Der Aktionskünstler bei Poetry.de

urluberlu · 30.06.2015, 09:07

Die Sonne stand noch tief,
als sich ein Mann, Familienvater,
auf seinen Weg begab,
den er bis anhin erst im Kopf gegangen.

Die Katze auf der Schwelle schnurrte,
blinzelte und suchte kurz,
den Rücken tunnelartig hochgestellt,
Kontakt mit seinem Knie.

Im Haus drin schliefen seine
Frau und die drei Kinder.
Noch fehlte eine Stunde, bis der Radio-
Wecker in die Ruhe einfiel.

Er drehte die Hand am Schlüssel
und lauschte dem kurzen Geräusch
der Zündung. Der Motor lief,
als wäre alles wie sonst.

Als er am gewohnten Ort
an die Bordsteinkante fuhr,
um den andern aufzunehmen,
blendete die Sonne bereits stark.

Er grüsste, die Autotür schlug,
er klappte die Blende herunter.
Behutsam reihte er sich in den Verkehr ein,
der wie üblich sehr zäh floss.

Der Tote auf dem Nebensitz
erzählte von der kleinen Feier,
die sie gestern im Garten abhielten.
Das angekündigte Gewitter war ausgeblieben.

Geräuschlos und rucklos
folgte das Lenkrad dem
Hin und Her seiner Hände.
Sanft änderte er die Richtung.

Nur das Blut, das dem Mann
auf dem Beifahrersitz
beim Reden aus der Kehle sprudelte,
machte ein unpassendes Geräusch.

Die Ampel an der Einfahrt
schaltete ohne Verzug auf Grün.
Der Drahtzaun glänzte ein wenig
feucht in der Morgensonne.

Der Kopf wackelte ein bisschen
auf seinem Hals, als das Auto hielt.
Endlich konnte er ihn standesgemäss
der Öffentlichkeit präsentieren.

Er musste sich beeilen,
aber die Zeit würde reichen
für ein kleines Erinnerungsfoto.
„Selfie mit abgetrenntem Kopf“.

30.06.2015, 09:07	#1
urluberlu R.I.P. Dabei seit: 07/2014 Alter: 73 Beiträge: 2.273 Meine Gedichte	Der Aktionskünstler Die Sonne stand noch tief, als sich ein Mann, Familienvater, auf seinen Weg begab, den er bis anhin erst im Kopf gegangen. Die Katze auf der Schwelle schnurrte, blinzelte und suchte kurz, den Rücken tunnelartig hochgestellt, Kontakt mit seinem Knie. Im Haus drin schliefen seine Frau und die drei Kinder. Noch fehlte eine Stunde, bis der Radio- Wecker in die Ruhe einfiel. Er drehte die Hand am Schlüssel und lauschte dem kurzen Geräusch der Zündung. Der Motor lief, als wäre alles wie sonst. Als er am gewohnten Ort an die Bordsteinkante fuhr, um den andern aufzunehmen, blendete die Sonne bereits stark. Er grüsste, die Autotür schlug, er klappte die Blende herunter. Behutsam reihte er sich in den Verkehr ein, der wie üblich sehr zäh floss. Der Tote auf dem Nebensitz erzählte von der kleinen Feier, die sie gestern im Garten abhielten. Das angekündigte Gewitter war ausgeblieben. Geräuschlos und rucklos folgte das Lenkrad dem Hin und Her seiner Hände. Sanft änderte er die Richtung. Nur das Blut, das dem Mann auf dem Beifahrersitz beim Reden aus der Kehle sprudelte, machte ein unpassendes Geräusch. Die Ampel an der Einfahrt schaltete ohne Verzug auf Grün. Der Drahtzaun glänzte ein wenig feucht in der Morgensonne. Der Kopf wackelte ein bisschen auf seinem Hals, als das Auto hielt. Endlich konnte er ihn standesgemäss der Öffentlichkeit präsentieren. Er musste sich beeilen, aber die Zeit würde reichen für ein kleines Erinnerungsfoto. „Selfie mit abgetrenntem Kopf“.