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Alt 13.04.2010, 00:01   #1
Aporie
 
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Standard Kopf oder Herz?

Vergangene Woche habe ich mein Herz aus einem Lautsprecher klopfen gehört. Ich lag auf eine grünen Laken, und während mein Kardiologe den Brustkorb mit einem leicht gerundeten, mich fröstelnd machenden Metallstempel abtastete, konnte ich selbst einen Blick in mein Herz tun. Auf dem Monitor sah es aus wie die Schwarzweißillustration einer Wetterprognose: eine dunkle Regenwolke in einer sich rasch nähernden Schlechtwetterzone. Die Wolke blähte sich in einem Rhythmus auf, der auf geheimnisvolle Weise meiner war, und sackte wieder zusammen, an ihren Rändern schienen weiße Blitze zu zucken. Die Folgen des Herzinfarkts vor mehr als zehn Jahren konnte ich deutlich sehen, sie lagen in der schwarzen, stummen Ecke oben rechts, aber der Rest tickte noch immer so wie vor 5 oder 10 Jahren. Falls man mir je ein neues Herz einpflanzen müsste, dachte ich, während ich diesen furchterregenden Blick in mein Inneres tat, würde ich vorher darum bitten, das alte für mich aufzuheben. Nicht um es mir alle paar Jahre wieder mal anzusehen wie das Fotoalbum meiner Mutter. Es müsste einfach gut verpackt in Spiritus liegen, im obersten Abteil des Schranks, wo all die anderen abgelaufenen Dokumente liegen, die ich von Wohnung zu Wohnung schleppe. Ich möchte nur verhüten, dass mein Herz, während ein fremdes in mir tickt, als Abfall entsorgt oder als Tierfutter verwendet wird. Die Vorstellung gleicht dem Gefühl, zu Lebzeiten ein Untoter zu sein, was so ziemlich genau das Gegenteil ist von dem, was ich mir immer gewünscht habe, nämlich auch nach meinem Tod in den Köpfen der Menschen am Leben zu sein.
Als ich kürzlich in der Poesie früherer Jahrhunderte blätterte, habe ich mich nebenbei gefragt, ob es tatsächlich besser ist, den Kopf und nicht das Herz für den Sitz der Gefühle zu halten. Liebende haben früher das Bild des Anderen im Herzen getragen. Man schrieb noch keine Romane, in denen diese Bilder ständig umgehängt werden müssen und das Bild einer Frau plötzlich im Herzen eines anderen Mannes hängt.
Wo ein Bild gehangen hat, das man nach langer Zeit entfernt, bleibt ein heller Fleck zurück. Ich habe diesen hellen Fleck auch noch gespürt, nachdem er schon längst wieder zugedeckt worden war von einem anderen Bild. Was aber geschieht, falls nicht das Bild, sondern das Herz gegen ein anderes ausgetauscht werden muss? Wie kann man das Bild der Geliebten in einem Herzen tragen, das einmal in einem anderen Mann geschlagen hat?
Auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass ich diese Frage je beantworten muss: In Herzenssachen möchte ich doch lieber mit dem Kopf entscheiden. Den kann man nicht so leicht gegen einen anderen austauschen.
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Alt 13.04.2010, 01:10   #2
männlich Ex-JavaScript
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Hi A.,

Als Kind habe ich mir schon die Frage gestellt: Warum das Herz? Ist es nicht nur Organ? Eine Pumpe? - Heute verstehe ich eher warum die ganze Literatur, die halbe Geschichte und die Kunst das Herz, als Symbol für starke Verheerung wæhlt(das ist nicht zufâllig so, es hat schon einen Grund, warum es überall auf der Welt, das Herz als Synonym für Liebe steht)

Ich denke, da es sich im Zentrum des menschlichen Körperbefindet setzt sich die menschliche psyche dort einen blinden Punkt der Orientierung(Bewusst?),
da das Gehirn ständig den ganzen Körper visualisiert, sind solche geometrischen Vortsellungsideen garnicht mal so unwichtig. Psychologisch gesehen bildet sich jeder Mensch ein Ich ein, wer er ist und was er kann. Wenn du auf dich zeigst und sagst das bin ich. Zeigst du nicht auf den Kopf, sondern auf die Brust, dass kommt nicht von ungefæhr.

Also Herz, weil wir, solange es geht, Mensch sein müssen. Roboter hätten auf ihr Cpu gezeigt.(was wir nicht müssen)

Lg
JL

ps:Grüsse aus Ch
Ex-JavaScript ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2010, 01:53   #3
Aporie
 
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Hallo Locke

Zwei Herzen schlagen in meiner Brust, ist auch so ein ein längst vergessenes Wort aus der Datei Herzundschmerzromantik . Aber auch im Kopf tickt es doppelt.Trotzdem sagen die Superstarmädchen, wenn ihnen nichs Anderes mehr einfällt: "ICH bin halt ICR. Man muss mich nehmen, wie ich bin." Sie würden besser sagen: "Ich bin halt ICH und ICR. Das eine ist meine Erfindung und das andere eher so, wie mich die Anderen sehen. Man muss halt beide nehmen, wie sie sind."
(So wie die Rechtschreibung, die neben das eine das Andere stellt und das andere neben das Eine. Hegel meint dazu kurz und bündig: Das Eine ist das Andere.)
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2010, 02:10   #4
männlich Ex-JavaScript
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Beiträge: 652

Amen.

