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Alt 04.01.2008, 23:26   #1
triforium
 
Dabei seit: 01/2008
Beiträge: 13


Standard Müller und die Mäuse (zweiter Teil)

Müller blickte vorsichtig in die Schachtel, voller Sorge um das Wohl der Jungen. Es würgte ihn im Hals, wenn er ihre Hilflosigkeit sah. Ganz von fern stieg der Gedanke auf, dass er es wohl nicht schaffen würde, sie durchzubringen, er wusste ja nicht, was er alles falsch machte, was ihnen schaden könnte, er hatte ja keine Erfahrung mit Neugeborenen, war auf das alles nicht vorbereitet gewesen. Eigentlich wollten sie das Wochenende in Ruhe genießen, ausspannen und auf der Terrasse in der Sonne liegen. Müller sah in dem Blick seiner Frau einen leisen Vorwurf, als würde sie sagen: Nicht mal mehr am Wochenende kann man ausspannen, ich habe weiß Gott andere Dinge im Kopf. Urplötzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass die Lieblingstante seiner Frau an diesem Tage in einer fernen Stadt beerdigt wurde, wie konnte er das nur vergessen, wie unbedeutend dagegen war das Schicksal dieser kleinen Mäuse. Er streichelte seiner Frau über den Arm, sie jedoch zog den Arm zurück. Müller überfiel ein beklemmendes Gefühl. Er versuchte sich abzulenken, indem er den Fernseher anstellt und sich auf das Sofa legte. Hin und wieder blickte er zu Tisch hinüber, auf dem die kleine Schachtel mit den Mäusen stand, leise vernahm er ihr immer wieder aufflackerndes Piepsen.
Die Nacht über konnte er nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich hin und her, urplötzlich sprang er auf und ging hinunter ins Wohnzimmer, um nach den Mäusen zu sehen. Er vermied es, das Licht anzuschalten, um seine Frau nicht zu stören. Als er endlich eingeschlafen war, träumte er, er sei umgeben von Hunderten von Mäusen. Der ganze Fußboden war voller Mäuse. Sie waren unterschiedlich groß, hatten menschliche Gesichtszüge und sahen ihn freundlich an als wollten sie ihm sagen, dass sie es gut und richtig fänden, dass er sich um die Jungen kümmerte. Müller hatte ein sehr angenehmes Gefühl, er fühlte sich geliebt von den Mäusen, er fühlte wohlige Wärme in sich aufsteigen. An mehr erinnerte er sich nicht, doch er muss bedeutend mehr geträumt haben, das sagte ihm sein Gefühl.
Am nächsten Tag war viel zu erledigen. Nach dem Füttern der Jungen setzten sie sich an den Frühstückstisch, der wie an jedem Samstag sehr schön dekoriert war. Müller hatte keinen Appetit, unruhig bewegte er sich auf dem Stuhl. Kannst du nicht mal fünf Minuten ruhig sitzen bleiben, sagte seine Frau, es ist ja schlimm heute mit dir. Müller sagte: Was soll ich denn machen mit den Jungen in der nächsten Woche, ich weiß doch nicht, wohin mit ihnen, insbesondere wenn ich auf die Dienstreise gehe. Er wagte es nicht, seine Frau darum zu bitten, die kleinen mit ins Büro zu nehmen. Nun reg dich mal nicht so auf, sagte seine Frau, es wird sich schon eine Lösung finden. Wir rufen die Tierärztin an, die wird die Jungen sicher über die Woche nehmen. Außerdem gibt es Tierheime, die sich um so was kümmern. Müller wandte ein, dass die Tierheime sicher nicht bereit seien, einen Wurf Feldmäuse anzunehmen, er habe das so im Gefühl und er würde sich lächerlich machen. Ganz im Gegenteil, sagte seine Frau, die sind doch froh, wenn sich einer wie du um die Tiere kümmert, auf solche Menschen wie dich sind die doch angewiesen.
