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Alt 21.04.2018, 20:33   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Haus im Schatten

Unweit des Dorfes, in dem ich vor achtzehn Jahren geboren wurde, ragt ein Granitberg in die Höhe, zu dessen Füßen ein altes Haus ruht. Es ist umgeben von hochgewachsenen Fichten und Lärchen, so dass, woher die Sonne ihre Strahlen auch wirft, dieses Haus in Schatten und Düsternis getaucht bleibt.

Während meiner Kindheit hatte ich gespannt dem Gerede der Leute gelauscht, die sich über das Haus seltsame Geschichten erzählten. Einem reichen Großgrundbesitzer soll es viele Jahre als Liebesnest gedient haben, bis sein eigener Sohn, angestiftet von der Mutter, den Vater und seine beiden Spielgesellinnen ermordete und der Sohn auf Nimmerwiedersehen verschwand. Darüber, wo er die Leichen vergrub, spekulieren die Dorfbewohner bis heute.

Die Älteren, die dem Magischen noch näherstehen als die aufgeklärte Jugend, haben lange Zeit behauptet, Musik und das Lachen des Großgrundbesitzers gehört zu haben, wenn sie spätabends an seinem Wäldchen vorbeifuhren. Manche haben von Rauch berichtet, der von den Schornsteinen des Hauses aufstieg und sich über den vierzig Meter hohen Bäumen auflöste. Sogar Licht soll durch das Blattwerk bis zur Straße gedrungen sein. Doch wann immer sich ein Mutiger aus dem Dorf bei Tag an das Haus gewagt hat, sind Eingangstor und Fenster verschlossen gewesen, hat sich nichts geregt, und alles ist totenstill geblieben.

Wie es Kindern ansteht, die ihre Neugier nicht bezähmen können, wenn sie die Welt entdecken wollen, schloss ich mich einer Gruppe Gleichaltriger an, die dem Geheimnis des alten Hauses auf die Spur kommen wollten. Wir waren drei Jungs und zwei Mädchen im Alter von neun bis elf Jahren. Auf der Straße, die zu dem Wäldchen führte, waren wir noch fröhlich; aber als wir den Weg vor uns sahen, der sich wie eine verhungerte schwarze Mamba vor uns auftat, wurde uns in den Unterhosen warm. Der mit dem schwächsten Status – dick, pickelig, erst neun - musste als Scout vorangehen.

Er überlebte – und ließ uns bei seiner Rückkehr alt aussehen: Nix dabei, alles ungefährlich, Mumpitz, Gewäsch, Geister gibt’s nicht, hier lacht keiner, niemand spielt Schallplatten ab, und Rauch kommt weder aus dem Schornstein noch aus einer Tabakpfeife.

Dieser kleine, pickelige Dicke!

Wir hatten einen Ruf zu verteidigen, also strafften wir die Schultern und zogen los, der Dicke, Pickelige voran.

Das Haus war von Efeu überwuchert. Selbst die Fenster waren von ihm halb verhangen, und mich schauderte es bei dem Gedanken, wieviel Spinnen ihre Netze in dem Blattwerk weben mochten – Krabbler, die in kalten Nächten den Schutz im Zimmer suchten. Während ich über dieses vergleichsweise harmlose Thema sinnierte, hatte sich unsere Gruppe auf die Suche nach den Leichen gemacht, die sie nach Diskussionen über „drinnen“ oder „draußen“ im Keller des Hauses vermutete.

Natürlich wussten wir bald, dass wir die richtige Stelle im Keller gefunden hatten, denn die Spuren waren eindeutig: Gelöste und danach schlecht gefügte Bohlen, Hohlraum, der nicht hohl genug klang, verdächtiger Geruch … Klar war es wieder der kleine, pickelige Dicke mit seinem scharfen Verstand, der riet, die Polizei zu informieren.

Es war die Blamage unseres jugendlichen Lebens, denn der Fall war akribisch ermittelt und längst abgelegt gewesen. Wenigstens hatte der pickelige Dicke den Schwarzen Peter wieder auf der Hand.

Das ist acht Jahre her.

Neulich bin ich in das Wäldchen gegangen. Es sollte ein Ritual sein, ein Abschied, denn ich will in einer Woche heiraten und danach das Dorf verlassen. Abschied nehmen von der Jugend und den klaren Blick auf die Zukunft richten. Es schien mir der beste Weg, die Magie einer untergegangenen Zeit abzuschütteln.

Ich gehe noch einmal zu dem Haus. Aus seinem Schornstein steigt Rauch auf. Die Eingangstür ist offen. Ich trete ein und gehe in die Küche. Niemand ist da. Der Herd sendet Hitze aus, und in einem Kessel brodelt es.

Ich nehme eine Kelle, schöpfe aus dem Kessel, puste ein wenig, um mir nicht die Zunge zu verbrennen, und koste vorsichtig von dem, was da ist.

Was einfach da ist. Verbrenne mir die Zunge. Und verstehe die Welt.

21.04.2018
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.04.2018, 21:10   #2
weiblich Unar die Weise
 
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Das ist wirklich toll, Ilka.

Das erinnert mich ja an mein eigenes Haus.
Das zählt schon fast fünfhundert Jahre.
Es gibt eine schaurige Sage darüber.
Von einer weißen Frau und ihrem Kind, das als Bauopfer herhalten musste.
Ausserdem war es mal ein Spital und ein Armenhaus/Irrenhaus.
Hier waren sehr bemitleidenswerte Seelen zu Hause, in all der Zeit.


Wir wussten nichts von der Vergangenheit.
"Hier wohnten nur Verrückte." sagen die Leute.
Die Einheimischen erzählen uns, dass es eine Mutprobe war, hier vorbei zu laufen.
Vor allem nachts.

Auch jetzt ist es nachts noch gruselig.
(Keine Strassenbeleuchtung)

Als wir es vor Jahren besichtigten, erging es uns auch so ähnlich, wie in deiner Geschichte.
Wir haben uns sofort zu Hause gefühlt.

Wie das Leben manchmal so spielt...

Nu wohnen hier wieder Verrückte.
Unar die Weise ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.04.2018, 21:45   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Unar die Weise Beitrag anzeigen
Das erinnert mich ja an mein eigenes Haus.
Das zählt schon fast fünfhundert Jahre.
Es gibt eine schaurige Sage darüber.
Von einer weißen Frau und ihrem Kind, das als Bauopfer herhalten musste.
Ausserdem war es mal ein Spital und ein Armenhaus/Irrenhaus.
Mensch, Unar, daraus ließe sich ein toller Roman zimmern!

Da fallen mir auf Anhieb ein Dutzend Episoden ein.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.04.2018, 21:50   #4
weiblich Unar die Weise
 
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Dir ja, ich bin im Schreiben echt ne Niete.
Ludwig Bechstein hat die Sage doch schon erwähnt.
Unar die Weise ist offline   Mit Zitat antworten
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