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Alt 16.07.2016, 18:08   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Lucy

Ich sitze auf dem Balkon und starre in den Mond. Der Himmel ist klar und voll lustig glimmernder Sterne. „Wie schön“, denke ich und fühle mich hundselend. Vor vierzehn Stunden habe ich den Menschen verloren, den ich mehr als alles auf Welt liebte. Für den ich alles tat. Dem ich die Sterne zu Füßen legte, die jetzt dort oben über mich lachen. Lucy hat mich verlassen. Einfach so. Und in einem Moment, wo ich am wenigsten damit rechnete.

Eigentlich hatte ich nie einen Grund, anzunehmen, dass Lucy mich verlassen könnte. Ich war ihr Rettungsboot in einer stürmischen See, und wer springt freiwillig in das brodelnde Wasser zurück, aus dem er gezogen wurde?

Aber Lucy hat mich verlassen. An diesem Morgen, exakt zwölf Minuten nach neun Uhr. Ich weiß nicht, weshalb, und dieses Nichtwissen zertrümmert mir den Verstand.

Niemand hat sie abgeholt. Sie ist allein gegangen, im Koffer nur das Nötigste. Ihre restlichen Sachen wolle sie von einer Freundin abholen lassen, hat sie gesagt. Nie gab es einen Hinweis, ein anderer Mann könne im Spiel sein. Nie gab es Streit zwischen uns, nie hatte sie etwas an mir auszusetzen. Ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht erfahre, weshalb sie ging.

Während ich an meinem Bier nippe, wühle ich in Erinnerungen, besessen davon, den Schlüssel zu einer Erklärung zu finden.

Ich begegnete Lucy im Supermarkt. Genauer gesagt, stand ich hinter ihr an der Kasse. Sie hatte zu wenig Geld dabei und konnte die Rechnung für ihren Einkauf nicht begleichen.

„Sie können mit Kreditkarte bezahlen“.

„Nein … nein, ich habe keine Kreditkarte.“

„Was wollen Sie dann zurückgehen lassen?“

Lucy griff verlegen nach den Spaghetti, nach dem Geschirrspülmittel und dem Toilettenpapier und prüfte den Rest ihres Einkaufs.

„Das sind alles Billig-Artikel, so kommen wir nicht hin. Wie wäre es mit dem Wodka?“

Lucy fand keine Antwort, sie stand da wie gelähmt. Mir dauerte das Prozedere zu lange, denn ich musste meinen Hund in zehn Minuten beim Sitter abholen, also mischte ich mich ein.

„Wieviel Geld fehlt denn?“

„Elf Euro siebzehn.“

Ich schob der Kassiererin einen Zwanzig-Euro-Schein hin und erhielt das Wechselgeld. Während sie meinen Einkauf eintippte, fuhr Lucy ihren Einkaufwagen zum Parkplatz und lud die Sachen in den Kofferraum ihres Fiat. Dort wartete sie, bis ich aus dem Laden kam.

„Danke. Sie haben mich gerettet.“

„Weshalb gibt Ihnen Ihr Mann zu wenig Geld mit?“

„Wieso denken Sie, dass ich verheiratet bin?“

„Eine hübsche Frau wie Sie müsste einen Drachen zum Bewacher haben, um nicht von einem Mann entführt zu werden.“

„Machen Sie immer so plumpe Komplimente?“

„Nein, an guten Tagen fällt mir auch mal etwas Geistreiches ein.“

„Ich möchte Ihnen das Geld zurückgeben. Haben Sie eine Visitenkarte? Oder kommen Sie regelmäßig hierher?“

„Beides. Ich würde Sie gerne wieder hier treffen.“

„Ich bevorzuge die Visitenkarte.“

„Warum haben Sie nicht den Wodka zurückgegeben?“

„Sie fragen zu viel. Bekomme ich nun die Visitenkarte?“

Ich zog meine Brieftasche hervor, nahm eine Visitenkarte heraus und gab sie ihr.

