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Alt 22.02.2015, 01:32   #1
weiblich sachi
 
Dabei seit: 02/2013
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Eine Fahrt im Intercity. Dafür würde ich gerade meine Seele verkaufen. Stattdessen stehe ich mit ausgestrecktem Daumen an der Straße, der Schnee hat meine Schuhe durchgeweicht. Auf den Dächern glitzert das Eis in der Morgenröte.
Noch 60 Kilometer bis Wiesbaden. Am Ende meiner Reise wartet eine heiße Dusche, ein luxuriöses Hotelzimmer, Champagner. Und Frank. Es wird unser zweites Treffen.
Ich müsste das nicht tun. Das Geld reicht zwar nie, aber irgendwie schlage ich mich immer durch. Hungern muss ich nicht, und von den Drogen lasse ich aus Prinzip die Finger. Warum also tue ich mir das an? Natürlich kenne ich die Antwort. Es ist dieses widerwärtige Gefühl, wenn ich alleine bin. Die Stille in der Wohnung. Die Leere. Die Panik, die dann schleichend aufsteigt und dieser seltsame Druck, der wie ein riesiger Tumor von innen gegen jede Faser meines Körpers drückt. Als wäre mein Kopf mit Stacheldraht umwickelt und jemand würde ihn unaufhaltsam fester ziehen.
Ein Wagen hält, eine ältere Frau schaut mich freundlich an. Ihr Blick zeigt eine Mischung aus Vorsicht und Mitgefühl. Vielleicht hat sie selbst einen Sohn in meinem Alter. Auf der Fahrt lädt sie ihren Kummer bei mir ab – zu jung geheiratet, die Karriere aufgegeben, der Mann nie Zuhause. Ich zeige mich verständnisvoll und schlucke ihren Seelenmüll. Im Leben ist eben nichts umsonst. Wenigstens darf ich im Auto rauchen, und sie bringt mich bis vor das Hotel. Sie fragt nicht, und ich erkläre nichts.
„Na mein Junge?“ Frank redet nicht viel. Streichelt mir über die Wange. Ihm gefällt, was er sieht: Glatte Haut, fast wie bei einem Mädchen. Ein feminines Gesicht, große Augen, die Haare dunkelblond, ein bisschen zerzaust. Mein Bartwuchs ist zum Glück nicht stark und ich bin frisch rasiert. Ich weiß, was den Alten gefällt.
Es läuft wie beim letzten Mal. Wir bleiben nicht lange. Das hat Zeit bis später, das Zimmer ist für das ganze Wochenende bezahlt. Zuerst braucht Frank ein anderes Spiel. Auf dem Bett liegt ein Anzug für mich bereit. Er fühlt sich teuer an, als ich hineinschlüpfe.
Das Casino taucht vor den Scheiben von Franks BMW auf wie eine pompöse Manifestation des Reichtums. Es erinnert mich an einen Film über das deutsche Kaiserreich, den ich einmal gesehen habe. Riesige Gebäude, alles voller Stuck, Samt und Gold. In der Mitte der Kaiser mit gezwirbeltem Schneuzer, unterwürfige Frauen in Ballroben, knicksend, den Blick demütig gesenkt, fiebernd auf ein anerkennendes Nicken des Monarchen hoffend. Heute präsentieren hier sonnengebräunte High-Society-Ladys ihr aufreizend-überheblichen Grinsen, den Kopf hoch erhoben. Und Ihr Ziel ist doch das Gleiche geblieben, heute wie vor hundert Jahren.
Wir betreten die Spielhalle, es stinkt nach Geld. Frank schreitet vorweg, ich folge ihm tapsend, unsicher. Wie ein Hund dem Herrchen, schießt es mir durch den Kopf.
Frank grinst mich an, drückt mir ein paar Plastiksstücke in die Hand. Ich linse darauf: Es sind Jetons im Wert von zweihundert Euro. Ein Vorschuss? Sicher nicht. Er protzt gerne mit seinem Geld, kann es sich auch leisten. Er ist ein hohes Tier in seiner Firma und hat keine Verpflichtungen, keine Frau, keine Kinder. Aber er hat seinen Ruf, und den will er nicht verlieren. Heute Abend bin ich sein Neffe, der Sohn einer jüngeren Schwester aus der Provinz. Er erfindet gerne Rollen für mich, ich glaube, das gibt ihm ein Gefühl von Macht – als wäre er ein Gott, der seine Kreatur erschafft. Beim letzten Mal war ich sein neuer Assistent, die große Entdeckung, frisch von der Elite-Uni abgeworben. Bei unserem „Geschäftsessen“ im Sternerestaurant musste ich mir, um das Bild abzurunden, mit Franks hundert-Euro- Kugelschreiber auf einem Block imaginäre Notizen machen. Den Zettel habe ich aufgehoben. Neben ausgemalten Kästchen, Schlangenlinien und Zickzackmustern prangt ein Satz aus der Mitte: Du bist der letzte Dreck. Später im Hotel gab er mir ein Kleid und rote Damenschuhe in Größe 39.
