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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 19.03.2010, 22:15   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nordend-Kindheit

Altbauten im Hinterhof,
vorne Trümmer mit Wildbewuchs,
nackte Eisenstreben rosten zu Tode.
Geht nicht in den Keller,
das Dach könnte einstürzen.

Wir ducken uns die Treppe hinunter,
schleichen auf Zehenspitzen
duch modrige Gänge:
Da wuselte eine Maus!
Hat uns jemand gesehen?


Bald kommen wir in die Schule,
die um die Ecke, in der Bernardstraße,
Fassade in Gelb und Dunkelgrün,
Dotter und Spinat
nennt der Volksmund
die Offenbacher Goetheschule.
So heißt auch die Straße,
in der ich wohne, Goethestraße:
Metzger, Eckkneipe, Polizeirevier,
Selbstbedienungsladen.

Kurz der Weg zum Stadttheater,
dem altehrwürdigen grauen Gemäuer
mit der hohen, roten Kuppel,
dessen Geheimnis wir nicht ahnen:
Vor dem Krieg gehörte es den Juden.
Wir müssen bald fortziehen,
Pläne für geschlossene Häuserfronten,
Nachkriegs-Outfit für die Goethestraße,
die Abrißbirne steht schon bereit,
meine Kindheit zu zerschmettern.

19. März 2010
© by Ilka-M.
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Alt 19.03.2010, 22:57   #2
männlich Neny
 
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Hi Ilka,

der Text gefällt mir. Zum einen die Beschreibungen mit dem kursiv Abgesetzten, das eine bestimmte Betonung erzeugt und das er reimlos ist find ich besonders gut, denn dadurch wäre zumindest mir der Inhalt zu leicht vorgekommen, seltsamerweise haben Reime oft die Wirkung bei mir. Aber vorallem weil er mich etwas nachdenklich werden lässt, wie lang wohl meine Kindheitserinnerungen, die noch nicht all zu lang zurück liegen , noch bestehen werden. Gern gelesen.

Grüße Neny
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Alt 19.03.2010, 23:03   #3
weiblich Ilka-Maria
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Danke, Neny, freut mich.

Das Kursive soll gesprochene Sprache markieren.

Mein Erinnerungsvermögen an meine Kindheit und Jugendzeit ist ausgezeichnet. Das merke ich besonders in den Gesprächen mit meiner Jugendfreundin, die ich seit meinem sechsten Schuljahr kenne; die erinnert sich nämlich an fast gar nichts mehr.

Von dem Hinterhaus, in dem meine Eltern und ich in den 50ern wohnten, habe ich sogar mal aus dem Gedächtnis heraus eine Zeichnung angefertigt, und meine Verwandten haben das "Gelände" sofort wiedererkannt.
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Alt 19.03.2010, 23:16   #4
weiblich C.Alvarez
 
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Liebe Ilka-Maria,

ich war paarmal im Nordend. Falls Prüfling und die Gegend Günthersburgpark Nordend sind.
Da sah man, dass Frankfurt ein Dorf ist. Aber irgendwo schön, in einem Dorf aufwachsen zu können.
Sehr schön beschrieben. Plastisch, sagt man. Zum Anfassen.

Lieber Gruss

Corazon
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Alt 19.03.2010, 23:43   #5
weiblich Ilka-Maria
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Die Gegend um den Prüfling in Frankfurt kenne ich auch, dort ist das Krankenhaus, in das ich meine Mutter schon ein paarmal gebracht habe.

Aber ich bin in Offenbach groß geworden. Dort ist jenes Nordend, in dem sich die schäbige Goethestraße befindet.

