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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 29.12.2007, 17:02   #1
Jeanny
 
Dabei seit: 04/2007
Beiträge: 660

Standard Was zuletzt stirbt...

Abgeplatzt vom Verstand
100 Jahre wie ein Krieg,
hingeschmissen leere Worte
weil nur das dann übrig blieb.

Keine Häuser baun im Leben
keine Bäume pflanzen ein.
Keine Kinder zeugen wollen,
keine Bücher schreibt man dann.

Kinder fragen uns nach Wegen
die wir längst vergessen haben.
Schicken sie ins Ungewisse,
Hoffnung liegt da schon begraben...
Jeanny ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.12.2007, 18:06   #2
Richmond
 
Dabei seit: 07/2007
Beiträge: 9

Hallo Jeanny,

herzlichen Glückwunsch: Ich widme dir meinen ersten Beitrag in diesem Forum.

Dein Gedicht gefällt mir ziemlich gut, an manchen Stellen würde ich trotzdem etwas rumkritteln wollen:

Zitat:
Abgeplatzt vom Verstand
100 Jahre wie ein Krieg,
hingeschmissen leere Worte
weil nur das dann übrig blieb.
Was den Rhythmus betrifft, verwendest du durchgehend einen Trochäus; nur im ersten Vers nicht (Absicht?): hier gibt es einen Hebungsprall (und dadurch hervorgerufen eine Zäsur): ABgePLATZT | VOM verSTAND. Das könnte man beheben, indem man ein viersilbiges Wort an den Versanfang stellt und "abgeplatzt" ersetzt: "abgebröckelt" beispielsweise würde gehen...

V.4: die vielen Einsilber machen diesen Vers ziemlich sprunghaft und abgehackt; diesen Effekt unterstützen besonders auch die Wörter in der Mitte, die sich phonetisch (lautlich) sehr ähnlich sind.

Zitat:
Keine Häuser baun im Leben
keine Bäume pflanzen an.
Keine Kinder zeugen wollen,
keine Bücher schreibt man dann.
Diese parallelistische Schaltung gefällt mir an der Mittelposition ziemlich gut.

V.2: "keine Bäume pflanzen an": damit habe ich ein Problem, weil die Bäume hier wie der Agens erscheinen (d.h. als würden sie selber anpflanzen), während es doch passiv heißen müsste "keine Bäume angepflanzt werden" (klar, das zerschießt den Rhythmus, aber ich weise trotzdem mal darauf hin).

Zitat:
Kinder fragen uns nach Wegen
die wir längst vergessen haben.
Schicken sie ins Ungewisse,
Hoffnung liegt da längst begraben...
V.3: Auch hier gibt es ein Anschluss-Problem: Das "schicken" ist zunächst auf die Kinder als handelnder Instanz bezogen, wenn das Personalpronomen "wir" ausgelassen wird; der Leser versteht erst am Ende des Verses, dass das Verb mit einer Wir-Gemeinschaft verbunden ist (welche übrigens auch erst an dieser späten Stelle eingeführt wird, was etwas verwirrend sein mag).

An manchen Stellen habe ich das Gefühl, dass der Rhythmus in diesem Gedicht eine übergeordnete Bedeutung bekommen hat, was ein bißchen auf Kosten der Grammatik geht; allzu extreme und häufige Kompromisse gibt es freilich nicht, doch die wenigen, auf die ich hingewiesen habe, können schon ein wenig stören. Trotzdem vermittelt das Gedicht eine klare Botschaft, dessen kritischer Gehalt trotz dieser kleineren Hürden beim Leser ankommen dürfte.


Viele Grüße - Richmond
Richmond ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.12.2007, 21:25   #3
Jeanny
 
Dabei seit: 04/2007
Beiträge: 660

Standard RE: Was zuletzt stirbt...

Hallo Richmond,
da bin ich also die 1., bei der Du hängen geblieben bist.
Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar.
Mein Problem nach wie vor ist es, daß ich aus Gefühl und Momenten heraus schreibe und mich da von den jeweiligen Emotionen lenken lasse.
Ist dann dieser Moment vorüber,häng ich an dem Werk wie,n Sack.
Hab versucht, durch klitzekleine Veränderungen noch was zu retten...
L.G. Jeanny
Jeanny ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.12.2007, 14:35   #4
Richmond
 
Dabei seit: 07/2007
Beiträge: 9

Standard RE: Was zuletzt stirbt...

Zitat:
Original von Jeanny
Mein Problem nach wie vor ist es, daß ich aus Gefühl und Momenten heraus schreibe und mich da von den jeweiligen Emotionen lenken lasse.
Ist dann dieser Moment vorüber,häng ich an dem Werk wie,n Sack.
Der Trick ist, dass man seine Gefühle von der Produktion trennt; manchen hilft es, wenn sie spontane Einfälle oder Stimmungen im Notizbuch festhalten, und sie erst nach einer Weile künstlerisch aufbereiten; so gerät man nicht in diesen Zugzwang, gleich niederschreiben zu müssen, was einem gerade durch den Kopf geht. Nachträgliche Korrekturen, da stimme ich dir zu, sind äußerst schwierig, insbesondere wenn es gleich mehrere Textstellen gibt, die überarbeitet werden müssten; deshalb ist es so wichtig, vorausschauend zu schreiben und nicht für den Moment.

Viele Grüße, RM
Richmond ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.01.2008, 09:58   #5
Lila
Gast
 
Beiträge: n/a

Jeanny und Richmond,
Das Gedicht hat inhaltliche Substanz und ist auch sprachlich gut (meiner Meinung nach jedenfalls). Bei der ersten Zeile ging es mir wie RM, mein Vorschlag ist "Abgeplatzt vom Denken". Was die grammatischen 'Fehler' angeht, ich empfinde sie als wichtige dichterische Verfremdung der Sprache. Damit wird die inhaltliche Aussage nur verstaerkt.
Habe euren Dialog genossen! Frohes Neues Jahr!
Lila
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Alt 17.01.2008, 22:07   #6
männlich Milano
 
Dabei seit: 12/2007
Alter: 51
Beiträge: 179

Standard RE: Was zuletzt stirbt...

Das ist wirklich gut.
"Abgeplatzt vom Verstand"
Doch die Frage des Verstandes wird in jeder Gesellschaftsform anders interpretiert.
Bei uns ist es ein Rennen nach Geld.
Mir gefällt, dass Du die wichtigen Dinge aufzählst, wie Kinder, ein Baum pflanzen usw. doch die Sinnentleerung dieser Gesellschaft läßt alles sehr grotesk wirken.
Milano ist offline   Mit Zitat antworten
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