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Alt 22.04.2015, 01:04   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Wasser

Der See, den ich schon als kleiner Junge jeden Tag aufsuchte, lag an einem silbrigen Berg, der mein Heimatdorf an dessen Fuß auf der anderen Seite verbarg. Dorthin gab es zwei Wege: am liebsten ging ich über den Berg, von dessen Gipfel ich den Hang tief in das Gewässer hinabfallen sah. Etwas weiter bergabwärts entsprang ein Bächlein, dessen Lauf ich dann bis zu dem See hinab folgte. An besonders sonnigen Tagen oder wenn ich es gar nicht erwarten konnte, den ganzen Tag am See zu verbringen, ging ich im schattigen Kühl des Waldes, der den See gegenüber des Berghangs grün säumte, um den Berg herum.

Ich konnte oft Stunden mit dem Versuch zubringen, bis zu den Knien im erfrischenden Nass stehend, die Fische mit meinen bloßen Händen zu fangen. Doch selbst wenn mir eines der quirligen Fischlein zwischen die Finger geriet, entglitt es mir sogleich und rettete sich ins Wasser. Da tauchte ich vergebens hinterher und schlug schließlich schimpfend durch die Wasseroberfläche. Manchmal jedoch saß ich einfach nur eine Weile am Ufer und träumte, bis die Sonne dicht über den Baumkronen hinter mir stand und das weiche Schillern des Gewässers vor meinen Augen verschwamm. Meiner Mutter gefiel es indes ganz und gar nicht, dass ich den ganzen Tag mit Träumen und Spielen weit weg von ihrer beengten Welt vergeudete. Daher verbot sie mir, fortan diesen Ort alleine aufzusuchen. Die Tage verbrachte ich also rastlos und unzufrieden in dem kleinen Dorf. Doch in klaren Mondnächten zog es mich über den Berg zu dem See. Dort zerfiel die gesamte Bedeutungsschwere, gestern und morgen, in tausende funkelnde Sterne, die in dem schwarzen Waldesbecken obenauf schwammen.

Nach dem Tode meiner Mutter - ich war inzwischen zu einem Jüngling herangereift und noch so verspielt wie ein Kind und bereits so gescheit, dass ich wusste, was ich wollte - ging ich zu dem See und dachte bei mir: "Hier will ich bleiben!" Also blieb ich. Ich baute mir aus dem, was der Wald hergab eine kleine bescheidene Hütte und saß viel am Ufer, wo sich meine Träume inzwischen immer häufiger mit meinen Taten vermischten. Noch immer war es mir mein liebster Spaß, den Fischen nachzujagen und je näher ich den See kennenlernte, umso geschickter wurde ich und umso näher lernte ich mich selbst kennen, bis es mir eines Tages gelang, mit einem kräftigen Hieb ins Wasser, mein Gegenüber zum Springen zu bringen. Der Fisch, fast so lang, wie ich mit ausgebreiteten Armen anzeigen konnte, landete in meinen Händen, die ihn wie einen Säugling umfassten. Ich fühlte, wie sich der Stolz von meinem Herzen bis in meine Glieder ausbreitete und hielt ihn umso fester. Der Fisch aber drehte seinen Kopf zu mir, sah mir aufmerksam in die Augen, als sei es ihm sein letztes Anliegen, mich zu sehen, der ihn überlistete und ich wusste, dass ich ihn loslassen musste. Er drehte eine Runde um mich herum und ich ahnte, dass er seinen Dank damit ausdrückte, bevor er davon zog. Ich verabschiedete mich demütig von meinem Lehrer und stieg aus dem Wasser.

Als ich das nächste Mal in den See stieg, kam der Fisch angeschwommen und begrüßte mich. Zunächst verstand ich nur wenig von dem, was er mir mitteilen wollte, doch als ich mich auf ihn einzulassen begann, auf die mannigfaltigen Arten, wie er sich um mich wandt, wie er aus dem Wasser sprang, wie er mich ansah, wie er Wasser aufwirbelte, wie er auf mich zueilte oder von mir weg huschte, lernte ich mit jedem Treffen mehr und mehr seine Sprache, bis wir uns schließlich unterhielten wie die ältesten Freunde. Er erzählte mir viel vom Wasser und warum es den Fischen heilig sei, da es, sie umgebend und durchdringend, zugleich Heimat, Schöpfer und das Leben selbst sei. Er zeigte mir heilige Stätten am anderen Ufer, wo der Berg wie eine mächtige, begrünte Wand aus dem Seeboden ragte, an welcher die Fische zueinander fanden. Kein Kunstwerk, das Menschen sich erdenken könnten, reicht an die erfurchtgebietende Schönheit dieser wilden Kathedrale heran. Ich lernte viel von ihm und gab seiner Wissbegierde nur zögernd und wortkarg nach, da ich Vieles, was in meiner Welt so bedeutsam war, vergessen wollte und Manches wohl schon vergessen hatte. Auch bin ich, so verstand ich immer mehr, nicht als Lehrer gekommen, sondern als Schüler, der nach und nach in der Obhut des Sees zum Mann gereifte.

