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Alt 22.12.2018, 22:01   #1
männlich Amerdi
 
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Standard das Märchen von der rechten und linken Seite

Eines Tages ging ein junger Mann seine Lebenslinie entlang, da begab es sich, dass er zu seiner Rechten seine Traumfreundin sah. Mit entflammter Liebe richtete er sich zu ihr aus und bat die rechte Seite, ihm dies Mädchen auszuhändigen. Mit reizender Stimme sprach die Rechte nun, sie wolle ihm seine Traumfreundin gerne überreichen, doch eine Bedingung gebe es doch: Dass nämlich der junge Mann den Rest seines Lebens nicht mehr nach links sehen und gehen dürfe. Und würde er doch, so sollten das Mädchen wie auch er ihr Leben verlieren. Denn die rechte war eine eifersüchtige und ebenso rachsüchtige Richtung, die gegen die linke Seite eine fortwährende Fehde führte. Natürlich willigte der junge Mann ein, denn er war jung und liebestoll und brauchte, so glaubte er, die linke Seite nicht.
Fortan begleitete ihn seine Traumfreundin auf seiner Lebenslinie. Er war glücklich und schaute immerzu auf sie, welche zu seiner Rechten ging.
Doch eines Tages, da kam es schlimm und eine Schlange schlich von links heran. Deshalb, da sie von links kam, konnte der junge Mann sie nicht bemerken. Auch seine Gefährtin sah das nahende Übel nicht, denn der junge Mann verdeckte es. Bis ein beißender Blitz giftiger Zähne zwischen seinen Beinen hervorschoss und seine Traumfreundin stolpern ließ. Als diese sterbend zu Boden lag, flüsterte sie, er solle nicht verzweifeln, denn zu seiner Linken wüchse Kraut, aus dem sich ein Heilmittel rühren ließe. Da brach der junge Mann in Tränen aus und verwünschte die rechte Richtung.
Zum Glück aber hoppelte ein Hase vorbei, der war sehr hilfsbereit. Er betrat des jungen Mannes linke Seite, pflückte das Heilkraut und das Mädchen gesundete.
Fröhlich gingen sie auf ihrem Lebensweg weiter, doch es dauerte nicht lang und das nächste Unglück geschah. Das Mädchen sammelte Blumen an einem Teich im Walde. Er schaute ihr dabei über seine rechte Schulter zu. Da sah er, in der Spiegelung des Teiches, wie ein mächtiger Baum zu seiner Linken begann in ihrer beider Richtung zu stürzen. In diesem Moment hatte er viele, rasende Überlegungen im Kopf. Er wusste nicht, ob er nun gegen sein Verbot verstoßen hatte nach links zu schauen, doch wenn er seine Liebste und sich rettete, würde er damit sicherlich beweisen, dass er den von links herkommenden Baum, wenn auch nur dessen Spiegelbild, gesehen hatte. Nichts zu tun andererseits würde den sicheren Tod bedeuten, daher griff er seine Traumfreundin am Handgelenk und wich aus. Der fallende Baum verfehlte die beiden um Haaresbreite und zerschmetterte sein eigenes Spiegelbild.
Kurz darauf sprach die rechte Seite mit heiterer Boshaftigkeit, dass der junge Mann die linke Seite gesehen und nun dafür zu büßen habe. Doch dieser erwiderte sehr schlau, er habe lediglich das Holz knacken gehört und sei aus einer bösen Vorahnung heraus davongesprungen.
Zähneknirschend akzeptierte die rechte Seite diese Erklärung, drohte aber, ihn fortan noch genauer im Auge zu behalten.
Darüber lachte der junge Mann mit dem ganzen Hochmut der Jugend, küsste seine Traumfreundin und wanderte weiter. Die linke Seite begann indessen zu fragen, wieso er sie ignoriere. Sie war sehr traurig darüber. Doch er schwieg, denn er fürchtete, sie würde ihn auf irgendeine Weise dazu verführen wollen, sie anzusehen oder zu betreten. Tatsächlich keimten hinter ihrem Schmollen einige Pläne dieser Art.
Bald kam das Paar an eine beschilderte Weggabelung, deren einer Pfad nach rechts, der andere nach links führte. Der linke Pfad, so besagte der Pfeil, führe ins Glück, der rechte Pfad aber führe, dem Pfeil nach, ins Unglück. Es stellte sich, so schien es, die Wahl zwischen einem glücklichen Tod und einem unglücklichen Leben. Da sprang ein Luchs aus dem Waldschatten und sprach, er wolle ihnen die Antwort auf ihr Dilemma geben, wenn sie ihm bewiesen, dass ihre Liebe wahrhaftig sei. So antwortete der junge Mann, er wolle zum Beweis alleine ins Unglück gehen und seine Traumfreundin ohne ihn ins Glück ziehen lassen. Sie aber widersprach, sie wolle lieber mit ihm ins Unglück gehen als ohne ihn ins Glück. Da ward der Luchs überzeugt und raunte, dass sie nur voran ins Unglück gehen sollten, ihre Liebe würde jedes Unglück in Glück verwandeln.
So taten sie und siehe, sie wandelten glücklich auf dem Pfade des Unglücks.
Aber die linke Seite weinte und sagte, sie wisse, er komme auch ohne sie aus, doch sie bitte ihn dennoch inständig aufzuhören sich von ihr abzuwenden. Da ward sein Herz erwärmt und er erzählte alles.
Die linke Seite war bestürzt über die Ruchlosigkeit der rechten und die Hitze, die das Feuer ihrer Feindschaft mittlerweile erreicht hatte. Gleichzeitig nahm sie mit Erfüllung und Wohlbehagen die Liebe zwischen dem jungen Mann und seiner Traumfreundin zur Kenntnis. Schlagartig wurde ihr etwas klar; bis heute hatte sie stets mit der rechten Seite um die Gunst und Aufmerksamkeit des jungen Mannes, der den Mittelpunkt des Lebens beider Seiten bildete, gerungen. Sie begehrte, dass er sich zu ihr wandte, unabhängig davon, ob ihre Richtung und Seite in der jeweiligen Situation die richtige und beste für ihn war. Ihr wurde bewusst, dass es ihre und die Aufgabe der rechten Seite war, dem jungen Mann zum Richtigen zu raten, nicht selbstsüchtig die eigene Bevorzugung erzwingen zu wollen.
Ihre Einsicht teilte sie der rechten Seite mit. Diese verstand und beide umarmten sich und richteten ihren Blick als Verbündete auf die gemeinsame Aufgabe. Die verhängnisvolle Abmachung ward aufgehoben, ein Kind geboren und die Welt ein Stück besser geworden.
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Alt 17.08.2022, 18:05   #2
männlich Nöck
 
Benutzerbild von Nöck
 
Dabei seit: 12/2009
Ort: In den Auen des Niederrheins
Beiträge: 2.662


Hei Amerdi,

deinem neuesten Gedicht ist es zu verdanken, dass ich in deinem Archiv gestöbert habe. Deine Parabel oder Gleichniss bzw.Fabel gefällt mir, sie regt zum Nachdenken an.

Du hast einen ganz speziellen Schreibstil.

LG Nöck
Nöck ist offline   Mit Zitat antworten
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