Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 11.09.2009, 21:11   #1
männlich romeo
 
Dabei seit: 05/2009
Alter: 33
Beiträge: 6


Standard Die Verschwommenheit der Milchglasfenster

Die Verschwommenheit der Milchglasfenster

Ich höre die Stimme meines Chefs im Kopf, der lauthals Feierabend schreit, als ich auf die Uhr schaue und die magische Zahl 18 auf ihrem Zifferblatt erkenne. Gleichzeitig bei dieser freudigen Aussicht fällt mein Blick auf den momentanen Wochentag und ich breche in innerliche Jubelschreie aus, als ich erkenne, dass wir heute Freitag haben – Party Start, so bezeichne ich diesen Tag gerne. Denn als junggebliebener ist es der Tag, an dem das Leben erst richtig beginnt. Ich schnappe mir also meine Jacke, pack mein Laptop in die Tasche und mach mich auf den Weg nach Hause, in meine Junggesellenbude – selbst mit Mitte vierzig fand ich diese noch genau das Richtige für mich, eben total ideal für so einen „jungen“ frischen, aktiven Hüpfer wie mich. Dort angekommen trommel ich erstmal über das schöne Medium Telefon alle meine ebenfalls junggebliebenen Freunde zusammen und wir verabreden uns für den Start in die eigentliche Woche, das Nachtleben. Sie freuen sich schon, genauso wie ich, auf den bevorstehenden Marathon an Frauen, Bier und billiger Musik. 22:01 war es dann soweit, ich hatte mich fertig gemacht – wie jedes mal hatte ich mein jungendlichstes T-Shirt angezogen, mein jugendlichstes Parfüm aufgelegt und vorher noch die einschlägigen Jugendmagazine durchgeblättert, um immer auf dem laufenden in „meiner“ Generation zu bleiben. Es konnte also losgehen, ich zu mindestens für meinen Teil war voller Tatendrang – auch wenn sich schon wieder mein Rückenleiden bemerkbar machte und ich vorsichtshalber mein Astmaspray einpackte. Ich ging also jungen Schrittes los und traf meine Partyfreunde pünktlich um 22:30 vor der Disco „Jugendliebe“ – unsere Stammdisco. Wir begrüßten uns rasch mit jugendlichen Sprüchen, wie: „Hey Gerd, altes Haus wie geht’s und denn, alles fit im Schritt?“. Nach diesem kleinen Wortwechsel und einer Debatte über die neue Band am Teenie Himmel stürzten wir uns auf die Eingangstür. Dort zeigten wir dann voller Stolz unsere Ausweise vor, der Türsteher schaute zwar ein wenig verwundert, als er unsere Geburtsdaten sah, aber das realisierten wir eher weniger, wir waren im Rausch, im Rausch der Nacht. Wir mussten rennen, denn viel Zeit blieb uns ja nicht! Nach dem wir dann noch schnell die obligatorische Zahlung des Eintrittes absolviert hatten, konnte es endlich losgehen und wir mischten und unter die Menge. Ein eher skurriler Anblick unser Gruppe war es wohl schon, denn wir hoben uns merklich von den neben uns tanzenden 14 bis 18 jährigen ab. Doch die Tatsache störte uns in keinster Weise, denn wir waren doch fast genau so jung – dachte wir zu mindestens. Wir tanzten und tanzten und ich fing nach einer kurzen Zeit auch ein Gespräch mit einem Mädchen, in „meinem“ Alter, an. Als wir dann allerdings im Laufe des Gespräches auf das Alter kamen, schaute sie mich verwunderte an und entzog sich dann auch sehr rasch der weiteren Unterhaltung. Ich verstand nicht ganz warum sie das tat, bezog dies aber in keinster Weise auf die Frage nach dem Alter. Die Nacht wurde allmählich länger und es folgten viele weitere Gespräche, die doch aber immer die selben Wendung in ein und dem selben Moment nahmen. Ich verspürte nach den ganzen Stunden der wilden Feierei so ein Schmerz überall, alles Tat mir weh, das Rückenleiden von heute fing wieder an und ich erkannte beim Durchblicken der Menge wie schlecht meine Augen doch sind. Aber nicht nur mir ging es so, meine Kumpels klagten auch nach einer kurzen Weile schon, dass sie nicht mehr könnten und ihn alles wehtun würde und sie müde sind. Das ignorierte ich zuerst sehr gekonnt und widmete mich weiter meiner Flirtversuche. Endlich fand ich eine Gesprächspartnerin, bei der ich über das Alter hinweg kam, Sie hieß Anna und war 18. Wir unterhielten uns viel über die Neuigkeiten der neuen Super-Popband und der neuen Single von Tokio Hotel, als ich dann aber über die Wirtschaftskriese und meine administrativen Funkionen auf Arbeit anfing, schaute sie mich nur verwundert an und meinte , dass sie mich nicht verstehen würde und sie diese Themen eh öde findet und die total doof seien. In diesem Moment schaute ich von oben auf mich und erkannte für mich nach langer Zeit zum ersten Mal, dass ich einfach nur vor der Wahrheit davon lief und diese Umgebung hier gar nicht das war, was ich wirklich wollte. Ich erkannte, dass ich alt geworden bin und diese Ära einfach nicht mehr die Meinige ist. Dass ich das bis dahin nicht verstanden habe ist mir bis heute ein Rätzel.

