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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 10.10.2019, 20:56   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Jede Stadt riecht anders

Diese These mag gewagt erscheinen.

Aber ich bin davon überzeugt, dass sie stimmt und dass ich sie, wenn auch nicht beweisen, aber doch erklären kann.

Jede Stadt hat ihren Eigengeruch. Er muss nicht immer gleichbleiben, kann sich vielmehr verändern durch andere Gerüche, die sich „einmischen“. Aber trotzdem behält jede Stadt ihren spezifischen Geruch, der sie von anderen Städten unterscheidet. Das ist natürlich ein subjektives Empfinden, weil das Erleben einer Stadt immer mit bestimmten Eindrücken zu tun hat, die ein Individuum auf sich wirken lässt und die sich in sein Gehirn eingraben.

Ich beginne mit meiner Geburtsstadt Offenbach. Sie riecht nach Leder, verfaultem Fisch, chemischem Gemisch und Gas. Das hat mit meiner Kindheit zu tun. In Offenbach war die Lederindustrie heimisch und bis heute findet zweimal im Jahr eine Lederwarenmesse statt. Der Main war verseucht, stank zum Himmel und trieb Ölteppiche und tote Fische vor sich her. Zu Hause wurde im Gasboiler Warmwasser gemacht. Gerüche, die haften bleiben, auch wenn sie heute nicht mehr existieren.

Frankfurt riecht nach Kuchen, Kleiderstoffen, Reichtum und Afrika. Hier war Rosemarie Nittribitt zu Hause, und hier gingen meine Oma und ich in der Adventszeit einkaufen, um uns einzukleiden. Nach dem Einkauf gab es den obglitarorischen Besuch im Café Wipra, dem „Papageien-Café“. Das Café lockte seine Besucher mit exotischen Tieren an, eine Sensation für Kinder. Natürlich war ein besonderer Reiz immer der Frankfurter Zoo gewesen. Auch als Erwachsene habe ich viel an Kleidung in Frankfurt gekauft und mich mit befreundeten Menschen in Cafés getroffen.

Berlin. Diese Stadt riecht nach Bewegung, Angst, Schweiß und Teer. Berlin stand an der Schwelle zur Weltmetropole, kurz davor, als die pulsierendste Großstand der Welt größer als New York zu werden. Hitler kam dazwischen – vorbei die Chance. Was blieb, war zu Überleben und im Fall des Ausbruchsversuchs aus Ost-Berlin, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Nach der Wiedervereinigung stank ganz Berlin nur noch nach Teer, weil gebuddelt und gebaut wurde ohne Ende. Ich war jedes Jahr dort und kann es bestätigen, und für mich bleibt Berlin bis zum Rest meiner Tage mit dem Geruch nach Teer verbunden.

Hamburg. Mit Hamburg kann ich nichts verbinden als ein Gefühl von undefinierbarer Frische. In Hamburg ist alles frisch. Ein bisschen Geruch könnte ich vielleicht noch dem Geflügel an der Binnenalster zuschreiben – aber nur vage oder vielleicht eingebildet. Dort hinterlassen noch nicht einmal die Schiffe, die Touristen in die Außenalster schippern, einen Geruch.

Gehen wir ins Ausland: Paris. Eine Stadt voll des Geruchs! Hier riecht alles anders als in Deutschland. Es riecht nach Tinte, Papier, Farbe, Kaffee, Wein, Gebäck, Jugend, Freiheit, Gelassenheit, Lebenlassen und Lebensgenuss. Ich sah einen Motorradfahrer – wirklich schwere Maschine – auf einem Gehsteig in mörderischem Tempo unter einem Fassadengerüst durchfahren, an zwei Polizisten vorbei. Sie riefen ihm etwas nach, ich vermute, dass er langsamer fahren solle (das Fahren auf breiten Gehsteigen ist in Frankreich normal). Der Fahrer drehte sich nicht mal um, und die Polizisten schrieben ihn nicht auf. Stellt euch so etwas mal im Deutschland vor! In Frankreich bleibt auch kein Fußgänger stehen, wenn seine Ampel auf Rot zeigt. Wenn kein Auto kommt, geht er über die Straße. Seine Entscheidung und legitim. In England übrigens auch.

London. Der papierene Geruch einer Oblade. Und genau die Steifheit, wenn man sie zwischen den Fingern hält. Legt man sie auf die Zunge, wird sie weich und löst sich auf. Genau danach riecht London.

New York. Auch hier gehen die Leute bei Rot über die Straße, sie sind weder deutsche Untertanen, noch Sicherheitsfanatiker und schon gar keine Staatshörigen. Aber wonach riecht New York? Meine Erfahrung sagt: Nach schwerer, dicker Luft. Die Luftfeuchtigkeit kann unerfreulich hoch werden, und zwar bei unerträglich hohen Temperaturen, die selbst einem gesunden Menschen das Atmen schwer machen. Dann versucht man sich in den Central Park an die Seen zu retten, aber besser wird es dort auch nicht. In dieser Situation riecht eine Stadt nach nichts mehr, nicht mal auf den Straßen, auf denen man alle Hydranten aufmacht, um die Bevölkerung mit Wasser zu versorgen. Wer etwas riechen will, muss also den Kopf in einen der schwarzen Müllsäcke stecken, die am Straßenrand stehen.