Der See war meine Heimat, denn er gab mir, was ich brauchte und lehrte mich Bescheidenheit und Ehrfurcht gegenüber den Gewalten derselben Natur, an deren Milde wir teilhaben. Hin und wieder verirrte sich ein Wanderer zu meiner Hütte. Die meisten grüßten mich und versuchten, ihre Verwunderung zu verbergen. Einmal wohnte ein junges Mädchen zufällig einem Gespräch zwischen mir und dem Fisch bei und fragte neugierig, was ich denn täte. "Ich rede mit meinem Freund, dem Fisch", entgegnete ich und streckte meine Arme aus, in die der Fisch sogleich sprang. Das Mädchen kam näher und fragte, ob es denn auch mit dem Fisch sprechen könne. "Versuch es!", lud ich die Kleine ein. "Lieber Fisch, wenn du reden kannst, dann kannst du vielleicht auch zaubern. Bitte hilf, dass mein Vater wieder Klitzersteine im Bergwerk findet. Sonst haben wir bald nichts mehr zu essen!" Danach kam nie wieder ein Mensch zu dem See.

Die Sprache der Fische ist viel klarer als die der Menschen, da sie ohne Worte auskommt. Ich kann daher nur sehr vage die Bedeutung und Weisheit wiedergeben, die aus den letzten Gedanken meines Freundes hervorging, als er zu mir kam, um seinen letzten Tag anzukündigen. Da nahm ich stillen Abschied und sah, wie meine Tränen gleich dem Fisch für immer im Wasser verschwanden. Darin selbst erkannte ich den Trost, den seine Lehre in mir weckte und ich bemühte mich, dem See besser zuzuhören. Bald bemerkte ich in der Art, wie er sich bewegte, wenn ich bis zur Hüfte im Gewässer stand, dass er mich etwa vor Stürmen warnte. Die Bewegungen der Fische kündeten von Regen, Sonnenschein oder dem nahen Winter. Ich sprach viel mit meinem Freund, dem Wasser, bis ich alles, was in der Welt von Bedeutung ist, aus den feinsten Regungen seiner Mimik ablesen konnte. Und als ich alles verstand wie einen eigenen Gedanken, merkte ich, wie mein Körper immer schwächer wurde, bis ich endlich, als der Sommerregen einsetzte, eine ganze Woche lang nur in meiner Hütte lag und auf den Tod wartete. Doch ich fürchtete mich nicht, da ich nicht einsam war.

Und als meine Zeit gekommen war, stand ich auf und wurde, indem ich in das Wasser ging, zu dem Wasser selbst. Und ich umfasste die ganze Welt und spürte deren tiefsten Grund. Und ich trug die Seerosen in den Tümpeln und die Schiffe auf den Meeren zugleich. Die völlige Stille des Ozeans barg ich in mir, während ich die Kraft der Gezeiten wiedergab, mich an den schroffen Felsen der Küsten zu erschöpfen. Und ich tränkte die Pflanzen, Tiere und Menschen und verlieh ihrer dürstenden Trauer Ausdruck. Und ich rauschte durch die Gebirge, drängte mich durch das alte Gestein, ließ mich durch die Wälder treiben und ruhte in den Seen, worin ich die Sterne spiegelte. Und ich wohnte mir selbst inne, zerfiel in mir, zerstreute mich im Nebel der Welt und fand mich, herabprasselnd in mir selbst wieder. Und auf diese Weise atme ich bis zum heutigen Tage.
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Alt 22.04.2015, 10:16   #2
Thing
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Lieber Schmuddelkind,

Phantastisch in jeder Bedeutung dieses Wortes!
Was mir selten unterkommt:
Die Geschichte steigert sich, wird tiefer und stärker, bis zu dem mystischen Ende.
Ich habe mit Wonne und Gewinn gelesen.
Wären nicht ein paar Tippfehler hineingerutscht, wäre sie perfekt.
Großartig ist sie allemal.


Kompliment
v.
Thing!
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Alt 22.04.2015, 11:20   #3
weiblich Ilka-Maria
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Im Erzählen warst Du schon immer gut, Schmuddel, und wundervoll ausgedacht ist das Thema Deiner Geschichte ebenfalls. Stutzig wurde ich lediglich bei der Größe des Fisches:

Zitat:
Der Fisch, fast so lang, wie ich mit ausgebreiteten Armen anzeigen konnte, landete in meinen Händen, die ihn wie einen Säugling umfassten.
Bei einer Länge von 1,2 bis 1,3 Meter kann ein Fisch zwischen 15 und 25 kg wiegen, je nach Fischart. Ist das für die bloßen Hände nicht ein wenig zu groß? Vielleicht wäre an dieser Stelle bereits eine Andeutung hilfreich gewesen, dass es sich um einen besonderen Fisch handelt, einen Naturgeist oder so etwas.

