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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 15.02.2010, 15:21   #1
weiblich Hanna
 
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Standard Verstrickt

Als ich damals dastand, saß oder einfach wahr war, ein Bündel molekularer Massen in der Zwischenwelt, im Niemandsland, und die Schöpfung um mich, da hatte ich geliebäugelt mit dem Dasein in einem wie auch immer gearteten Körper. Wobei ich nicht weiß, ob das alles mit rechten Dingen zuging.
Ich hätte auch ein Tier werden können, ein Insekt oder eine Spinne. Ja, eine Spinne - vielleicht aus der Unterordnung Mesothelae?
Ich sah kreative Geister, Seelen wie ich waren sie, versteckt in Körpern, mit Verstand, den sie gebrauchten zum Schreinern, Häuserbauen, Malen, Bildhauern, Denken, Schreiben; ich konnte Gärtner beobachten und... ich wollte dabei sein.
Mein Blick war auf die Welt und die Menschen fixiert, und gefühlt, ohne zu richten, spürte ich - kurzum: ein Sehnen nach dieser Form.
Welchen Verlauf alles nahm, wer mich zu zeugen und zu gebären auserwählt wurde, wie ich körperlich und geistig heranwuchs, das alles ist nebensächlich. Mein Dasein in einer hochzivilisierten Welt - nein, Gesellschaft(!) - hat sich als eine Vielzahl von Maschen und Mustern ergeben.

Ich stricke leidenschaftlich gern, und das seit mehr als zehn Jahren. Von Schlauch- über Netz- und Gitter- bis hin zum Kreuzpatent, Perl-, Reiskorn, Ziegelmuster: die Stricknadeln klappern unentwegt und immerzu. Jedenfalls dann, wenn ich nicht arbeiten muss. Sieht gerade niemand hin, surfe ich auf der Arbeit im Internet nach neuen Strickmoden. Feierabends habe ich schon eine Fülle von Gedanken und Vorstellungen, wie mein nächstes Strickmuster aussieht, wie es mir gefällt, wie es wirkt. Auf dem Weg heim komme ich nicht an Wollgeschäften vorbei - ich muss hinein und mich umschauen. Meist kaufe ich ein bis zwei Pfund Wolle, Baum-, Schafs- oder Mohair-, manches Mal auch Mischwolle, um Abwechslung in meinem Wollcontainer zu wissen. Die Farben sind mir dabei allerdings egal. Sie waren schon immer Nebensache.

Stricknadeln verschiedener Stärken führe ich generell in meiner Handtasche mit mir. Oft kommt es vor, dass ich nicht warten kann, bis ich zu Hause bin, sondern mich einfach genötigt sehe, loszustricken - irgendwo, auch schon mal in einer Kneipe am Fenster. Ein paar Dutzend Schals warten noch auf ihre Träger. Wenn ich aus einem Wollrest ein gutes Stück gestrickt habe und die mitgeführte Wolle verbraucht ist, ribble ich das Alles wieder auf, wickle sie liebevoll zu einem neuen, kugelrunden Knäuel und beginne von vorn. Das übt. Und ich liebe kugelrunde Knäuel. Oft gehe ich erst nach Mitternacht heim, von wo auch immer. Meine Familie schläft dann schon. Das ist besser so, denn ich mag nicht abgelenkt werden von meiner Handarbeit, und ich hasse Rechtfertigungen. Erich und Sebastian, mein Mann und mein Sohn, waren noch nie wirklich begeistert von meiner Leidenschaft. Sebastian hätte gern, dass ich mal wieder sein Lieblingsgericht koche: Rouladen in Pilzsauce mit Salzkartoffeln und Rotkohl. Erich hätte wohl vor allem gern mal wieder Sex. Aber ich bin für mich da, für mich allein auf der Welt, war es von Anfang an. Ich lege keinen Wert mehr auf Menschen um mich, außer - sie würden ebenfalls stricken.