„Amüsier dich, Kleiner.“ Er lässt sein Hündchen laufen, gewährt ihm gnädig ein bisschen Freiheit, bevor er es wieder an die Leine nimmt. Er verschwindet in Richtung der Black Jack Tische. Ich stehe verloren in der Menge. Ist es Einbildung, oder starren mich die Leute an? Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Ob sie sehen können, das ich nicht hierher gehöre? Ob sie sehen können, was ich bin? Ich flüchte mich zur Bar, beruhige meine Nerven mit einem Wodka-Lemon. Nach dem dritten fühle ich mich schon besser. „Noch einen“ raune ich dem Barmann zu. Er schaut mich skeptisch an. „Wie wärs zu Abwechslung mit einem schönen, großen Milchkaffe?“ Ich sage ihm, wo er sich den Kaffee hinstecken kann, hieve mich vom Hocker und schlendere betont lässig zum Roulette-Tisch. Es ist das einzige Spiel hier, das ich kenne. Meine Großmutter hatte so ein Roulette Spiel für Zuhause, aus Plastik. Der Gedanke macht mich traurig, ich lasse ihn schnell hinter die sanfte Wand des Wodka-Nebels gleiten.
Vor dem Spieltisch lungere ich unschlüssig herum. Das Plastik brennt in meiner Hand. Eine Menge Geld für einen wie mich, ich könnte es nehmen und einfach abhauen. Essen und Tabak für mindestens 3 Wochen, einfach so, ohne die andere Sache... Aber wann in meinen 25 Lebensjahren war ich je vernünftig? Plötzlich steht mir mein ganzes verkorkstes Dasein vor Augen, all die Momente, in denen ich versagt habe. 25 Jahre vollgestopft mit falschen Entscheidungen, verpassten Chancen. 25 Jahre Selbsthass. „Also, Looser“, denke ich, „dann kommt es hierauf auch nicht mehr an.“
Ich dränge mich vorbei an einem fetten Kerl mit Halbglatze, wulstigen Lippen und verschlagenen Augen. Mafia oder Banker, schätze ich. Als ich den Einsatz mache, fühle ich mich wie eine Mischung aus James Bond und Klaus Kinski.
Alles auf die 25. Im Spielcasino geht das lärmende Treiben unverändert weiter, nur für mich hört kurz das Leben auf, verzerren sich die Sekunden zu Äonen, als die Kugel im Kessel rotiert. Sie wird langsamer, taumelt, bleibt liegen. 25.
Der fette Mafia-Banker schnauft jovial, sein Gesichtsausdruck will zeigen: „Ich gönns dem Jungen. Für mich alles Peanuts.“ Er klopft mir auf die Schulter und holt mich so aus meiner Schockstarre. Von außen muss ich verdammt cool aussehen. Wie einer, der es so dicke hat, dass er sich nicht mal übers Gewinnen freut. Sie wissen ja nicht, dass gerade mein Herz stehengeblieben ist und erst langsam wieder seinen Dienst antritt. Plötzlich fällt mir Frank ein, ich bekomme Panik. Hastig lasse ich mir meinen Gewinn auszahlen und eile durch die angelehnte Tür nach draußen. Zünde mir zitternd eine Zigarette an. Lasse den Rauch in meinen Lungen kratzen.
Ich spüre etwas Kaltes an meiner Stirn. Durch das Chaos in meinem Kopf dringt schwammig das prasselnde Geräusch von Tropfen auf Glas. Die Feuchtigkeit breitet sich auf meiner Haut aus, beruhigt mich, bringt mich runter. Meine Gedanken werden wieder klarer. Plein. Sechsunddreißig mal zweihundert.
Wer, um alles in der Welt, wird mir diese Geschichte glauben? Ich seufze, weil es eigentlich egal ist. Denn wenn ich ehrlich bin, gibt es niemanden, dem ich sie erzählen kann.
Ich stiere in die Dunkelheit. Irgendwo in der Nähe war doch ein Taxistand. Vorsichtig schließe ich die Tür hinter mir und trete hinaus auf die Straße.
Am Ende stehe ich wieder ganz allein im Regen. Aber heute fühlt es sich gut an.
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