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21.04.2012, 18:33 | #1 |
Forumsleitung
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Notruf
Mitten im Gespräch hat er aufgelegt. Ich stelle mein Telefon auf die Station, setze mich auf die Couch und sinniere halb benommen vor mich hin.
Wieder so ein Appell. Wieder dieses Klagen um die Unerträglichkeit des Seins und daß niemand außer ihm eines Gefühls mächtig sei. „Siehst du nicht, wie schwer dieses Leben zu ertragen ist? Geht es dir nicht so, daß du dir in der nächsten Minute angesichts dieses Elends auf der Welt nicht am liebsten die Kehle durchschnittest?“ „Wie kannst du nur mit der Masse schwimmen? Wie bringst du es fertig, jeden Tag zur Arbeit zu gehen? Und zweimal in der Woche zum Einkaufen in den Supermarkt? Zum Kotzen, das alles!“ Das höre ich mir an. Und ich denke: „Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, weil ich ein Abkommen habe, das mein Dasein sichert. Ich kaufe im Supermarkt ein, weil ich Nahrung brauche. Ich kotze nicht, weil der Alltag viel zu banal ist, daß es mir davon schlecht werden könnte. Die Kotze käme mir hoch, würde man sich an mir vergehen durch Verrat, Folter oder anderer Herabwürdigungen, von denen meine Ahnen bedroht waren.“ So sitze ich hier und überlege, weshalb mein Freund mir seine Klagen um die Ohren geballert und dann einfach aufgelegt hat. Klar: Er hat die Antwort nicht hören wollen, weil sie nicht in sein Weltbild paßt. Er hat mich in der Klemme. Ich rufe zurück. Keine Antwort. Nochmal. Keine Antwort. Was tun? Ich wähle den Notruf. Gebe meine Daten bekannt. Nenne die Adresse. Und weiß nicht, ob ich eine Stunde später Held oder Depp bin. 21.02.2012 by Ilka-Maria Geändert von Ilka-Maria (21.04.2012 um 22:16 Uhr) |
21.04.2012, 18:55 | #2 |
abgemeldet
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Deine Geschichte gefällt mir sehr, Ilka.
Die Antworten sind spitze. Es ist, glaube ich, sehr schwer zu entscheiden, ob man den Notruf informieren soll. Eine komplizierte Situation, die ganz schön an die Nieren gehen kann. Liebe Grüße Peace |
21.04.2012, 19:10 | #3 |
R.I.P.
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Interessant.
Weltschmerz abgewälzt, abgejammert auf den Telefonpartner. D e n manipuliert in Richtung Verantwortung. Möglich noch mit "hach, schlechtes Gewissen". Er wollte die Antwort nicht hören, weil sie nicht in sein Weltbild gepaßt hätte. D a r u m geht es. LG Thing |
21.04.2012, 22:00 | #4 |
Dabei seit: 03/2012
Ort: Vietnam Villenviertel
Alter: 59
Beiträge: 39
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Hallo Ilka-Maria!
Das lyrische Ich ( Du selbst?) befindet sich in einer kniffligen Lage, wo es doch eigentlich, ein unbeschwertes Leben zu führen scheint, wird es nun von einem Hilfesuchenden in Bedrängnis gebracht. Man mag mit dem lyrischen Ich mitfühlen und ist dazu verleitet die Klagen von " Ihm" als Stuss einzustufen. Er wirkt wie eine verlorene, unvernünftige Seele, gleichzeitig aber auch bemitleidenswert. Wieder so ein Appell. Wieder dieses Klagen um die Unerträglichkeit des Seins und daß niemand außer ihm eines Gefühls mächtig sei. „Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, weil ich ein Abkommen habe, das mein Dasein sichert. Ich kaufe im Supermarkt ein, weil ich Nahrung brauche. Ich finde beide Charaktere wirken festgefahren, das Eine mag einem vernünftiger gerechtfertigt erscheinen, man möchte nicken, zustimmend sagen " ja, das ist nötig, ich erhalte mir meine Existenz" . Aber das Andere, das Leiden, scheint hier eine viel pulsierendere Kraft zu besitzen, scheint in Bewegung zu sein, scheint die Umgebung beeinflussen zu wollen. Das ermöglicht Entwicklung, und ist daher vielleicht garnicht so schlecht. Und weiß nicht, ob ich eine Stunde später Held oder Depp bin. Der Schlussatz gefällt mir besonders, er lässt genug Raum für fantasievolle Endungen aber hält für den Leser die Verbundenheit zum lyrischen Ich aufrecht. Liebe Grüße ! |