„Donnerwetter, vornehme Gegend! Einer wie Sie kauft selbst ein? Ich rufe Sie an und sag Bescheid, wann ich wieder hier bin. Dann können wir uns treffen und abrechnen.“

„Sagen Sie mir, wie Sie heißen? Sonst weiß ich nicht, wer Sie sind, wenn Sie anrufen.“

„Simon. Ich heiße Lucia Simon.“

Als sie die Autotür öffnete, winkte sie mir noch einmal kurz zu, dann stieg sie ein und startete den Motor.

Ich sah ihr nach, wie sie vom Parkplatz fuhr. „Was für eine schöne Frau,“ dachte ich und schob meinen Einkaufswagen zu meinem Auto.

Fast drei Monate lang hörte ich von Lucy nichts und schimpfte mich abwechselnd einen Volltrottel und die gute Seele der Menschheit. Als ich überzeugt war, den Idiotentest bestanden und Lucy in die Jagdgründe des Vergessens entlassen zu haben, stand sie unangemeldet vor meiner Tür.

Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich sie erkannte.

Ihr rechtes Auge war geschwollen und die Schläfe von einem mehrfarbigen Bluterguss überzogen. Die Unterlippe hatte einen Riss und war mit Blut verkrustet, über die linke Wange zog sich eine breite Schürfwunde, und ihr schönes dickes Haar war mit einer undefinierbaren Masse verklebt.

„Großer Gott! Was ist passiert?“

Ich stieß die Tür bis zum Anschlag auf, nahm Lucy am Arm und zog sie in meine Wohnung.

Sie hatte keine Anstalten gemacht, ihre Verletzungen zu kaschieren. Sie weinte nicht. Sie setzte sich auf meine Couch, sah vor sich hin und blieb ganz still, als habe gerade die Zeit angehalten. Ich goss Cognac in ein Glas und schob es ihr zu, aber sie beachtete es nicht. Ihr Anblick rührte mich bis an die Grundfesten meines Herzens. Frenzy, mein Beagle, schien meine Gefühle zu teilen, denn er legte seine Sabberschnauze zärtlich auf ihren Oberschenkel und gab ein Schniefen von sich. Als ich mich zu ihr setzte und den Arm um sie legte, flüsterte sie: „Bitte helfen Sie mir.“

Ihre Worte setzten mich in Bewegung. Ich holte heißes Wasser, einen Waschlappen und Wundsalbe, reinigte ihre Lippen und ihre Haare, trug die Salbe auf und bettete ihren Kopf auf ein Kissen. Als ich eine Decke über sie breitete, war sie eingeschlafen. In diesem Augenblick durchflutete mich ein Glücksgefühl, wie ich es noch nie in meinem Leben verspürt hatte. Ich beugte mich zu ihr, küsste sie auf die Stirn und ging zu Bett.

Am nächsten Morgen war Lucy verschwunden. Das Kissen war aufgeschüttelt und die Decke sorgsam gefaltet. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Zettel mit dem Wort „Danke“, daneben ein Geldbetrag von elf Euro fünfzig. Ich nahm den Cognac, den sie nicht angerührt hatte, und kippte ihn hinunter.

„Warum hast du sie gehen lassen?“ herrschte ich Frenzy an, der in Vorfreude auf sein Frühstücksfutter um mich herumwedelte. „Hättest du mich nicht wecken können, du dummer Köter?“

Von diesem Tag an änderte ich mein Kaufverhalten. Ich legte keine Vorräte mehr an, sondern kaufte für den täglichen Bedarf nach dem Motto: „Immer frisch auf den Tisch.“ Trotzdem landeten mehr Lebensmittel in meinem Abfalleimer als je zuvor. Ich litt an chronischer Appetitlosigkeit und verlor rapide an Gewicht. Mein Arzt zappelte sich redlich ab, mir eine Diagnose zu stellen, war aber zum Scheitern verurteilt. Die Krankheit, an der ich litt, kam in keiner Vorlesung vor und war nie empirisch erforscht worden: Liebeskummer.

