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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 04.08.2015, 01:52   #1
FeelGoodInc
 
Dabei seit: 04/2015
Beiträge: 48

Standard Dein alter Mann

Sie verstarb vor einigen Monaten,
der Anruf kam mitten in der Nacht
und die Realisation schlug mir ins Gesicht

Die Stimme am anderen Ende tönte unbeteiligt,
kühl drang mir die Nachricht ins Ohr
"Es tut mir leid, sie war sofort tot."

Nasal sprach der Anrufer weiter:
"Ich bedaure Ihren Verlust zutiefst,
die Beerdigung findet nächsten Sonntag statt"

Meine Gedanken ohnmächtigten,
meine Augen wurden so schwarz wie das Nichts
in das ich durch weisse Vorhänge starrte

und ich glaubte ihre Konturen zu erkennen,
ihr Blick versuchte sich nicht zu entschuldigen,
denn sie tat es für sich, für ihr Glück

Nach einer Stunde der Starre blinzelte ich,
wischte lustlos Dostojewskis "Weiße Nächte"
vom Nachttisch und füllte darauf ein Glas

Bourbon und zündete mir eine Zigarette,
der Rauchmelder war mir herzlich egal,
und die Melancholie legte sich auf meine Schultern

wie ein Mantel wehte der Wind
und die Stille schien ihre Tränen zu vergiessen
während die Zeit pietätlos verfloss

Für diese Nacht war ich verschwunden
bis ich Morgens einsehen musste,
dass die Erinnerung untröstlich weiterlebte,

so koche ich noch heute zwei Teller,
erzähle dir davon wie mein Tag war
und stelle mir vor wie deiner wohl gewesen wäre

Die einzige Mahnung an dein ableben
wahrte ich mir in Form einer frischen, weißen Lilie
die ich dir tagtäglich auf dein Kopfkissen lege

Manch ein Kellner runzelte die Stirn
als ich zum wiederholten Male
zwei Gläser Rotwein bestellte,

seit dem wir nur noch "wir" sind
ereilte uns halt einen Durst
nach der Vernebelung

Glaub mir es ist eine tragische Komödie
wenn wir mit eingehakten Armen
über den Boulevard wandeln,

nun gut ich geb`s ja zu,
die Fassade ist halt nicht ganz immer wahrbar
aber nach einer halben Dekade Ehe

musst du nicht mehr leben um bei mir zu sein.
Wir streiten noch immer so viel wie eh und jeh
und der Versöhnungssex

ist mit meiner altersbedingten Impotenz
eh gegessen, so sind wir doch eigentlich recht herzlich
im Land der Verrücktheit gelandet

und ach, ich liebe es mit dir zu treiben
von all den Erinnerungen die wir zusammen durchlebten
auch wenn mich der Alzheimer langsam überkommt

und ach, ich liebe es mit dir zu schweigen,
denn ich muss nur um dein Beisein wissen
um die Misère meiner Lage zu verdrängen

und ach, ich weis darum dass du auf mich wartest
und du hättest es bestimmt nicht gewollt,
dass ich dir auf die gleiche Weise folge

wie du von mir gegangen bist.
Gestern erst war unsere goldene Hochzeit
und langsam geht es mit mir bergab,

meine Knochen fühlen sich an
als ob sie beim leisesten Windstoss
knicken müssten,

meine Haut schrumpelt
und die Schwerkraft scheint mir
schwer wie eine eiserne Rüstung

Bald schon werde ich nicht mehr in der Lage sein
an diesem Leben fest zu halten,
denn ich liege schon in meinem Krankenbett,

die junge Pflegerin sieht ganz verzückend aus
aber du musst keine Eifersucht empfinden,
ich hatte stets nur Augen für dich

und auch wenn sie sich langsam zu trüben beginnen,
"Grauer Star" diagnostizierten sie mir,
warst du doch immer meine imaginäre Supernova

Die Sterne müssen mir mal erst verschrumpelt
vom Himmel fallen um mir meine Hoffnung zu nehmen,
denn durch dich überquerte ich bereits mein Zenit,

lass mich dich nur wiedersehen,
mir egal ob als Inkarnation, als andere Wesen
oder in einem laschen Himmel,

selbst durch die Hölle würde ich mich gerne quälen,
solange wir im gleichen Feuer brutzeln
und unser altes Gemüse gut grilliert

Ich bin nun ein alter Herr meine Liebe,
lass uns nicht scheiden
durch etwas so nichtiges wie der Tod

und wenn es so weit ist,
ich das gleissende Licht sehe,
führe mich zu dir


In tiefster Verbundenheit,

dein alter Mann
FeelGoodInc ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.08.2015, 18:36   #2
männlich Gylon
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 4.269

Hallo FeelGoodInc,
die Strophe gefällt mir am besten!