Müller war etwas erleichtert und fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos. Wahrscheinlich hatte seine Frau recht, die würden sich in der nächsten Woche schon um die Tiere kümmern. Es schien ihm, als falle ihm ein Stein vom Herzen, dankbar blickte er seine Frau an. Sie holte daraufhin das Telefonbuch setzte sich an den Tisch zurück und blätterte darin herum. Voller neuer Hoffnung ging Müller in die Küche und bereitete für sich und seine Frau einen neuen Kaffee. Schau mal, sagte sie, hier im Nachbarort ist ein Tierverein, die rufst du jetzt an und fragst, was du machen sollst. Die haben aber bestimmt kein Tierheim, das haben sie nur in größeren Städten, wandte Müller ein. Quatsch, die müssen sich doch kümmern, erwiderte seine Frau und wies in Richtung Telefon. Müller nahm den Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Frau, die Müller auf Mitte Vierzig schätze, sie hatte etwas Verständnisvolles und Mütterliches in der Stimme. Müller schilderte sein Anliegen, wobei er sich einen Augenblick lang lächerlich vorkam und sich fragte, was die Frau wohl von ihm denken würde, dass er wegen ein paar Feldmäusen anrief. Mein Gott, sie Ärmster, hörte er die Frau sagen, was soll ich ihnen dazu sagen. Wir haben hier kein Tierheim und ich wüsste nicht, wer sich um die Tiere kümmern sollte. Was soll ich denn machen, wendete Müller ein, ich bin den ganzen Tag unterwegs und kann die Jungen doch nicht verhungern lassen. Nein, nicht, sagte die Frau, aber vielleicht kennen sie jemanden in ihrer Nachbarschaft, der auf die Jungen aufpasst, wenn sie nicht da sind. Müller verneinte, die Frau am anderen Ende der Leitung seufzte. Mein Gott, was soll ihnen sagen, sie sind praktisch der Gestrafte, weil sie die Mäuse gefunden haben. Müller verabschiedete sich und legte resigniert den Hörer auf den Tisch. Und ?, fragte seine Frau, was haben die gesagt. Sie können mir nicht helfen, sagte Müller, überhaupt habe ich das Gefühl, dass sie mir nicht helfen wollen.
Dann rufen wir eben im Tierheim in der Stadt an. Sie blätterte wieder im Telefonbuch und diktierte ihm die Nummer, die er sich sicherheitshalber auf einen kleinen Zettel schrieb. Als er anrief, meldete sich der Anrufbeantworter. Müller erfuhr, dass das Tierheim nur an den Wochentagen geöffnet habe, Tiere aber auch am Wochenende angenommen würden. Verletze oder gefundene Tiere solle man vorher bei den örtlichen Polizeidienststellen melden. Müller legte auf und berichtete seiner Frau. Mit einem gequälten Grinsen sagte er, ich rufe jetzt die Polizei an und melde die Mäuse dort. Du bist wohl verrückt, erwiderte seine Frau, du willst dich wohl lächerlich machen. Ruf jetzt die Tierärztin an, die hat heute Sprechstunde, allerdings nur nach Termin. Ich habe es doch gestern schon versucht und ihr auf Band gesprochen, erwiderte Müller. Die hatte bestimmt bisher keine Zeit, sagte seine Frau, sie ist bestimmt am Freitag bis spät abends weg gewesen, die arme Frau muss doch auch mal etwas Zeit für sich haben.
Müller nahm folgsam und ein wenig dankbar den Telefonhörer, auch weil sich die Angelegenheit nicht verschieben ließ. Es musste heute eine Lösung gefunden werden, wieder wurde er unruhig. Warte doch erst mal ab, sagte seine Frau, das wird sich schon regeln, bis Montag früh ist noch viel Zeit. Dieses Argument konnte Müller nicht überzeugen, bisher hatte sich seine Skepsis, dass sich jemand anderer der hilflosen Mäuse annehmen würde, bestätigt. Die Tierärztin meldete sich. Als Müller seinen Namen nannte und nachfragte, ob sie seine Nachricht erhalten habe, entschuldigte sie sich, dass sie nicht schon früher angerufen hätte, aber sie sei bis spät in der Nacht weg gewesen. Etwas Verlegenes klang in ihrer Stimme und wieder machte sich Befürchtung in ihm breit. Er schilderte ihr sein Problem, dass er nicht wisse, was er in der kommenden Woche mit den Jungen machen solle und zitierte die Kollegin. Das glaube ich weniger, dass die Kollegin das gesagt hat, hörte er sie lachend sagen. Müller wollte nicht weiter auf sie eindringen und bat um Rat, mit welchem Instrument er die Jungen füttern sollte, da sein Schrumpfschlauch nur ein Provisorium sein konnte, bestimmt nicht tiergerecht. Ich gebe ihnen eine Spülkanüle, antwortete sie, sie können sie abholen, ich lege sie vor die Tür. Müller bestätigte, hoffend auf eine positive Antwort, dass er am Wochenende sein Bestes geben werde und ihr die Jungen am Montag vorbeibringen werde, so dass sie sich in der kommenden Woche, wenigsten an den Werktagen, um sie kümmern müsse.
