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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 25.06.2014, 23:10   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Eine Frage an zeitbetroffen Geschädigte

Ich wuchs im Nordend meiner Geburtsstadt Offenbach auf. Dort wohnte ich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr in einer Straße, die den Namen eines großen deutschen Dichters trug. Meine Mutter hatte es geschafft, von der zuständigen Stelle unter Androhung, sich mit dem Kinderwagen und meiner darin befindlichen Baby-Wenigkeit vor die St.-Paul-Kirche zu stellen und so lange zu demonstrieren, bis unsere kleine Familie eine menschenwürdige Behausung vermittelt bekäme, eine kleine Wohnung in einem Altbau zu bekommen. In Anbetracht dessen, dass nach dem Krieg alles in Schutt und Asche lag, war das eine beachtliche Leistung.

Offenbach hatte im Jahr 1944 zwei schwere Fliegerangriffe hinnehmen müssen, einen im März und einen im November, die der nachbarlichen Nähe zu Frankfurt zuzurechnen waren und die einigen hundert Menschen das Leben kosteten.

Ich wuchs also im Nordend von Offenbach in der Goethestraße auf, nicht weit entfernt von der übrigen Familie, die sich – schnell vermischt mit Einheimischen und zugewanderten Kriegsflüchtlingen - in der Ludwigstraße, Taunusstraße und in der Frankfurter Straße niedergelassen hatte, also in einem Radius von maximal fünfzehn Gehminuten.

Meine Großmutter väterlicherseits wohnte in der Frankfurter Straße, direkt in der Innenstadt, nicht weit entfernt von der Kreuzung zur Herrnstraße. Ich war gerne bei meiner Großmutter, denn ich liebte meine Großmutter, und ich liebte die Innenstadt. Hier stand das Leben in Blüte: Es gab große Warenhäuser – Kaufhof und Neckermann -, jeden Steinwurf weit ein Kino und ebenso viele Cafés, aber auch die kleinen Geschäft, wie die Eisenwarenhandlung, in der die Nägel für den Verkauf noch einzeln abgezählt und in Tütchen versenkt wurden, oder den Milchmann, der die Milch mit der Kelle aus einem Bottich in die Milchkanne schöpfte. Wer etwas Billiges brauchte, wie zum Beispiel ein Küchenkneipchen, einen Kleiderbügel oder ein Puppenkleidchen, der ging zu Woolworth. Und es gab den Delaidotti, die erste italienische Eisdiele, die Kugel für fünf Pfennig.

Als ich eingeschult wurde – und zwar in die Schule mit dem gleichen großen Namen „Goethe“ -, waren wir vierundvierzig Kinder. Das regte damals keinen Pädagogen, keine Eltern und keinen Politiker auf, weil das völlig normal war. Die Lehrer fühlten sich nicht überfordert, weil Disziplin herrschte. Natürlich waren wir damals auch Kinder und betrieben Unsinn, waren nicht immer aufmerksam, murrten zuweilen, beschwerten uns sogar, wenn drei Prüfungsarbeiten auf einen Tag fielen … aber wir hatten Disziplin und wurden nicht unverschämt. Wir konnten mit unseren Lehrern reden, weil wir sie nicht als Widersacher empfanden, sondern als Leute, die hier und da auch nicht alle Umstände im Blickfeld haben.

In den nachfolgenden Jahrgängen wurde es nicht besser: Unsere Klassen waren immer voll. Auf einem Klassenfoto der fünften Klasse, aufgenommen auf einer Klassenfahrt, zähle ich immer noch dreißig Schüler, aber es waren mehr dabei. Bei der nächsten Klassenfahrt waren es fünfundzwanzig Schüler – das entspricht in etwa der Zahl der Schüler, die mit mir zusammen den Realschulabschluss erreicht hatten.

Heute gilt eine Schulklasse mit mehr als zwanzig Schülern als problematisch und für einen Lehrer nicht zu bewältigen. Zu meiner Zeit war das zu bewältigen. Was hat sich geändert? Die Psyche der Lehrer, die Psyche der Schüler, der Lehrauftrag, das Lehrpensum, das Lernziel, die Vermittlungsmethode, der gegenseitige Respekt?