"Ich bin nun ein alter Herr meine Liebe,
lass uns nicht scheiden
durch etwas so nichtiges wie der Tod"

Man könnte vielleicht noch etwas dran arbeiten.
Gern gelesen!

Liebe Grüße Gylon
Gylon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.08.2015, 17:19   #3
weiblich Ex-Letreo71
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2014
Ort: Niedersachsen
Beiträge: 4.032

Hallo FeelGoodInc,

ich bin schwer beeindruckt!

LG Letreo

...und ach, ich habe es mehrfach mit Begeisterung gelesen.
Ex-Letreo71 ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.08.2015, 18:04   #4
männlich Caliban
 
Benutzerbild von Caliban
 
Dabei seit: 02/2007
Ort: Zuhause in jeder guten Bar
Beiträge: 555

Zum Inhalt sage ich nichts, der ist selbsterklärend und bedarf keiner Rezension.

Manche Strophen lesen sich flüssig, andere eher holprig, das hat noch Entwurfcharakter. Auch der eine oder andere Rechtschreibfehler ist zu finden.

Schön finde ich solche Neologismen wie "ohnmächtigten", generell sind da Ansätze einer schönen Sprache zu finden, die allerdings gelegentlich störend durchbrochen wird. Gerade Fremdwörter wie "Realisation" und "Inkarnation" wirken hier zu gekünstelt, wie Glutamat im Essen. Ein guter Blues sollte sich stilistisch treu bleiben und keine artifiziellen Experimente unternehmen.
Die Abstufung Sterben-Trauern-Altern könnte etwas klarer gestuft sein, muss aber nicht.

Mit noch etwas Schliff wird das ein sehr schöner Text.

Grüße
Caliban
Caliban ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.08.2015, 20:15   #5
FeelGoodInc
 
Dabei seit: 04/2015
Beiträge: 48

Hallo Jonny,

Danke für dein Kommentar !

Zitat:
und ich glaubte ihre Konturen zu erkennen,
ihr Blick versuchte sich nicht zu entschuldigen,
denn sie tat es für sich, für ihr Glück

und du hättest es bestimmt nicht gewollt,
dass ich dir auf die gleiche Weise folge

wie du von mir gegangen bist.
mit dem letzten Satz wollte ich andeuten dass sie freiwillig ging .. somit wollte ich nicht weiter in die Details gehen (ist ja fiktiv und metaphorisch ),
die Inspiration zu diesem ominösen Anruf kam mir übrigens bei einem von Murakami Harukis Kurzgeschichten, in dem der Protagonist von einem ehemaligen Liebhaber angerufen wurde der ihm den Tod seiner Geliebten mitteilte.


hey Gylon,

dieser Teil mundet mir ebenfalls am besten, wirkt ja fast besser als der ganze Text an sich ^^
Die Zeitensetzung ist sicherlich ein Faktor bei dem ich etwas ins Straucheln kam..
thx


heya Letreo71,

freut mich zu hören !, es ist immer erfreulich wenn aus einer schlaflosen Nacht etwas mehr entsteht als nur Augenringe


an Caliban,

es freut mich dass du dich mit dem formellen Teil des Textes auseinandergesetzt hast.
Mir persönlich scheint das Fremdwort "Realisation" eigentlich noch passend da ich dazu tendiere in einem emotional anspruchsvollen Moment eher kühl und rational zu handeln und denken um die hervorgerufenen Gefühle im Nachhinein zu verarbeiten, so scheint mir eine distanzierte Sprachwahl zwar unästhetisch aber reflektierter. "Inkarnation" mag zwar kitschig klingen, da ich jedoch der buddhistischen Kultur näher bin als der christlichen scheint es mir nicht all zu gekünstelt auch wenn ich nicht an diese Begebenheit glaube, so wurde mir jedoch einiges von den religiösen Vorstellungen mitgegeben und hat sich so, authentisch wie ich meine, in meinem Wortschatz verankert. Zudem habe ich gerade "The Incarnations" von Susan Barker in Englisch gelesen wessen Umgang mit halluzinogenen Traumkonstrukten von vergangenen Begegnungen und Seelenverwandschaft mich sehr fesselte.
Mit der Grammatik und der Zeit tat ich mich bei diesem Gedicht wirklich etwas schwer und ich werde mir noch etwas Überarbeitungszeit nehmen wenn ich nächstens mal Zeit finde

Danke für deine Rezension







mfg FeelGoodInc
FeelGoodInc ist offline   Mit Zitat antworten
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Stichworte
ehe, fiktion, tod

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