Wegen seiner großen Not und der Angst, für die Jungen keinen Platz zu finden, aber auch wegen der inneren Gewissheit, dass es Pflicht und insbesondere die Pflicht der Ärzte sei, Lebewesen in Not zu helfen, formulierte er, kümmern müsse, wobei er mit diesem müsse ausschließlich auf die dringende Notwendigkeit, nicht aber auf einen Anspruch seinerseits hinweisen wollte. Müssen tu ich gar nichts, hörte er die freundliche aber energische Stimme am anderen Ende der Leitung, sie sei die Woche über sehr beschäftigt, da sie eine Woche später ins Krankenhaus käme. Wenn überhaupt, dann könne sie sich an einigen Tagen der Woche um die Kleinen kümmern, sie habe aber eigentlich nicht die Muße und Ruhe dazu, wegen der vielen Arbeit in der Praxis. Man müsse sich aber in Ruhe mit den Jungen beschäftigen, sonst werde es nichts.
Müller verabschiedete sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheit mit knappen Worten, wobei er einen etwas abweisenden Tonfall in seiner Stimme nicht verbergen konnte. Zu seiner Not und Angst um das Wohlergehen der Jungen gesellte sich nun auch noch Enttäuschung und Wut. Offensichtlich, so ging es ihm durch den Kopf, stieß er überall auf Abwehr, wenn auch nicht offene, so doch verdeckte Abwehr. Die Blicke, wenn er von seinem Fund erzählte, sagten ihm alles: Zunächst freundliches Erstaunen, dann ein Lächeln, nicht mehr so freundlich, eher gequälte Skepsis, dazu ein sorgenvoller Blick, nicht wirklich sorgenvoll, sondern gespielt sorgenvoll und dann die langsam aufkeimende Abwehr, die, begleitet von sorgenvollem Bedauern sich zum Schluss des Gesprächs verdichtet und verfestigt zu der Gewissheit, im Augenblick ganz bestimmt nichts für die Jungen tun zu können, zwar eigentlich etwas tun zu wollen, aber nichts tun zu können, da im Augenblick keine Zeit und dergleichen.
Er hatte zwar Selbiges von Anfang an erwartet, wollte dieses jedoch wie immer nicht akzeptieren. Nun aber, da es eingetreten war, traf es ihn mit noch größerer Intensität, als er erwartet hatte. Es war wieder dieses würgende Gefühl in der Kehle, das ihn unruhig werden ließ. Konnte es denn einen Unterschied geben zwischen großer und kleiner Kreatur? Sank die kleine Kreatur je nach ihrer Größe in der Beliebtheitsskala und Akzeptanz? Wer beschäftigt sich schon mit Mäusen? Im Gegenteil, sie werden in jedem Garten erbarmungslos bekämpft, in jedem Fachgeschäft, insbesondere in den großen Gartencentern der Vorstädte, hatte er ein umfangreiches Sortiment an Mäusefallen und –giften beobachtet. Mäuse waren Schädlinge, nichts weiter als Ungeziefer, etwa so wie Tauben, die neuerdings als Ratten der Lüfte bezeichnet werden. Dabei waren es doch noch gar keine richtigen Mäuse, waren noch nicht ausgeformt, noch nackt und unschuldig, noch im Werden begriffen, hatten soeben erst das Licht der Welt erblickt, noch keinerlei Schuld auf sich geladen, voller ungestümen Lebensdranges, ohne Furcht, voller Hoffnung, waren in ihrer Winzigkeit und Nacktheit Gleiche unter Gleichen. Müller empfand die Last der Verantwortung in all ihrer bedrückenden Konsequenz, konnte sich ihrer jedoch nicht mehr entziehen, ward bedrängt von der sich mehr und mehr zu Wort meldenden inneren Stimme, sich dieser Schutzlosen anzunehmen, sie nicht sich selbst zu überlassen.