In Frankfurt dagegen ist die Goethestaße zentral und gehört zur Schicken-Zicken-Szene. Wenn man dort Schuhe einkauft, muß man nicht nur die Knete, sondern auch einen Waffenschein haben.
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Alt 19.03.2010, 23:48   #6
weiblich C.Alvarez
 
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Aber ich bin in Offenbach groß geworden. Dort ist jenes Nordend, in dem sich die schäbige Goethestraße befindet.
Peinlich. Ich kenne nur das Nordend in FFM. Ich wusste nicht, dass es auch eins in OF gibt. Peinlich, peinlich..., na ja, du wirst es mir nicht übelnehmen.
In Offenbach kenne ich mich nicht aus.

Lieber Gruss

Corazon
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Alt 19.03.2010, 23:57   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
In Offenbach kenne ich mich nicht aus.
Mußt Du auch nicht. Schließlich kenne ich mich in Peru auch nicht aus.
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Alt 28.03.2010, 09:46   #8
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Hey Ilka,
wieder mal sehr authentisch.Du zeigst schön den Zauber,oder die Magie,der Kindheit auf.Das Abenteuer zu entdecken...Du schaffst es,den Leser auf eine Reise in Deine Vergangenheit mitzunehmen,mit sehr ausdrucksstarken Bildern.
Umso "krasser" wirken dann die letzten beiden Verse...
Wirklich nichts dran auszusetzen,gern gelesen

Schönen Tag noch,pathos
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Alt 28.03.2010, 09:50   #9
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Danke, Pathos. Bin überrascht, daß mein Offenbach-Zyklus so positiv aufgenommen wird.
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Alt 28.03.2010, 11:44   #10
männlich pathos79
 
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Gerngeschehen!
Aber warum?Wenns authentisch und gleichzeitig gut zu lesen ist?!
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Alt 28.03.2010, 15:14   #11
weiblich Ilka-Maria
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Einfach deshalb, Pathos, weil Offenbach als "Schmuddelkind" gilt. Es wird mit "asozial" gleichgesetzt, vielleicht deshalb, weil wir einen hohen Ausländeranteil haben. Das wiederum geht auf die liberale Einstellung der Stadt zurück - gerade deshalb hatte meiner Mutter und ihre Familie nach der Flucht aus Pommern hier eine zweite Heimat gefunden, wie später auch viele DDR-Flüchtlinge.

Ich bin Offenbacherin, kenne die Stadtgeschichte gut (die ich für grandios halte) und liebe meine Heimatstadt. Ich bin der Meinung, diese Stadt ist besser als ihr Ruf. Es gelingt mir auch immer wieder, Menschen hellhörig zu machen, wenn ich ihnen berichte, in welchem Zusammenhang Offenbach mit Goethe, Sophie LaRoche, Mozart und Senefelder steht. Und daß Hitler sich genauso schnell, wie er auf einem Propagandazug in die Stadt kam, wieder davongemacht hatte, weil ihm nichts als Feindseligkeit entgegenschlug.

Wie auch immer, Offenbachs Ruf ist rundweg schlecht. Deshalb war ich über die positive Resonanz überrascht.

Danke und Gruß
Ilka-M.
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Alt 28.03.2010, 22:58   #12
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Och,das habe ich nicht gewusst...Pluspunkte für Offenbachs Mitbürger,die gegen Hitler waren/sind

Gruß,pathos
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Alt 29.03.2010, 10:39   #13
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Und daß Hitler sich genauso schnell, wie er auf einem Propagandazug in die Stadt kam, wieder davongemacht hatte, weil ihm nichts als Feindseligkeit entgegenschlug.
Von Hitler habe ich schön gehört. Der hat 1936 die olympischen Spiele in Berlin eröffnet. Das Offenbach so gegen ihn war wusste ich nicht.
Der schlechte Ruf von Offenbach kommt - was ich gehört habe - nicht von den vielen Ausländern dort, sondern von der Tatsache dass die Ausländer, die dort leben, sozusagen den Bodensatz der jeweiligen Nation darstellen.
Anscheinend haben sich die Asozialen aller Länder auf Offenbach als Ziel ihrer Reise geeignet.
So wurde mir das zumindest erklärt.

