert sich um sie und so braucht man einen starken Magen oder einen Geländewagen mit harter Federung. Und wenn wir oben an der Straße standen und über die undichten, kleinen Holzdächer schauten, konnten wir die beiden kleinen Häuser hinten am Dorfrand, in denen die beiden Schwestern meiner Oma wohnten, gleich an ihren auffallend blau gestrichenen Dächern erkennen, sie stachen förmlich heraus. Doch der Rest des kleinen Hofes unterschied dich nicht von den anderen. Die beiden Frauen, beide schon über 70, aber noch fast bei vollen Kräften, bewirtschafteten ein mittelgroßes Feld, auf dem sie Kartoffeln anbauten, einen kleinen Gemüsegarten mit Gewächshaus und einen Stall mit einem Schwein und ca. 30 Hühnern. Das Leben hier erinnerte mich beinahe an das Mittelalter, nur das man hier nicht mehr Wasser am Brunnen holen musste. Und auch das ca. 50 m² große Haus, das sie bewohnten, erinnerte eher an ein Bauernhaus aus dem frühen, 20. Jahrhundert. Geheizt wird auch heute noch in kleinen Kaminen, gekocht auf einem Gasherd und das Waschbecken hat keinen Wasserhahn, nur einen mit wassergefüllten Kanister, an dem man einen Metallstab hochdrücken muss, das kalte Wasser hinaus läuft. Viele Menschen, die heute in Paris oder Berlin wohnen, können sich das Leben in solch' einem entferntem Land kaum vorstellen, wenn man es ihnen vor Augen führt, bekommt man ungläubige und erschrockene Blicke. Und doch sind die Menschen dort glücklich, wenn sie mit ihrer Familie zusammen sind, im Sommer schwimmen gehen können und im Winter nicht frieren. Meine Mutter lernte meinen Vater kennen, als er dort studierte und folgte ihm bald zurück nach Deutschland, damals war ich 1 einhalb Jahre alt. Trotzdem verbrachte ich einen Großteil meiner Kindheit dort. Ich nahm alles als selbstverständlich hin, erst heute, wenn ich daran zurück denke, erkenne ich erst, wie tief die Kluft zwischen Arm und Reich ist. Die Tante meiner Mutter, heute schon über 80, wurde mit einer chronischen Krankheit geboren, doch damals hatte die Familie kein Geld für eine Behandlung. Und auch die schwere Feldarbeit hat ihr zuschaffen gemacht. Heute muss die fast wöchentlich operiert werden, nur um am Leben zu bleiben. Wenn ich daran denke, bin ich mir sicher, dass ich niemals so enden will, lieber will ich früher sterben.
Heute wohne ich mit meiner Familie in einem recht großen Haus, wir haben alles, was wir zum leben brauchen und viel mehr. Aber ich habe gemerkt, dass es nicht glücklich macht. Manchmal ist es, wie gegen eine Wand zu laufen, so als würde man in Rio de Janeiro aus dem Flugzeug steigen, wenn ich die Menschen anschaue. Ich habe schon früh gelernt, niemandem zu vertrauen. Die Welt ist voll Hass, Neid, Hinterhältigkeit, Verrat, Angst, Gewalt und Gier. Und ich wurde zu oft enttäuscht, bin zu oft gefallen, sodass es mir schwer fällt, Hoffnung zu haben. Auf den ersten Blick scheinen sie alle sehr glücklich zu leben, haben Freunde, freuen sich über Geschenke und Feste. Aber es ist alles nicht... true. Überall spielt Geld eine Rolle, wenn man keins hat, kann man nicht glücklich sein. Da ist zu viel falsches Spiel, zu viel Fassade, zu viel Scheinwelt. Im Grunde wollte ich nie so sein. Und wenn man anders denkt, als die Mehrheit, wird man oft abgelehnt. Wirklich verstanden wurde ich nie. Bis ich den Metal für mich entdeckte. Es war ungefähr mit 11 oder 12. Ich begann, diese Musik zu lieben, fühlte mich verstanden, die Texte brachten alles ans Licht, was die Menschen verdrängten, aus Angst, ihre Mauer würde fallen. So wurde sie als krank abgetan, denn sie war anderes, außerhalb vom Mainstream. Ich ging meinen eigenen Weg, aber dies ist bis heute nicht leicht und wird es nie sein. Ich war die einzige in meiner Jahrgangsstufe, die Bandshirts trug und Metal hörte, während andere Mädchen in meinem Alter sich für Hello Kitty und Dsds interessierten. Wenn man anders ist, wird man schnell zum Außenseiter, auch wenn ich immer einige gute Freunde hatte, die zu mir hielten, außerhalb von Oberflächigkeit und Vorurteil. Dabei war es mir auch wichtig, dazu zu gehören, eine Zeit lang. Und obwohl ich mich innen drin leer, einsam und unverstanden fühlte, begann ich, die selbe Mauer um mich herum auf zu bauen. Lachte und scherzte mit den anderen, doch ich war trotzdem nie dauerhaft glücklich, trotz guter Noten und einer Menge Spaß, die ich tatsächlich hatte. Manchmal versuchte ich sogar, mir selbst ein zureden, vor zumachen, ich wäre glücklich. Freunde und Feinde kamen und gingen, Höhen und Tiefen kamen und gingen, doch die Einsamkeit und die Leere blieben. Und in mir wuchs der Druck heran, die Mauer aus Lügen, die Fassade aufrecht zu erhalten. Irgendwann wurde der Druck zu groß, und wenn die Stille schrie, konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich drohte immer wieder, im schwarzen See der Leere, dem Nichts zu versinken und um diesen Druck los zu werden, begann ich, mir selbst in den Arm zu schneiden. Es war ein befreiendes Gefühl, mit jedem Tropfen Blut sank der Druck, der Schmerz vertrieb das schwarze Meer unter mir.