Nicht, dass er nicht helfen wollte, nicht dass er zu bequem und mitleidlos gewesen wäre, ganz im Gegenteil, er mischte sich ständig ein, wenn es galt zu helfen, wenn etwas getan werden musste. Nein, das war es ganz gewiss nicht, das konnte man ihm nicht nachsagen. Es war vielmehr dieses Gefühl der Hilflosigkeit dem Hilflosen gegenüber, die immer größer werdenden Ratlosigkeit angesichts einer Aufgabe, von der er nichts verstand, die ihm niemals zuvor gestellt worden war. Auf dem Weg in die Stadt fuhren sie an dem kleinen Häuschen der Tierärztin vorbei, um die versprochene Kanüle abzuholen. Der Mann im Garten grüßte freundlich, blickte ihn mit warmen Augen an und fragte nach dem Befinden. Vor kurzem hatte er den kleinen Granithasen besorgt, der jetzt das Grab des Kaninchens zierte. Das freundliche Wesen des Mannes versöhnte Müller für einen kurzen Augenblick. Die Ärztin überreichte die Kanüle, drückte noch einmal ihr Bedauern aus, dass sie keine Zeit für die Pflege der jungen Mäuse hätte und gab noch einige Ratschläge, an die sich Müller jedoch später nicht mehr erinnerte.
Die Fahrt in die benachbarte Stadt dauerte nicht lang. Entgegen der samstäglichen Gewohnheit, um den Marktplatz herumzustreifen und sich die Auslagen der Schaufenster anzusehen, zog sich Müller heute in das kleine Kaffee zurück, während seine Frau einige Einkäufe erledigte. Bei der Lektüre der Tageszeitung schweiften die Gedanken ständig ab, überhaupt wollte sich die übliche samstägliche Einkaufsstimmung nicht einstellen. Kurze Zeit später verließ er das Kaffee, um zusammen mit seiner Frau ein paar Expressotassen zu kaufen, wobei er besonderen Wert auf die klassische Form dieser kleinen dickwandigen, braun glasierten Tassen legte. Es schien ihm, als wäre alles um ihn herum weiter entfernt als sonst, als bewege sich alles etwas langsamer, als stehe er unbeteiligt am Rande des Geschehens, nur als Beobachter seiner Umgebung wie auch seiner selbst. Er fühlte sich elend, ohnmächtig und müde und konnte dieses Unwohlsein nur schwer vor seiner Frau verbergen.
Wieder zuhause angekommen, entledigte er sich schnell seiner Schuhe, schlüpfte in die bereitstehenden Pantoffel und steuerte direkt auf den großen Wohnzimmertisch zu, auf dem in der Mitte die Wärmflasche mit der kleinen Schachtel lag. Müller blickte sorgenvoll blinzelnd und gleichzeitig fasziniert auf die hilflos zappelnden Wesen, die am Boden der Schachtel auf einem weichen Flies lagen. Sobald er auch nur eines mit dem Finger berührte, und war es noch so sachte, löste er ein energisch nach Nahrung bettelndes, ja forderndes Piepsen aus, in dessen Rhythmus spätestens nach ein paar Sekunden auch die anderen Jungen einfielen. Müller erinnerte dieses Piepsen zunächst an den fernen Schrei der Lachmöwe, den er als Kind, auf dem Deich stehend und mit windzerzausten Haaren über den weiten Horizont des Wattenmeeres blickend, so geliebt hatte. Jetzt aber, aus dem Inneren der Schachtel an sein Ohr klopfend, Nahrung einfordernd, legte sich dieser feine, intensiv klagende Ton wie ein kalter Nebel an die Innenwand seines Herzens, so dass es ihn stach, nicht kräftig, aber doch so, dass er sich an die Brust fasste. All seine Sinne waren wie Scheinwerfer auf den Grund der Schachtel gerichtet, in dessen Lichtkegel das Kleine groß, das Leise laut und das Unbedeutende bedeutend geworden war.
