Vision

[Walter]

Deiner Augen Träume
sinken in das Schimmern der Kerze
und verschmelzen im Licht.

Auf der blauen Insel
wird sich dein Herz verklären
in einer einzigen Nacht.

Dem Vogelzug wirst du folgen,
bis sich Sehnsucht und Erfüllung
- wie zwei Bilder in einer Galerie -
still aneinander reihen.


Hans-Walter Voigt
September 2014

[Merith]

Die blaue Insel, lieber Walter, Sehnsuchtsinsel der Verlorenen, Lebensvergeuder ?

In deine Gedichte kann man so viel hinein denken, danke!

Merith

[Walter]

Das soll man auch, liebe Merith, man soll viel hineindenken können. Ob die Interpretation dann den Vorstellungen des Autors entspricht, sei dahingestellt.

Vielen Dank und liebe Grüße
Walter

[shoshin]

Lieber Walter,

Mich haben diese Bilder natürlich sofort emotional angesprochen und ziemlich irritiert (nicht zuletzt wegen des Titels)

Die ersten beiden Strophen empfand ich als bedingungslose Hingabe, als Verschmelzung mit dem Licht der Liebe (die Flamme der Kerze ist in Bewegung, sie flakert), und als Verklärung durch diese "in nur einer einzigen Nacht", aber dann:

Die Formation des Vogelzuges, erscheint zwar noch als EIN Bild am Himmel, die Vögel fliehen immer wieder dem Winter in wärmere Gefilde, aber das ist kein "Verschmelzen" mehr. Das Bild besteht bereits wahrnehmbar aus "Einzelteilen".

Bei den Bildern in der Galerie, ist nun jede Lebendigkeit und Verbindung verloren: Es sind bloß noch aneindander gereihte Ausstellungsstücke (Erinnerungsstücke). Selbst der Maler wird zum bloßen Betrachter, und hat damit (vielleicht schon vor seinem Tod) seine Lebendigkeit verloren.

Nachdenklichen Gruß
shoshin

(p.s. Sind unsere Gedichte bereits solche Ausstellungsstücke?)

[Walter]

Liebe shoshin,

genauso wie bei Merith entspricht Deine Auslegung nicht ganz meiner Vorstellung.


Ziehen wir das Pferd einmal von hinten auf, vielleicht wird dann verständlicher, was ich meine:

Sehnsucht und Erfüllung, also der Wunsch und das Erreichte haben letztendlich zueinander gefunden, und sie reihen ähnlich den Bildern in einer Galerie: aber nicht nebeneinander, sondern aneinander - ein Bild der Nähe, der Zärtlichkeit und Verbindung. Ein Gefühl höchster Zufriedenheit, ein Beginn der Glücksvollendung, welcher nach oben keine Grenzen gesetzt sind.


Wie aber kann die Sehnsucht den Weg zur Erfüllung finden?

Indem sie das Recht beansprucht, sich frei wie ein Vogel zu bewegen.
"Dem Vogelzug wirst du folgen": Der Vogelzug hat dabei gar nichts mit den Zugvögeln zu tun, sondern meint schlichtweg die freie Bewegung in den Lüften, vielleicht auch eine Metapher der Grenzenlosigkeit.
Und gerade dieser Weg, diese "Suche" in dem Freiraum der Lüfte kann eine Möglichkeit sein, Sehnsucht und Wunsch zur Erfüllung werden zu lassen.


Die beiden ersten Strophen beschreiben das Verliebtsein in einen Menschen oder in irgendeinen Wunsch oder eine Vorstellung.
Dabei wird das Herz verklären, in einer Art himmlischem Rausch des Verliebt- oder Begeistertseins verzücken.

Wird dieser Wunsch erwidert, wird die Vorstellung wahr werden? Man muss suchen und hoffen. Die Garantie für das Finden ist nicht gegeben, in diesem Gedicht wird sie nur in Betracht gezogen (Metapher der Galerie in den letzten beiden Versen).
Nur die Freiheit. Die hat man - (als freier Mensch in einem zivilisierten Staat).

Der Titel "Vision" bedeutet nichts anderes als "Vorstellung" - rational oder träumerisch; das sei dahingestellt.

Liebe shoshin,
ich hoffe, ich habe einige Unklarheiten aus dem Weg geräumt.
Wenn ja, dann sehr gerne und verbunden mit einem herzlichen Dankeschön für Deine vielen Zeilen.


Hoffnungsvollen Gruß
Walter

[shoshin]

Lieber Walter,

Danke für deine ausführliche Erklärung!

Ich musste wirklich schmunzeln:
Wir beide könnten wohl nie ein (beständiges) Liebespaar werden.
Bei der Ouvertüre und im ersten Akt waren wir uns ja noch einig,
aber im Finale haperte es dann gewaltig.

Aber so geht wohl den meisten Liebespaaren.

Lieben Gutenachtgruß
shoshin

[Walter]

Wohl, wohl!

Lieben Gruß
Walter