Dann lernte ich Julian kennen. Zunächst waren wir nur Freunde, ich hielt ihn auf Distanz, Misstrauen trennte ihn von mir, zu groß war die Angst, verletzt zu werden. Aber nach einem Jahr fanden wir zusammen. Er war für mich anders als die anderen, vorurteilslos, brachte mich zum lachen, wirkte intelligent und erwachsen. Obwohl wir so verschieden waren, konnten wir uns alles erzählen. Wenn ich bei ihm war, konnte ich ich selbst sein, alles vergessen, dann gab es nur noch mich und ihn. Er ist bis heute der einzige, der jemals wusste, dass ich mich ritzte. Und er konnte es nicht mit ansehen. „Ich kann es nicht ertragen“, sagte er immer zu mir, „zu sehen, was du dir selbst antust.“ Ich versprach ihm, ich würde es nie wieder tun, aber es war nicht einfach. Vielleicht so wie einen Säufer vom Alkohol zu trennen. Er brauchte sein Bier und ich brauchte den Schmerz. Ich schaffte es aber doch, mit seiner Hilfe. Heute sind die alten Narben verschwunden, aber wenn der Druck wiedermal zu groß wurde, begann ich, mir meine langen Fingernägel in Handflächen oder Arme zu bohren. Manchmal kann man, wenn man genau hinsieht, die zahlreichen, feinen roten Linien erkennen. Ich wollte es immer vermeiden, darauf angesprochen zu werden, deshalb trug ich meistens langärmelige Pullis, selbst im Sommer. Ich wundere mich ab und zu selbst noch, wieso meine Eltern es nie gemerkt haben, aber eigentlich ist es auch besser so. Ich habe noch heute einen Schutzengel, Julian. Immer, wenn er Glück hatte, flüsterte er: Ich hab’ an dich gedacht, du bist mein Schutzengel, mein Glücksbringer.“ Und ich antwortete mit einem Lächeln. Trotzdem trennten wir uns nach ungefähr einem Jahr. Wir wohnten knapp 90 km auseinander, erbrauchte Vertrauen und das konnte ich ihm nicht geben. Heute sind wir dennoch Freunde geblieben.
Aber ich war wieder allein. Und ich begann, mich wieder selbst zu verletzen. Bis ich den Tobias kennen lernte. Eigentlich lernte ich ihn nie wirklich kennen, er weiß meinen Namen nicht, wir haben nie ein Wort gewechselt. Er war auch anders als der Rest, hatte die schönsten und längsten Haare aller Jungen auf der Schule. Und es machte mir jedes Mal neuen Mut, wenn ich ihn sah, auch meinen eigenen Weg zu gehen. Er war immer mein Vorbild und ich gab es schließlich auf, meine Fassade aufrecht zu erhalten. Ich bin vielleicht nicht glücklich, aber wer ist es schon? Zumindest habe ich aufgehört, mir selbst etwas vorzumachen. Und das Ritzen blieb von selbst aus. Das war auch eine Bestätigung, das mein Weg der richtige war, auch wenn er vielleicht in eine andere Richtung als die der anderen führt, auch wenn er wohlmöglich eine Straße ins nirgendwo ist.
Doch ich werde nie verstehen, wie eine junge Frau von vielleicht 20 Jahren in einer Bahnhofstoilette an einer Überdosis Heroin sterben kann und höchstens 500 Meter weiter Jungendliche zur gleichen Zeit Witze über Drogen machen und Wasserpfeife rauchen können oder wie im Irak täglich tausende Menschen an Anschlägen oder in Thailand Menschen an Hungersnot sterben und die Regierung in Europa zu gleichen Zeit über eine einheitliche Gurkenform diskutieren kann. Die Welt ist nicht perfekt und wird es nie sein, ich kann sie nicht verbessern, ich werde niemals mit der Welt und dem Leben klarkommen, aber ich habe gelernt, es zu akzeptieren, wie es ist.
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Alt 19.06.2009, 18:57   #2
weiblich C.Alvarez
 
Benutzerbild von C.Alvarez
 
Dabei seit: 07/2006
Ort: Mauritius, stella clavisque maris indici
Beiträge: 4.889


Liebe Athariel,

ich teile durchaus die Ansichten, die in deiner Geschichte geschildert werden.
Ich kann das überhaupt alles sehr gut nachvollziehen, es erinnert mich an Peru.
Ich weiss nicht - du nennst einmal Rio de Janeiro - von welchem Land du sprichst, aber es ist auch nicht so wichtig. Es gibt genug.
Deine Gedanken und Empfindungen haben mich sehr berührt, dein Text geht mir sehr nahe. Denn er ist so realistisch, wahr und traurig wie die Wahrheit nun mal ist.

Lieber Gruss

corey
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