Ich musste Lucy wiedersehen und lungerte jeden Tag im Supermarkt herum, oft sogar zweimal am Tag. Dann entdeckte ich sie endlich. Aber sie war nicht allein. Ihr Begleiter war ein Hüne, und er sah verdammt gut aus. „Was für ein schönes Paar,“ durchfuhr es mich und gab mir einen Stich vom Herz bis zum Magen.

Am Abend stand ich vor dem Spiegel und prüfte meine Figur. In der Frontansicht ging sie als akzeptabel durch, aber im Profil besehen kamen mir erstmals im Leben Selbstmordgedanken. Beim Messen der Körpergröße hatte mich der Herrgott um zehn Zentimeter beschissen … na gut, damit kann jeder leben, der die Steinschleuder beherrscht.

Wenigstens bestand mein Gesicht den Test. Und das nicht nur, weil Frenzy es mit Hingebung abzulecken pflegte. Damals war ich ein hübscher Kerl, den die Frauen anzumachen versuchten. Aber das zählte nicht mehr, denn ich wollte Lucy und nichts als Lucy.

Als sie zum zweiten Mal vor meiner Tür stand, war sie noch übler zugerichtet. Ich rief den Notarztwagen und ließ sie in eine Klinik bringen. Als es ihr besser ging, besuchte ich sie.

„Warum tut Ihr Mann das?“

„Er weiß nicht, was er tut, wenn er betrunken ist.“

„Warum verlassen Sie ihn nicht?“

„Er ist mein Mann, und er braucht mich.“

„Bis dass der Tod euch scheidet?“

„So haben wir es geschworen.“

„Er wird Sie umbringen!“

„Dann ist es Gottes Wille.“

„Unsinn! Nichts ist Gottes Wille. Nichts ist in Stein gemeißelt. Kein Gott der Welt kann verlangen, dass Sie sich opfern!“

„Er, also Niklas – so heißt mein Mann - war nicht immer ein Ungeheuer. Er war höflich, zärtlich und liebevoll. Es gab keinen Apfel, den er nicht mit mir teilte.“

Es war der Augenblick, an dem ich vom Sie auf das Du überging und Lucy hemmungslos anschrie.

„Du verbocktes Weib! Du hast nur dieses eine Leben, und das lässt du dir stückweise aus dem Leib prügeln von einem Kerl, der längst mit seinem eigenen Leben abgeschlossen hat! Morgen schicke ich dir meinen Anwalt, und der wird deinen Scheidungsantrag aufsetzen, und noch ehe das Jahr abgelaufen ist, wirst du geschieden sein!“

Nick leistete keinen Widerstand. Er beteuerte, seine Frau immer geliebt und nur das Beste für sie gewollt zu haben und dass er seine Ausraster bedauere. Als die Scheidung ausgesprochen wurde, heulten beide Rotz und Wasser. Ich war immer noch fasziniert davon, was für ein schönes Paar die beiden abgaben. Dann fuhr ich Lucy zu ihrer Freundin, bei der sie sich vorübergehend einquartiert hatte.

Drei Monate später waren Lucy und ich verheiratet.

Ich war der glücklichste Mensch auf der Welt. Und ich besaß die schönste Frau auf der Welt.

„Zieh das Kleid aus!“

„Warum?“

„Du siehst aus wie ein Kanarienvogel. Zieh das rote an!“

„Rot ist ordinär.“

„Rot ist Liebe und Leidenschaft, und die Farbe steht dir gut.“

„Rot macht mich blass!“

„Musst du immer streiten? Kannst du mir nicht einmal einen Gefallen tun?“

Lucy hatte sich auf die Party gefreut, aber dann rannte sie ins Schlafzimmer und schloss die Tür ab. Dabei hätte sie doch nur das rote Kleid anziehen müssen. Verstehe einer die Frauen!

„Überraschung!“

Ich sah in Lucys funkelnde Augen.

„Ich habe für unseren Hochzeitstag ein Hotelzimmer in Paris gebucht.“

Mir fiel die Kinnlade runter.