San Franzisco. Riecht für mich nach Blumen, Musik und Feldern. Ein bisschen auch nach leckeren Fischgerichten. Die Stadt ist nicht groß und von ihrer Aufteilung übersichtlich. Es gibt dort ein Haus, dessen Seitenwand mit Musikgrößen bemalt ist. Was die Felder angeht, war das ein Eindruck, den die „Helga Pictures“ des Malers Andrew Wyeth bei mir hinterlassen hatten. Fischgerichte – nun ja, eine Stadt am Meer, in der die Restaurants the „catch of the day“ anbieten.

The Falls. Keine Stadt, sondern ein Naturereignis. Da gibt es nicht viel zu sagen. Mein Ritt auf einem Boot zu den Horseshoe Falls roch ungefähr so wie frischgefallender Schnee.

Chicago. Der Geruch von Peppermint. Warum und wieso? Keine Ahnung. Diesen Eindruck habe ich einfach von dieser Peppermint-Architektur – die ich übrigens großartig finde.

Memphis. Diese Stadt riecht nach Lebenslust, Lebenswillen und Leidenschaft. Sie drückt es in Musik aus. An jeder Ecke und zu jeder Tageszeit musiziert jemand auf seinem Instrument. Kein Tourist ist vor diesen Musikern sicher, es gibt sie überall.

San Louis. Staub, Schweiß und Tränen. Pionierarbeit. Man riecht den Dreck an den Füßen der Leute den Schweiß an ihrem Leib und den Präriestaub auf den Planen.

New Orleans. Hier riecht man französiche Lebensart, gemischt mit kreolischen Speisen, dem Odeur des Mississippi und der Jazz-Musik aus Preservation Hall und Burbon Street. Der Geruch entfaltet sich besonders stark in den warmen Sommermonaten, wenn sich die Menschenmassen durch Burbon Street schieben.

Santa Barbara. Der Geruch von Wurzeln, naturbelassenen Seen und Bisamratten. In Santa Barbara sah ich den gewaltigsten Baum all meiner Reisen, und damit meine ich keinen Baum, der in den Himmel wächst, immer dicker wird, sich irgendwann einmal Mammutgewächs nennen darf und versteinert endet. Nein, ich meine einen Baum der sich nach allen Seiten entfaltet, also breit angelegt hat und ein schönes Beispiel abgibt, wie auch ein Mensch wachsen kann.

Hier ende ich, obwohl ich noch viele Gerüche anderer Städte und Gegenden schildern könnte – Atlanta, Savannah, Salt Lake City, Washington, Baltimore. Talahassee, Miami, Ocean City, Ducks Island, Naples, Tampa, Los Angeles, Carmel, Santa Monica, Boulder und und und.

Aber glaubt mir: Jede Stadt und jeder Ort riecht anders.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.10.2019, 19:02   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Liebe Ilka,

dieses Essay über die Gerüche verschiedener Städte spricht mich sehr an - literarisch und olfaktorisch. Schön geschrieben.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.10.2019, 19:17   #3
weiblich Ilka-Maria
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Danke, Silbermöwe. Das war ganz spontan, quasi aus dem Bauch heraus, entstanden.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.10.2019, 14:51   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Für mich hat Paris übrigens nach Zuckerwatte gerochen.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.10.2019, 04:33   #5
weiblich Unar die Weise
 
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Eine wunderbare Art des Sightseeings, eben Sightsmelling.
Wirklich eine grandiose Idee. Toll, dass du das mit uns teilst.

Ich stimme zu, ich verbinde Orte auch mit Gerüchen.
Sie bleiben eben lange im Gedächtnis.

In meiner Kindheit rochen die Städte nach Autoabgasen und den Auswürfen der verschiedenen Industrieschornsteine.
Filteranlagen gab es so gut wie nicht. Mancherlei Ruß konnte man sogar schmecken.
Heute bin ich enttäuscht, dass davon nichts mehr geblieben ist.
Klingt komisch, ist aber so.

-----------------------------------------------------------

Hier mal ein Versuch meinerseits.

Lauscha - roch nach Harz und Holz, wegen der Glasschmelzöfen

Schmalkalden - roch nach schlechtem Wasser, aber auch nach Waschmittel, da alle Abflüsse in den Fluss geleitet wurden und vor der Stadt nach Strom, wegen dem großen Umspannwerk

Suhl - roch nach Zweitaktmotoren und Altöl, aber glitzerte und schimmerte

Rostock - roch nach Siedesalz und Schiffsmotoren und prickelte auf der Zunge
Unar die Weise ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2019, 18:47   #6
weiblich Ex-frankaaimy
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Hallo Ilka,

schreibe ein Buch auf diese Art und Weise und schicke es ein!
Leider kann ich dir die Idee nun nicht mehr klauen!
Und leider kommt sie nicht von mir!

Du könntest beispielsweise auch Fotografien zum Text zeigen, an denen die Gerüche besonders wahrnehmbar waren.
Das Buch würde ich persönlich sofort kaufen, gäbe es dies im Handel.

Viel Erfolg!

- A.
Ex-frankaaimy ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2019, 18:51   #7
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
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Zitat:
Zitat von frankaaimy Beitrag anzeigen
schreibe ein Buch auf diese Art und Weise und schicke es ein!
Das liegt nicht in meinem Bestreben.

Ich will schreiben - nichts weiter.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.10.2019, 08:59   #8
männlich dr.Frankenstein
 
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Gefällt mir auch gut. Öffnet die Wahrnehmung. Hamburg hast recht, das hat mich auch gewundert. Darum war es dort so seltsam.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
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