Schließlich hätte es ja durchaus mal passieren können, dass ich eines Tages etwas Richtiges fertigstelle. Mein größter Wunsch wäre gewesen, einmal einen richtigen Pullover für Erich hergestellt zu haben, den er auch gern anzieht, auf den er stolz ist - naja, auf den zuallererst natürlich ich stolz hätte sein können, da will ich ehrlich sein. Ja. Einen schicken, außergewöhnlichen Pullover mit V-Ausschnitt und Zopfmuster, an den Schultern beginnend und die Ärmel entlang, abschließend mit breiten zweirechts-zweilinks-Manschetten zum Umschlagen. Darunter hätte er eines seiner guten Boss-Hemden tragen können. Jeder hätte diesen Pullover gesehen, den von mir gestrickten Pullover! Aber das alles ist Wollfaser von gestern. Heute Nacht ist es passiert, einfach passiert: Ich habe mich verheddert.

Ein Knoten in der Wolle hat mir alles zunichte gemacht. Ich bin wehrlos gegen diesen Knoten. Und was das für einer ist! Kein einfacher, nein, sicher 250 Gramm wiederaufgerollter Wolle hat sich streckenweise dermaßen ineinander verschlungen, dass es mir unmöglich ist, diesen Teil einfach hinauszuschneiden und wegzuwerfen, als Reihenbeginn 2 Fäden zu lassen, die ich unbemerkt beim Zusammenfügen der Vor- und Rückseite hätte vernähen können. Es ist zuviel Material, und nun reicht es für die Manschetten nicht mehr.

Ich habe mir aus Verzweiflung ein paar doppelte Wodka bestellt, und das war gut so - die Bedienung schien verständig, sie hatte vielleicht eine Ahnung von meinem Zustand. Es ist mittlerweile halb vier Uhr morgens, Feierabend, der Wirt hat mich gebeten zu gehen. Und ich tappe im Dunkeln. Ich werde nicht mehr heim gehen, nicht zu meiner Familie. Die verhedderte Wolle ruht in meiner Handtasche. Ach nein, sie ruht nicht, genausowenig wie ich. Sie brennt, sie lacht mich aus, verhöhnt mich, sie zeigt mir einen Vogel, sie beschämt mich.

Alles ist vertan, vorbei.
Ich habe versagt, und die Wolle, das Stricken, meine Passion, meine Berufung, ist mir zum Verhängnis geworden. Das nennt man also 'Tücke des Objekts', glimmt noch mein letztes Fünkchen Kraft in mir nach. Um endgültig zu erlöschen. Ich will zurück, nur noch zurück. Keinen Körper mehr haben, kein Gesicht, keine Gestalt. Ich suche meine Stricknadeln, in der Dunkelheit wühle ich, die Handtasche offen auf nassem Asphalt und ich vor ihr knieend, durch alle bekannten Utensilien, bis ich sie habe. Endlich. Sie sind mein Schicksal, diese Nadeln, Sie werden es bleiben. Ich sehe sie ein letztes Mal an, denke an die Möglichkeiten, die ich vertan habe.
Erst berühre ich probeweise sacht mit der Spitze mein wundes Manipura-Chakra. Sie werden mich erlösen, meine Nadeln. Auf sie ist Verlass. Sie waren schon immer meine Waffen gegen das, was Dasein heißt.
Hanna ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2010, 03:36   #2
männlich Phobipp
 
Benutzerbild von Phobipp
 
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Beiträge: 449

Auch wenn ich mich überhaupt nicht fürs Stricken begeistern kann, hat es mir dieser Text angetan, da er doch viel mehr enthält als nur Wolle.
Hat mir sehr gut gefallen.
Phobipp ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2010, 14:02   #3
weiblich Hanna
 
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Hallo Phobipp
und vielen Dank für's Lesen und Kommentieren; und dass mich freut, dass Du's gern gelesen hast ... ich glaub', das kannste Dir schon denken
Ja, ich hab viel reingepackt und lese selbst auch immer wieder noch was zusätzlich raus, obwohl ... vielleicht würde ich sie auch noch mal umschreiben, die Geschichte, anders gestalten, ich weiß nicht - aus solchen Gründen stelle ich ja auch ein: Um ggf. Anregungen zu bekommen oder Stellen aufgezeigt zu bekommen, wo sich augenscheinlich nur der Schreiber zurechtfindet *örks*.


Also nochmals ....
DANKE!
LG
Hanna
Hanna ist offline   Mit Zitat antworten
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