„Was soll ich in Paris?“

„An der Seine flanieren und französisches Flair genießen, den Körper lockern und den Geist freimachen – einfach entspannen.“

„Ich kann kein Französisch. Und zum Entspannen haben wir den Balkon.“

„Spießer!“

So ging sie mit mir um, meine Lucy, der ich das Leben gerettet hatte. Die Buchung konnten wir glücklicherweise kostenfrei stornieren.

Aber die große Zumutung kam, als sie mir ihren Führerschein präsentierte und in ihrem eigenen Vehikel vorfuhr! Da kapierte ich, weshalb es monatelang mehr Eier als Fleisch auf dem Teller und ungewöhnlich oft Eintopf gegeben hatte.

„Du wirst das Auto abmelden und verkaufen!“

„Ich denke nicht daran!“

„Du kannst mein Auto fahren.“

„Das sagst du jetzt.“

„Ist dir mein Schlitten nicht fein genug?“

„Ich brauche keinen feinen Schlitten! Mir genügen vier Räder und ein Dach über dem Kopf, wenn es regnet.“

„Du bist undankbar!“

„Und du bist ein Monster!“

Das waren die letzten Worte, die ich von Lucy hörte. Wir sprachen den ganzen Abend kein Wort mehr miteinander und gingen so zu Bett. Frenzy schlief an ihrem Fußende. Ich war von Gott, der Welt und von meinem Hund verlassen.

Am nächsten Morgen nahm sie ihren Koffer und ging. Mir fehlten die Worte, sie zurückzuhalten. Frenzy verbiss sich in ihren Mantel, aber sie ging entschlossen weiter, bis Frenzy losließ.

Es klingelt an der Tür.

„Ich bin Yvonne. Lucy hat mich geschickt, ihre Sachen zu packen.“

„Kommen Sie herein.“

Ich sehe zu, wie Yvonne Schubladen öffnet und Lucys Habseligkeiten in einem Sack verstaut.

„Dürfen Sie mir sagen, wo sie ist?“

„Ja. Sie ist bei Nick. Und sie ist glücklich.“

Ich schließe die Tür hinter ihr und setze mich auf den Balkon. Über mir blinken die Sterne und lachen mich aus.

Geändert von Ilka-Maria (16.07.2016 um 23:14 Uhr)
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Alt 16.07.2016, 22:22   #2
männlich Sonnenwind
 
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brächtest du ein buch mit kurzgeschichten heraus,
ich würd es kaufen.

gelungener spannungsbogen.
in sich geschlossener text, der einen am ende mit verdoppelter betroffenheit an den anfang zurückwirft.

ein tippfehler ist mir irgendwo aufgefallen.

lg
Sonnenwind
Sonnenwind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.07.2016, 23:14   #3
männlich dr.Frankenstein
 
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Hast das aus dem Lied my name is Lucca extrahiert gemischt mit isanek Gedanken?

Der Retter.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.07.2016, 05:35   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
Hast das aus dem Lied my name is Lucca extrahiert gemischt mit isanek Gedanken?

Der Retter.
@Sonnenwind
Danke für das Feedback. Ich habe noch einige mehr Vertippser gefunden.

@Frankie
Das Lied kenne ich nicht. Aber mit der Beeinflussung durch Isanek liegst Du richtig.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.07.2016, 12:42   #5
männlich Nöck
 
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Eine Kurzgeschichte, die es in sich hat. Neugierig und mitfühlend habe ich sie in einem Rutsch durchgelesen und immer wieder gedacht, was passiert jetzt.

LG Nöck
Nöck ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.07.2016, 22:55   #6
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.082


Zitat:
Zitat von Nöck Beitrag anzeigen
Eine Kurzgeschichte, die es in sich hat. Neugierig und mitfühlend habe ich sie in einem Rutsch durchgelesen und immer wieder gedacht, was passiert jetzt.

LG Nöck
Schön, wenn du es als unterhaltsam empfunden hast, Nöck. Danke.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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