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Alt 05.06.2006, 17:01   #1
cute_fighter
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1.123


Standard Die unendliche Ozeanwelt

Zaghaft, fast magisch angezogen hob ich die große Öffnung der Muschel an mein Ohr. Ohne jegliche Hoffnung lauschte ich. Noch nie hatte ich darin das Rauschen des Meeres hören können, doch dieses Mal war es anders. Ein stetiges, lautes, wunderschönes Rauschen sang aus der kalten Muschelschale heraus. Der Moment verharrte, ungläubig hob ich eine andere Muschel auf und presste diese auf das andere Ohr. Schweigen umfing mich. Das Rauschen verschwand ohne ein Wort oder einen Gruß des Abschieds.

Wolken vernebelten den Himmel als meine suchenden Füße den endlosen kalten Muschelstrand entlang wanderten. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit hatte sich in jeder Faser meines Körpers ausgebreitet. Es fühlte sich an, als könnte ich sofort in den Himmel aufsteigen, wenn ich nur die Arme öffnen würde.
Möwen kreisten unablässig über die blaugrünen Fluten des kaltglitzernden Ozeans in der Hoffnung, doch noch ein Abendessen zu fangen. Der Rest der Welt schien zu verharren, abzuwarten, was ich als nächstes unternehmen würde.
Übermütig tauchte ich meine Zehen in die heranrollenden Wellen. Das stetige An- und Abschwellen der Brandung rauschte beruhigend in meinen Ohren wieder. Es flüsterte mir zu, wie groß und mächtig das Wasser sich über die ganze Erde spannte. Es bildete ein riesiges Spinnenetz und prägte meine Vorstellung der Welt schon seit vielen Jahren am stärksten.
Der Schrei einer Möwe riss mich aus meinen Gedanken.
Als ich dem fliegenden Körper für ein paar Minuten mit den Augen folgte, konnte ich den kleinen, zappelnden Körper in ihrem Schnabel erkennen. Sie hatte also ihren Wunsch erfüllt bekommen.
Nachdenklich ging ich weiter an den Wellen entlang.
Würde auch ich eines Tages meinen Wunsch erfüllt bekommen?
Vielleicht, wenn er sich geändert hatte.
Vielleicht, wenn ich nicht mehr nur nach Delphinen in den blauen Fluten suchen würde, sondern mich auch über eine kleine Forelle freuen würde.
Ob dieser Tag jemals eintreffen würde wusste ich nicht.
Die Möwen jagten jeden Tag erneut, fingen ohne Müdigkeit immer wieder eine neue Suche an. Doch wir Menschen waren viel zu schwach.
Vielleicht waren wir auch zu anspruchsvoll.
Sah man das nicht daran, was wir alles wissen wollten?
Sah man das nicht in der ganzen Welt?
Konnten wir uns nicht mit dem begnügen, was wir hatten?
Ich wusste die Antwort darauf. Nein, konnten wir nicht. Deshalb konnten wir nie so unendlich werden, wie die weiten Fluten des Wassers.
Wir hatten nicht genug Kraft, jeden Tag aufs neue Aufzublühen. Ohne einen Delphine am Horizont würde unser Floß nur ohne Ziel und Antrieb durch die Wellen treiben.
Die Freiheit der Welt würde mir diese neue Hoffnung geben, das wusste ich. Schon bald würde ich durch mein Fernrohr einen anderen Delphin erblicken, vielleicht würde er zu mir schwimmen und mit mir durch die Wellen der Welt jagen. Vielleicht würde er mit mir vom Leben träumen und mir die Unterwasserwelt zeigen.

Traurig legte ich die kalte Muschel wieder an ihren Platz. Sie hatte mir ein Stück der unendlichen Welt gezeigt, jedoch war sie nur das Echo meiner Umgebung gewesen. Der Delphine hatte mich noch nicht einmal bemerkt auf meinem dahintreibenden Floß aus Bambusrohren. Doch ich hatte ihn gesehen. Das genügte um wieder ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern.
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