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Alt 06.12.2005, 10:33   #1
TobiL.
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Beiträge: 280


Standard Der kleine Bruder

Die Mutter sitzt am Tisch. Sie stopft das Loch im Pullover ihres kleinen Sohnes. Sie ist nicht fröhlich. Ihr kleiner Sohn ist es auch nicht. Die Glühbirne wirft kaltes Licht in den Raum. Es ist still. Nur die einzige Uhr in der Wohnung tickt. Rhythmisch und ohne Erbarmen schlägt das Ticken in den Kopf der Mutter. Mit versteinerter Miene schaut sie auf ihre Arbeit.
Der kleine Sohn sitzt auf dem Boden seines kleinen Zimmers, spielt mit seinen Bauklötzen und lauscht der Uhr. Ihm ist kalt. Wie lange ist es her, dass sie ihre Wohnung heizen konnten? Wie lange ist es her, dass er einfach so hinaus gehen konnte und mit seinen Freunden spielen konnte? Sie sind alle weg, die Freunde. Auf einmal waren alle verschwunden. Auch die Eltern und Omas und Opas der Freunde, waren alle plötzlich weg. Ein paar mal hat er bei ihnen geklingelt und Stunden vor der Tür gesessen und gewartet, dass jemand kommt, aufmacht und sagt: „Schön, dass du hier bist. Meine Mutter hat gerade Kuchen gebacken. Komm rein und iss mit uns.“ Sein schöner Turm fällt um. Alle Steine purzeln auf den Boden.
Sein großer Bruder war auch schon lange nicht mehr da. Er ist ein Jahr nach seinem Vater gefahren. Seine Mutter hat gesagt, dass sie Urlaub machen. Er würde auch gerne Urlaub machen. Er hat sonst ja nichts zu tun. In den Kindergarten kann er auch nicht mehr gehen, er weiß nicht warum.
Seine Mutter ist anders. Irgendwie anders. Vielleicht sind ihre Freunde auch weg. Sie ist still geworden. Sie macht keine Späße mehr und spielen tut sie auch nicht mehr mit ihm.
Es ist dunkel draußen. Früher wären jetzt die Laternen angegangen, doch seitdem sein großer Bruder fort ist, bleibt es dunkel. Seine Mutter kommt. Der Pullover ist wieder heil. Morgen kann er ihn wieder anziehen. Nun müsse er aber ins Bett, sagt seine Mutter als sie rein kommt. Es sei schon spät und morgen müsse er früh auf stehen, weil seine Oma zu Besuch kommt. Er geht ins Bett und wartet. Wartet, dass er schläft.
Am nächsten Morgen. So gegen 7.30 Uhr, der Junge schlief bis jetzt noch, wird er von einem kurzen Gespräch an der Haustüre geweckt. Ein Mann ist da, der einen Brief bringt. Nein, kein normaler Postbote, ein Mann in Uniform. Der Junge freut sich, nun will er auch Postbote werden, wenn Postboten auch eine Uniform tragen, wie Polizisten, dann ist das für ihn genau das Richtige. Als keine zwei Minuten später seine Mutter weinend über dem Küchentisch zusammenbricht, rennte er zu ihr, um zu erfahren, warum seine Mutter so bittere Tränen weint. Er wird grob zur Seite geschoben. Seine Großmutter ist da. Ihre Augen sind feucht von Tränen. Auch sie weint. So fängt er auch an zu weinen. Er weiß nicht was passiert ist, aber es muss sehr traurig sein. Ernst tritt der Nachbar ein. Sein langer rausche Bart und seine große Statur lassen ihn aus sehen wie einen Bär. Mit seinen kleinen, hinter einer Brille verschwindenden Augen mustert er die Szenerie und tritt auf die Mutter zu, um ihr sein herzliches Beileid zu bekunden. Als dann tritt er an die Seite um seiner Frau, einer kleinen buckligen Frau, mit grauen Haaren und einem Krückstock, den Weg zu der trauernden Witwe frei zu machen. Ihr Gesicht ist starr und grau. Die tiefen Falten graben sich in ihr langes, altes Gesicht und lassen sie aus sehen, wie eine alte Statue. Der Himmel vor den Fenstern wird schwärzer und die knochigen Bäume bewegen ihre Zweige wie tote Arme im Wind. Die Trauer. Sie schwebt in der Luft und dringt in ihre Leiber und Herzen. Sie flutet jegliches Geschöpf, was sich in dem kleinen Raum aufhält. Obschon der Junge nicht weiß, was passiert ist, schaut er ernst und traurig, mit seinen in tiefen Höhlen liegenden Augen und seinen eingefallenen Wangen zur Uhr hinauf, die unerbittlich tickt und sich wie Schwerter in die Hirne schneidet.
Niemand sagt ein Wort, als die Mutter ihren kleinen Sohn zu sich holt und sagt: „ Dein großer Bruder ist gestorben. Du bist nun alleine.“ Der kleine Junge schaut erschrocken in die klaren, grünen Augen der Mutter. Sie macht keine Scherze. Sein großer Bruder ist tot. So dann geht er langsam in seinen kleinen Raum, wo die Bauklötze immer noch verstreut auf dem Boden liegen. Er schließt die Tür und grinst. Nun wird ER das große Zimmer seines Bruders bekommen.
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