Corazon
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Alt 29.03.2010, 12:22   #14
weiblich Ilka-Maria
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Die Feindseligkeit gegenüber den Nationalsozialisten lag darin begründet, daß Offenbach stark sozialistisch und kommunistisch geprägt war. Deswegen konnten die Nazis nie so recht in Offenbach Fuß fassen.

Daß Ausländer sich in Offenbach schon immer wohl gefühlt haben, liegt in der Liberalität der Stadt begründet, die Flüchtlingen bereitwillig eine neue Heimat gab. Zum Beispiel kamen aus Frankreich viele Hugenotten, die dort verfolgt wurden, daher die vielen franzöischen Straßennamen und die Französisch-Reformierte Kirche (Hugenottenkirche) im Stadtzentrum. Einer unserer Bürgermeister war französicher Herkunft (d'Orville). Diese Flüchtlinge brachten Handwerker mit, was zu einer relativ frühen Industrialisierung in Offenbach führte und den Leuten Arbeitsplätze gab.

Auch Goethe kam gerne nach Offenbach, weil man höflich über seine Liebschaften hinwegsah, während im konservativen Frankfurt über alles getrascht wurde er sich dann zu Hause die Standpauken seiner Eltern anhören mußte.
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Alt 29.03.2010, 18:22   #15
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So ist Offenbach ein "Melting pot",Schmelztiegel...
Und Goethes lüsternes Refugium
Aha,aha.Was bedeutet denn diese Stadt für Dich,liebe Ilka?

Gruß,pathos
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Alt 29.03.2010, 19:55   #16
weiblich Ilka-Maria
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Na alles, Pathos. Ich bin dort geboren und aufgewachsen zur Zeit der Trümmerlandschaften und weitgehend autofreien Straßen. Wir wohnten in einem alten Hinterhaus und waren froh, überhaupt ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben; Kohleofen, Buderus-Boiler, Gasherd, Toilette auf der Halbetage, gebadet wurde in einer Zinkbütt. Und ein paar Meter weiter in der Goethestraße war das Flüchtlingslager, wo ich mit den Kindern der Vertriebenen spielte.

Die Familie wohnte noch nah beisammen, man brauchte zur zehn Minuten zu gehen bis zu den Großeltern, bei den Tanten war man sogar schneller. Der Main war noch so sauber, daß wir darin baden konnten, und mein Vater ruderte bei Achterrennen mit. Von der Carl-Ulrich-Brücke aus sahen wir die Dampfer kommen und warteten, bis sie da waren, damit wir draufspucken konnten.

Offenbach galt als die Stadt der Kinos (es waren in den 50er/60er Jahren immerhin noch neun), für mich das perfekte Paradies.

Der "Melting Pot" bestand damals vorwiegend aus Kriegsflüchtlingen und den ersten italienischen Gastarbeitern. Und genau das bedeutete Offenbach damals für uns alle: Arbeitsplätze, Akkordarbeit, steigende Löhne, wachsender Wohlstand. Lederwaren und Maschinenfabriken bildeten den Schwerpunkt. Zuvor gab es Zigarren- und Seifenfabriken, alles Industrien, die man im vornehmen Frankfurt nicht haben wollte - stank zu sehr. Daher war Offenbach industriell den Frankfurtern voraus, was aber natürlich nicht lange so blieb. Aber wir haben auch, glaubt es oder nicht, immer Kultur in Offenbach gehabt. Wußtest Du z.B., daß Musik-André (es gibt die Familie heute noch) der erste Verleger von Mozarts Noten war?

Jetzt höre ich aber auf, das Thema ufert aus, wir wollen ja nicht zu weit von den Gedichten wegkommen.

Liebe Grüße, habe mich über Dein Interesse gefreut,
Ilka-M.
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Alt 29.03.2010, 20:06   #17
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Danke(Staunen)
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