Ich bin gerne im Nordend meiner Geburtsstadt aufgewachsen, weil es eine schöne Zeit war. Ich liebte meine Stadt – ich liebe sie auch heute noch – weil sie so viele Kinos und so viele Spielflächen hatte. Ich ging gerne zur Schule, weil meine Schule eine phantastische Schule mit außerordentlich guten Lehrern war.

Und ich ginge lieber noch einmal unter den Bedingungen von damals in die Schule, mit vierundvierzig Kameraden als mit nur maximal achtzehn, die ihrem Lehrer jeden Tag zu beweisen versuchen, dass er wieder mal auf ganzer Linie versagt hat.

Es war ja schon immer die leichteste Übung, das eigene Versagen anderen Schulter aufzupacken.

Ich frage mich, weshalb heute so viele Dinge schwer und untragbar sind, die früher einfach mal so nebenbei bewältigt wurden.

Ilka
am 25.06.2014
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Alt 26.06.2014, 23:38   #2
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Standard Liebe Ilka-Maria

Möchtest du die Antwort einer Lehrerin, einer Schülerin, einer Schulleiterin, einer Mutter, einer Tochter?
Ich könnt grad mit allen dienen... 😊
Liebe Grüße
Poe
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Alt 27.06.2014, 00:00   #3
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Zitat:
Zitat von poetra Beitrag anzeigen
Möchtest du die Antwort einer Lehrerin, einer Schülerin, einer Schulleiterin, einer Mutter, einer Tochter?
Ich könnt grad mit allen dienen... 😊
Liebe Grüße
Poe
Ich möchte wissen, weshalb Schulklassen mit über vierzig Schülern - und zwar von der Einschulung an - früher funktioniert haben, niemand sich über zu viele Schüler pro Klasse aufregte, die Lehrpläne mehr Leistung forderten als heute, mehr Schüler einen Abschluss hatten als heute und weshalb heute viel mehr Lehrer als damals schon mit 50 in den Vorruhestand treten. Ich möchte wissen, weshalb eine Klasse mit mehr als zwanzig Schülern eine Herausforderung an die Lehrer ist und weshalb Lehrer heute nicht mehr in der Lage sind, sich Respkt zu verschaffen und Disziplin durchzusetzen. Wer mir darauf antworten kann, ist willkommen.
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Alt 27.06.2014, 11:33   #4
männlich Pit Bull
 
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Hallo Ilka-Maria!

Die Klassenstärke spielte auch zu meiner Schulzeit keine übergeordnete Rolle, zumal das Klassenzimmer groß genug war, um allen Platz zu bieten.

Was allerdings den Lehrkörper angeht, habe ich so meine Zweifel, ob die früher einfach cooler und durchsetzungsfähiger waren, als heute.
Viele meiner ehemaligen LehrerInnen hatten psychische Probleme, unsere Englisch-Lehrerin zB. war Alkoholikerin und unser Kunst-Lehrer litt unter Angstzuständen.
Früher wurde m.E. über solche Befindlichkeiten wenig bis gar nicht gesprochen – darüber lag schlichtweg ein Schleier des Schweigens - das ist heute anders und das finde ich auch gut so.

Früher hat man überhaupt so gut wie gar nicht über psychische Probleme gesprochen, obwohl es bereits zu meiner Kindheit gut gefüllte Psychiatrien gab.

Deine Geschichte finde ich gut erzählt, gibt sie doch Einblicke in ein Familienleben, das damalige ggf. soziale Verhältnisse verkörpert.

VG Pitti

[PS: Ich bin 1970 eingeschult worden]
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Alt 27.06.2014, 15:00   #5
weiblich poetra
 