Beidi halt, isch ja fast klar gsi

lg
JL
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Alt 13.04.2010, 07:33   #5
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.078

Bemerkenswerter Text, schön geschrieben und gut zu lesen.

Zitat:
Die Vorstellung gleicht dem Gefühl, zu Lebzeiten ein Untoter zu sein, was so ziemlich genau das Gegenteil ist von dem, was ich mir immer gewünscht habe, nämlich auch nach meinem Tod in den Köpfen der Menschen am Leben zu sein.
Da führst Du etwas an, über das ich mir oft Gedanken gemacht habe: Was wäre, wenn ich ein Ersatzorgan bräuchte, um weiterleben zu können? Bei der Vorstellung, das Organ eines anderen Menschen oder eines Tieres in mir zu tragen, schaudert es mich. Der Überlebenswille eines Menschen ist stark, das weiß ich, aber trotzdem versuche ich mir vorzustellen, ob ich mit einem Fremdorgan noch der gleiche Mensch wie vorher wäre. Das muß doch Auswirkungen auf die Psyche haben. Trotzdem scheint es Menschen zu geben, die nach so einem Organaustausch froh und glücklich sind.

Also, ich weiß nicht, da bin ich mir meiner nicht sicher, ob ich das könnte. Belasten würde mich auch die Vorstellung, daß dafür ein gesundes Tier sterben müßte. Und mit solchen Gedanken im Kopf soll man dann den Rest des Lebens rumbringen?
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Alt 13.04.2010, 10:29   #6
männlich Ex-Abendstern
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Beiträge: 581

Hallo Aporie,

ich kann mich dem Lob meiner Vorredner, wie es oft so schön heißt, eigentlich nur anschließen. Witzig geschrieben, angenehm ausgewogen in der Wortwahl, nachdenklich machend.

Also, der Text taugt was. Mehr davon!

LG
Abendstern
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Alt 13.04.2010, 14:31   #7
weiblich Tiffy
 
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Hallo Aporie,

mal wieder eine interessante Geschichte
Zitat:
Vergangene Woche habe ich mein Herz aus einem Lautsprecher klopfen gehört.
Mag ich

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Bei der Vorstellung, das Organ eines anderen Menschen oder eines Tieres in mir zu tragen, schaudert es mich.
Meine Nachbarin hat ne Herzklappe von einem Schwein transplantiert bekommen. Ein paar Tage nach der Op bekam sie zum Abendessen ein Schinkenbrot serviert.
Wer weiß, vielleicht kam der Schinken vom gleichen "Lieferant" wie die Klappe.
Das grenzt ja schon beinahe an Kannibalismus

Klar, ist es kein schöner Gedanke etwas fremdes, tierisches in sich zu tragen.
Allerdings wäre ich dankbar für eine Herzklappe von einem Schwein, wenn ich mich in dieser Situation befinden würde.
Mit dem Gedanken, etwas von einem Toten in mir zu tragen, hätte ich mehr zu kämpfen.

Aber Schluss damit, es kommt auf die Geschichte an und die war lesenswert!

Gruß Tiffy

PS. Kopf oder Herz? Ich entscheide mich, so lange es mein eigenes ist, für das Herz. Man bekommt nicht umsonst in den ungelegensten Situationen Herzklopfen.
Tiffy ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2010, 22:08   #8
Aporie
 
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Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151

Ich dachte ich mir schon, dass nun fast alle die Herzkarte ausspielen werden.
Was mich betrifft: Es ist mehr Wunsch als Wille in solchen Fällen, wo das Herz lauter pocht, als der Kopf denken kann, mich für den Kopf zu entscheiden, der bei Herzensangelegenheiten bisher meistens Urlaub machte.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2010, 22:38   #9
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
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Aporie, vielleicht unterschätzt Du Deinen Kopf, denn ohne ihn gäbe Dein Herz nicht mehr.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2010, 23:06   #10
Aporie
 
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Ort: Bülach (CH)
Beiträge: 151

Ja, Ilka Maria, so fügt sich alles zusammen. In diesem Strang sogar wir.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.04.2010, 15:04   #11
weiblich snali
 
Dabei seit: 03/2010
Alter: 33
Beiträge: 80

Tja.. ich bin immernoch ein überzeugter Herzenshörer..
War sehr angenehm deinen Text zu lesen.
Vor allem hat mir auch der kurze Rückblick gefallen, mit den Bildern, die man in die Herzen hängt...
snali ist offline   Mit Zitat antworten
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