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Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

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Alt 25.12.2012, 14:48   #1
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747

Standard Christmettenblues

Verschmolzen mit der Nacht,
ein wenig Rum im Kopf,
den Kragen hochgezogen,
so stapfe ich durch dichte Nebelbank
dem Glockenklang der Kirche zu.
Hab wohl das Dunkel mitgebracht,
vielleicht ist’s auch mein dichter Schopf,
was immer hat den alten Mann bewogen,
zu mustern mich ganz frei und frank,
es bringt mich nicht aus meiner Ruh.

Die Kirche voll bis auf den letzten Platz,
Pelzmäntel, Hauben, Föhnfrisuren,
das Bürgertum will Weihnacht spüren,
hat selten nur besucht die Krippe übers Jahr,
als Bild gemalt am Hauptaltar.
Ich sehne mich nach meinem fernen Schatz,
erkenn die alten Sünder und die Huren,
die selten finden durch die Kirchentüren,
obwohl er doch ein Freund derselben war,
entschiedner Feind der Heuchelei fürwahr.

Der Kirchenraum ist hell und licht geworden,
den düster ich erfahren einst in Kindertagen,
als sich das Volk aus altgewohntem Brauch zusammendrängte,
bevor sich seine Reihen Jahr um Jahr gelichtet,
weil Glaube letztlich aus der Mode kam.
Die Einsicht, dass wir vielmals ihn ermorden,
dass er erhört des Ausgestoßnen Klagen
und unsre Bosheit ihn an diesen Balken hängte,
verwässert ward sie und zum Märchen umgedichtet,
da Freiheit sich das Recht auf pure Selbstsucht nahm.

Der Schlag der Priester war ein andrer damals,
voll Selbstgerechtigkeit und Herzenshärte,
sie sind vom hohen Ross herabgestiegen,
als ihre Tempel langsam wurden leer,
und doch verbergen sie ihr wahres Antlitz noch.
Die heiligen Bewacher jenes Grals,
Verfechter und Vertreter überkommner Werte,
die selbst der Fleischeslust erliegen,
weil das Verbot sie knechtet allzu schwer,
wann kommen sie gekrochen aus der Kirchenlehre Grabesloch?

Die festlich Predigt rauscht an mir vorbei,
wir sollten, dürfen, könnten eigentlich,
doch was ist Wahrheit und was ist ihr Preis?
Der kleine Umweg, den die Kirche lehrt,
ist angenehm und sichrer allemal.
Das neue Leben fließt dahin im schalen Einerlei,
die Gläubgen scheuen sich gar fürchterlich
vor dem, der um der Sünde Früchte weiß,
zu dem mit lauem Herzen sie bekehrt,
der da gezeichnet ist von ihrer Missetaten Mal.

Die Leute stehen, knien und sitzen nackt vor mir,
ich liebe diese dunkle Gabe nicht,
doch wer sich demaskiert, durchschaut das Narrenspiel,
so wie der wusste, was im Menschen ist,
dessen Geburtstag wieder mal gefeiert wird.
Die Mette ist des Weihnachtsabends schönste Zier
und alles Dunkel zieht es hin zum Licht
für eine fromme Stunde und das ist nicht viel,
weil gut verborgen da der Wurm in dürstend Seele weiterfrisst,
kaum dass ihr Sinn von neuem sich verwirrt.

Auf finstrem Heimweg saug genüsslich ich an meiner Kippe,
die Bläser auf dem Kirchturm geben auf mich acht,
die jungen Burschen, die die schönen Mädchen necken,
noch ist es viel zu früh, dass sie ihr Treiben reut,
ihr suchend Tasten ist noch unbefleckt.
Das Kind da vorne in der Futterkrippe
kennt jeden Abgrund, jede noch so tiefe Nacht,
ich konnte nie mit meiner Bosheit es erschrecken,
den Aussatz meiner Seele hat es nicht gescheut,
die Hände heilend nach mir ausgestreckt.


2007/2012
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.12.2012, 18:09   #2
weiblich MuschelIch
 
Benutzerbild von MuschelIch
 
Dabei seit: 09/2012
Alter: 63
Beiträge: 309

Dankeschön für das Christnachtgemälde, Desperado.

Jesus
hätte nicht mit den Großkopferten, Aufgetakelten und denen in voller Ritterrüstung gefeiert , fürwahr!
Er wäre im Obdachlosentreff gewesen, die Prostituierten um sich versammelt und alle heimatlosen und aussätzigen Seelen.
Auch mir war und ist er Licht,
mehr als es eine Menschengemeinde welcher Coleur auch immer
je sein konnte.

Frohe Weihnachten!

Muschel&Ich
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.12.2012, 15:49   #3
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073

Hallo, Desperado,

ganz starke Zeilen! Danke!

Am meisten beeindruckt haben mich:

weil gut verborgen da der Wurm in dürstend Seele weiterfrisst,
kaum dass ihr Sinn von Neuem sich verwirrt.

und die letzten fünf Zeilen:

Das Kind da vorne in der Futterkrippe
kennt jeden Abgrund, jede noch so tiefe Nacht,
ich konnte nie mit meiner Bosheit es erschrecken,
den Aussatz meiner Seele hat es nie gescheut,
die Hände heilend nach mir ausgestreckt.

starke Formulierungen!
lg simbaladung
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.12.2012, 17:21   #4
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747

Danke Euch, MuschelIch und simbaladung!

Klar, richtet nicht und ihr werdet nicht gerichtet, aber das hab ich ja auch garnicht, saß auch nicht vorne, sondern in der Bahrkirche, hab nur festgestellt: So seid ihr eben, so sind wir halt... ich denke, das wird schonmal erlaubt sein.

Schönen Jahresausklang wünsch ich Euch!
Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
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