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Gut, die Antwort einer Lehrerin:
Ich würde mir durchaus zutrauen, eine Klassenstärke von 40 Kindern zu stämmen, wenn ich:
- nicht zwei körperlich Behinderte in der Klasse hätte ( eins im Rollstuhl, eins gehörlos)
- für diese zwei Kinder mehr als zwei Stunden die Woche (pro Kind jeweils eine Stunde) eine zusätzliche Lehrkraft im Unterricht hätte
-nicht zwei Kinder mit Lernbehinderungen in der Klasse hätte (und damit meine ich nicht Leserechtschreibschwäche und Dyskalkulie…)
-nicht bei fünf Kindern permanent mit Jugendamt und Sozialtherapeuten kooperieren müsste, um Ihnen den Schulbesuch, Versorgung der körperlichen Grundbedürfnisse und ein Zuhause zu ermöglichen, in dem sie weder geschlagen, noch missbraucht werden
-nicht für 29 Schüler individuelle Lernstandsentwicklungsbögen führen müsste
-ich schlagen dürfte ( - dies mehr als Hinweis, dass das durchaus lange Zeit gängige Praxis und Erziehungsmaßnahme war. Ich würde davon keinen Gebrauch machen!!! Angst als Erziehungsmittel ist einfach keines, was uns 55 jährige Kolleginnen im Burnout beweisen, die sich nur über Leistung definieren und Angst vor Ablehung als extrinsische und schließlich intrinsische Motivation erleben. Dies als Erziehungsmittel ermöglichte allerdings so einiges!- ob das positiv wäre,bezweifle ich stark...)
-wieder Schüler in die Grundschule bekäme, die einen Stift halten und rückwärts laufen können, Respekt vor dem Eigentum anderer besitzen und verstanden haben, dass sie nicht allein auf der Erde leben- bevor sie eingeschult werden! Ich habe gerade einen neuen Schüler bekommen, der als erste Amtshandlung in die Trinkflasche seiner Mitschülerin gepinkelt hat...
-das Leid der Kinder ignoriere, was ich nicht kann...
-ausschließlich mit Lehrwerken arbeite und nicht
-den Kindern, denen Primärerfahrungen fehlen, die Möglichkeit gebe, die Dinge selbst handelnd zu erfahren und
-die Materialien dafür zur Verfügung gestellt bekäme und sie nicht nachts selber basteln, laminieren oder sammeln müsste, nachdem meine eigenen drei Kinder von mir und nicht Papa oder Oma ins Bett gebracht wurden ( denn früher gab es auch das noch: Familie als Rückhalt und nicht hunderte Kilometer von einander entfernt)
(wieviele Frauen haben damals gearbeitet und ihre Kinder parallel groß gezogen- nicht erst Familie und dann wieder arbeiten?)
-wieder männliche Kollegen an der Grundschule hätte, weil sie dort genauso viel Geld verdienen wie am Gymnasium (ich hoffe ihr wisst, dass dem nicht so ist…)- es würde den schwierigen Jungs sooooo gut tun, eine Identifikationsperson zu erleben. (die gibt es nämlich oftmals nur am Wochenende, wenn Besuchskontakt zum Vater ermöglicht wird…)
... Es gäbe natürlich noch eine Menge zu sagen zu den Veränderungen familiärer Strukturen, zu fehlender Freude an Kindern im Alltag so vieler Menschen, zum Thema Respekt und Begegnung mit Humor und Liebe, dass ich jedoch denke, die Position einer Lehrerin einer dritten Klasse hier dargestellt zu haben... Sei lieb gegrüßt von Poe- die sich manchmal auch mehr Ruhe wünscht, aber ihren Job und ihre Klasse über alles liebt und sich dennoch wirklich freut, wenn es im nächsten Durchgang weniger Schüler werden sollten- allein die vor mit liegenden Diktate werden um ein Drittel schneller korrigiert sein und mir Zeit geben für die Zeugnisse, die direkt daneben liegen...
poetra ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.06.2014, 15:27   #6
Thing
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Ich kann nicht mitreden.
Ich kam in die Schule, da gab es für die 8 Jahrgänge zwei Klassenzimmer.
Klasse 1 - 4 mit einer Lehrerin
Klasse 5 - 8 mit einem Lehrer.

Prügelstrafe gabs nicht.
Lehrerin und Lehrer waren souverän.
Kichern und Tuscheln ließen sie minutenlang durchgehen.
Aber nach "Aufpassen!" waren wir Schüler/innen wieder aufmerksam.

Laut waren manche Pausen auf dem Schulhof.
Da wurde viel getobt.
Trotz Lehreraufsicht.
Aber alles im Rahmen.
Heut wäre das keinen Blick wert.

Warum nur?


Im Gymnasium ging es weitaus strenger zu.
Aber wir waren auch 24 Schüler in der Klasse.
Wenn Mais (Französichlehrer) oder einer der beiden Werwölfe* (Mathe, Latein und Griechisch) durch die Tür trat, war Stille.
Vorm Rex stand man starr. Er war d i e Autorität.

Nur der Geolehrer hatte nichts zu lachen- der ließ sich irritieren.


*Einer der Beiden vegetiert noch im Pflegeheim, deshalb keinen wahren Namen.
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