Ansonsten ist die Geschichte aber sehr schön geworden.

Liebe Grüße
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.04.2015, 23:29   #4
männlich Schmuddelkind
 
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Vielen Dank für die überaus positiven Reaktionen!

Die Geschichte liegt mir selbst sehr am Herzen, daher bin ich umso dankbarer, dass überhaupt Kommentare kamen; umso mehr, da ihr offensichtlich eure Lektüre nicht bereuen müsst.

Zitat:
Die Geschichte steigert sich, wird tiefer und stärker, bis zu dem mystischen Ende.
Mein Anliegen war es, dass die Handlung, angefangen bei einer Allerwelts-Situation, die nicht einmal die Frage nach Plausibilität aufkommen lässt, sich so geräuschlos wie möglich zum Phantastischen hin steigert, so dass kaum Übergänge zu erkennen sind. Wenn nämlich jeder Schritt folgerichtig erscheint, kann der Leser sich ganz auf die mystische Schluss-Szene einlassen, auf die die Geschichte zugeschnitten war.

Zitat:
Bei einer Länge von 1,2 bis 1,3 Meter kann ein Fisch zwischen 15 und 25 kg wiegen, je nach Fischart. Ist das für die bloßen Hände nicht ein wenig zu groß?
Ich muss zugeben, dass ich mir über dieses Detail keine Gedanken gemacht hatte. Aber wenn ich so darüber nachdenke: 15-25 kg - warum nicht? Ich denke, das kann man halten und vermutlich sogar fangen.

Zitat:
Vielleicht wäre an dieser Stelle bereits eine Andeutung hilfreich gewesen, dass es sich um einen besonderen Fisch handelt, einen Naturgeist oder so etwas.
Also, ich wollte da nichts vorwegnehmen. Oder hast du da was im Sinn, das wirklich nur eine Andeutung wäre, ohne zu viel zu verraten?

Ich denke übrigens nicht, dass der Fisch ein Naturgeist oder so ist. Nach meiner Lesart ist er ein ganz normaler Fisch. Aber das ist auch nur meine Sicht. Wenn die Geschichte dir mehr gibt, wenn er eine mystische Gestalt ist, will ich dich nicht davon abbringen. Hat das sonst noch jemand in dieser Weise gelesen?

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.04.2015, 05:19   #5
Thing
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Ich persönlich habe in dem Fisch selbst nichts Mystisches gesehen.
Aber in der Wandlung des Ich-Erzählers.
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.04.2015, 14:05   #6
männlich Schmuddelkind
 
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Ich denke, so ähnlich sehe ich das auch, wobei ich auch diese Wandlung nicht auf einen Zauber oder so zurückführen würde, sondern eher auf die Konsequenz, einen Weg zu gehen, den einzuschlagen, den meisten von uns wohl der Mut fehlen würde. Ich schätze, das Mystische liegt eher in der Möglichkeit, die wir unserer Erfahrung nach ausschließen würden, wohinter wir aber nicht mit letzter Konsequenz stehen können, da uns eben genau diese Erfahrung fehlt.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.04.2015, 14:43   #7
Thing
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Standard Lieber Schmuddelkind -

mystisch ist zum Glück ein mehrdeutiges Wort.
Ich wurde bei einigen Wendungen in Deiner schönen Geschichte unwillkürlich an Thomas Manns Roman "Der Erwählte" erinnert.
Auch dort erfährt der Protagonist eine Art mystischer Wandlung.
(Das ist aber auch die einzige Ähnlichkeit zu Deiner Geschichte!).

GLG
Thing
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Alt 06.05.2015, 21:17   #8
männlich Schmuddelkind
 
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Zitat:
mystisch ist zum Glück ein mehrdeutiges Wort.
Das ist wahr. Ich denke aber, dass der gemeinsame Nenner darin besteht, dass etwas Unergründliches vor sich geht, etwas, das wir weder mit Gewissheit verifizieren, noch falsifizieren können. Ich schätze, in der modernen Gesellschaft ist der Glaube an Dinge abhanden gekommen, die jenseits der intersubjektiv nachvollziehbaren Welt existieren (und damit meine ich nicht notwendigerweise religiös motivierte Ideen). Das halte ich für gefährlich, sterben doch in letzter Konsequenz auch solche Vorstellungen wie Liebe und Freundschaft.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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