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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 03.12.2009, 14:17   #1
weiblich Hanna
 
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Standard Redebuch

Redendes Buch

Ich stehe mit anderen Werken im Bücherregal meines derzeitigen Besitzers. Vielleicht verschließen mich sieben Siegel, eventuell bin ich eines der offenen. Jeder Leser hat seine ganz eigene Sichtweise, persönliche Erfahrungen, Phantasien und Empfindungen. So würde wohl ein Jeder anders antworten.

Mein Erinnerungsvermögen reicht gerade aus, um sagen zu können, wann ich gedruckt wurde. Über meinen Verfasser weiß ich nicht sonderlich viel außer seinem Namen und dass er teils Tag und Nacht an mir und meinen Inhalt arbeitete. Nicht selten hielt er seine Fingerspitzen an Stirn und Schläfen gepresst, während er unruhig durch die Wohnung lief, hin und her.

Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mozart, einem Haydn, einem Beethoven als Schüler beider, wie er abends komponierend mit Kerzen am Flügel das siebente Notenblatt zerreißt ... Irgendwo in einer kleinen Kammer in Wien die weiße Langhaar- Lockenperücke mit dem vielleicht samtschwarzen Bändchen um den Zopf sich vom Schädel zerrt, um seine Kreativität zu befreien, von einem Schädel, von dem das Haar schon ab Mitte Zwanzig den Kopf wie welkes Blattwerk den Baum verlassen hat.

Verzweifelt hatte er das Manuskript seinerzeit zu mehreren Verlagen gesandt, sich selbst unschlüssig, ob nun die endgültige Version vorläge.

Das ist sozusagen mein Blick in die Vorvergangenheit, und ich denke, einige meiner Mitbücher vermögen ihre Werdung ebenso zu erinnern. Was mir Sorgen macht, ist die spätere Vergangenheit, die jüngere. Weil ich sie nicht erinnere. Wer nahm mich das erste Mal zur Hand – wer schlug mich als erster Leser auf? Durch wie viele Hände bin ich seither gereicht worden?

Ich stehe also im Regal, zwischen andere Bücher gequetscht, mein Einband ist an den Ecken eingedrückt, viele Seiten wurden mit 'Eselsohren' versehen – oder es ist einfach passiert. Einige Textstellen wurden markiert, auf etlichen Seiten wurden Fußnoten angebracht.

Ich erinnere mich an Sonnenschein und dass ich schon mehrfach aufgeblättert auf einem Tisch lag, der Wind meine Seiten flattern ließ, ein wenig Regen mein Papier tränkte. Und wie ich dann rasch geschnappt und schützend in einen Rucksack zwischen feuchte Badesachen gestopft wurde.

Allerdings habe ich mittlerweile zu viel Zeit im Dunkel verbracht, in Kisten, in Kellern, in Containern. Als Stütze wackliger Schränke sogar diente ich. Manchmal wäre mir lieber gewesen, ich wäre endlich einfach vermüllt worden, zerrissen, geschreddert oder verbrannt. Blättert heutzutage jemand in mir, riecht er leichten kellerüblichen Moder. Auf dem speckigen ledernen Lesezeichen, das zwischen Hauptteil und Epilog klebt, steht in eingeprägten Lettern mein Titel: 'Mea culpa'. Es mag Jemanden gegeben haben, der sich dadurch angesprochen fühlte.
Hanna ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.12.2009, 23:56   #2
weiblich Sonja
 
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Eine tolle Geschichte, Hanna.
Hat mir sehr gefallen!
Die Idee ein Buch sprechen, bzw. denken zu lassen ist spitze!
Sonja ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.12.2009, 14:42   #3
weiblich Hanna
 
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Hi Sonja,
thanks, dass Du Dir die Zeit genommen hast, die Geschichte zu lesen und zu kommentieren. Freut mich, dass sie Dir gefallen hat.
Was bleibt zu sagen? Na, auf jeden Fall ...

dass ich Dich grüße ,
Hanna
Hanna ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.12.2009, 18:00   #4
männlich moon
 
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Beiträge: 362

Hi Hanna,

wenn ein Prosatext es schafft, den Leser über die ersten Zeilen hinauslesen zu lassen bzw. ihn dazu zu zwingen, weil er nicht mehr anders kann, muss es ein guter Text sein. Das ist bei mir als Leser der Fall gewesen. Kreative Idee, sprachlich flüssige Darstellung und ein Ende zum Schmunzeln. Ganz schön gut, Hanna. Achja, einziger Kritikpunkt: Lass den zweiten Titel "Redendes Buch" einfach weg, denn "Redebuch" hört sich besser an. Beschreibt einerseits eben dieses redende Buch, aber könnte auch eine Aufforderung an solches zu verstehen sein: Rede, Buch!

moon
moon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.12.2009, 18:07   #5
weiblich Hanna
 
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Hi Moon,
das ist auch eine gute Idee. Wobei ich den Gedanken: 'Reden wie ein Buch' hatte. Deine Variante ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, hat aber was, unumstritten.
Danke dafür, und überhaupt - dass Du's gelesen hast, dass Du kommentiert hast - alles einfach. Schön, dass es Dir gefiel. Immer wieder schön, so was zu lesen. DANKE.
Gruß
Hanna
Hanna ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.12.2009, 21:56   #6
weiblich Ex-rumpelstilzchen
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Beiträge: 31

Wozu schreiben wir es auf? Zu verarbeiten, zu rechtfertigen, um abzuladen...naja, wer es als Stütze für Irgendwas nutzt, hat abgeschlossen, wie auch immer. Ich mag dieses Abschließen von Schuld, wenn Gedanken aufgeschrieben und doch mitgenommen werden. Zum Strand, warum nicht? Es wird ein wenig nass, vielleicht jedoch bleiben zwei-drei Sätze irgendwo hängen und sind irgendwann Hilfe. Ein guter und nachdenklicher Text, Hanna, gern gelesen und ein Stück des Weges mitgenommen. Und ich mag diesen leicht modrigen Geruch von Büchern, der mir schon vor dem Aufschlagen vom Überdauern, fremden Welten und vergangener Zeit erzählt.
LG von Petra
Ex-rumpelstilzchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.12.2009, 01:48   #7
männlich Dr Whatzn
 
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Beiträge: 121

Nun muss ich dich aber auch mal loben Hanna. Der Text ist echt fantastisch. Die Idee alleine ist schon sehr kreativ und regt zum Nachdenken an. Ich gratuliere zu diesem schönen werk. Mehr davon,

Gruß,

Whatzn
Dr Whatzn ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.12.2009, 10:57   #8
weiblich Hanna
 
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Beiträge: 38

Hi Rumpelstilzchen und Dr. Whatzn,

*ffff* - darauf war ich jetzt nicht vorbereitet; freut mich, dass Ihr Gefallen gefunden habt am Text. @ Rumpelstilzchen: Ich hoffe, dass er oder Passagen daraus Dir ein guter Wegbegleiten sein werden;
und @Dr. Whatzn: 'Mehr davon'? Du bist gut! Ich atme Texte doch nicht aus , und die Muse sitzt mir auch nicht direkt auf den Schultern
Das hier ist der einzige meiner Texte in diesem Gestus. Da kann ich mit Nachschub nicht dienen ...
Ich danke Euch beiden für's Lesen und Kommentieren.
Gruß
Hanna
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