Ich ging dann zu den Jungs und auf meine direkte Frage des Nachhausegehens rannten sie schon förmlich los und wir verließen „unsere“ Ruhestädte. Wir verabschiedeten uns kurz und gingen unserer Wege. Ich allerdings konnte nach derartiger Erkenntnis einfach nicht nachhause gehen und setzte mich in eine kleine Bar in mitten unserer Stadt. Ich bestellte mir ein schönes Glas Rotwein und versuchte zu entspannen. Im tiefsten und schönsten Augenblick trat eine Frau in mein Sichtfeld. Sie war ganz anders als die aus der Disco, sie sah Reif aus, besaß eine frauliche Figur und wirkte fest in ihrem Leben stehenden. Sie setzte sich an den Nachbartisch und bestellte ebenfalls ein Glasrotwein und saß schweigend da. Ich dachte mir, das ist genau die richtige Gelegenheit mal jemanden anzusprechen, der von der Ebene des Lebens eigentlich viel besser passt. Ich tat dies auch nach kurzen Überlegungen und ging zu der Frau hinüber an den Nachbartisch und fragte sie ob ich mich zu ihr setzten dürfte, Sie lächelte mich sehr lieb an und bejahte meine Frage ohne lange zu zögern. Wir kamen sehr schnell ins Gespräch, sprachen über Gott und die Welt, über die Wirtschaftskriese, über die Auseinandersetzungen im Iran und unsere beider Arbeiten. Wir schwammen auf ein und der selben Wellenlänge und so verstrich der Abend. Ich fühlte mich geborgen, genau auf der richtigen Ebene angekommen.

Ich lebe nun nicht mehr in einer Junggesellenbude, ich hasste sie eigentlich eh schon immer, war doch vorher einfach zu jugendlich um mir das einzugestehen. Nein, ich befand mich nun in einer schönen Altbauwohnung mit großen Fenster, die einem einen klaren und unverfälschten Blick auf die Welt ermöglichten. Die jugendlichen Freunde von damals sind nun auch richtigen festen Freundschaften gewichen und die Frau, die ich damals traf, sitzt gerade neben mir und lächelt mich wie damals bei jeder geschriebene Zeile, mit ihrem bezaubernden reifen Lächeln, an. Ich würde sagen, ich bin angekommen und es ist die schönste neue Sicht, die mir je ermöglicht werden konnte.
romeo ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Die Verschwommenheit der Milchglasfenster

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche



Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.