Er konnte sich dem Geschehen nicht mehr entziehen. Die kleinen Wesen hatten in seinem Unterbewusstsein eine Tür aufgestoßen, von der er dachte, dass sie längst verschlossen und sicher verriegelt sei. Unaufhaltsam quoll es hervor, stieg in ihm auf, drang an die Oberfläche, benetzte seine Seele erst in kleinen Rinnsalen, dann in einem breiter werdenden Strom, der sich kaskadengleich über ihn ergoss, so dass sein Verstand durchtränkt war mit Gefühlen, denen er hilflos ausgeliefert war. Er versuchte sich zu besinnen, appellierte an die Vernunft, redete sich ein, dass doch alles nur natürlich und von ihm nicht zu beeinflussen sei. Doch je mehr er das in ihm aufsteigende Gefühl zu verdrängen suchte, umso stärker bahnte es sich seinen Weg, brach hervor mit einer urgewaltigen Kraft, der er nichts entgegenzusetzen hatte.
Müller war verzweifelt. Alles, was ihm noch gestern wichtig gewesen war, trat nun in den Hintergrund zurück. Wieder verspürte er dieses würgende Gefühl, dieses Herzklopfen, diese innere Anspannung, nichts war geblieben von der Zufriedenheit der vergangenen Tage. Seine Frau registrierte Müllers Unzufriedenheit in zunehmendem Maße und reagierte nervös. Ihr war unwohl, sie war verunsichert. So kenne ich dich nicht, sagte sie. Müller waren ihre Blicke nicht entgangen, er erwiderte sie nur kurz, ängstlich, insgeheim wartend auf ein tröstendes Wort. Er verschwand in der Küche und bereitete die Milch für die Mäuse, die er dann in die mitgebrachte Kanüle aufzog. Vorsichtig nahm er eines der kleinen Würmer zwischen Daumen und Zeigefinger, immer darauf achtend, dass er das kleine nicht verletzte. Anfangs zitterte er am ganzen Körper, hinterher nur noch mit den Fingern, mit zunehmender Übung wurde er jedoch ruhiger, ja, er erwarb sogar eine gewisse Sicherheit im Umgang mit diesen kleinen Geschöpfen.
Das Füttern der Mäuse misslang, auch hier war die Kanüle viel zu groß für die kleinen Mäuler. Also griff Müller wieder zu seinem Schrumpfschlach mit der dünnen Spitze, saugte vorsichtig etwas Milch hinein und gab den kleinen zu trinken. In dem Augenblick, in dem sie ihre kleinen Mäuler geöffnet hatten, saugten sie gierig und Müller erkannte das winzige Auf und Ab des Kehlkopfes. Ob ihnen die Milch wohl bekommen würde, fragte er sich, als er kurz darauf die heftig zuckenden Leiber der Kleinen beobachtete. Eines nach dem anderen nahm er aus der Schachtel, legte die Gefütterten vorübergehend in eine mit einem Tuch ausgeschlagene Tasse, um ja keines zu übersehen. Da die Milch sehr klebrig war, reinigte er anschließend jedes einzelne Junge mit einem feuchten Wattestäbchen und legte es dann in die Schachtel zurück. So ging es alle zwei Stunden und mit jedem Mal vergrößerte sich Müllers Sorge um den Erfolg seiner Bemühungen.
Nun mach dir mal keine Sorgen wegen der nächsten Woche, sagte seine Frau immer wieder, es wird sich schon jemand finden, der auf die Jungen aufpasst. Doch soviel sie auch auf ihn einredete, sich bemühte, sie konnte Müller nicht beschwichtigen, drang auf eine merkwürdige Art nicht mehr zu ihm durch, mehr noch, jeder Versuch, ihn zu beruhigen, bewirkte nur das Gegenteil, war Wasser auf die Mühlen seiner Angst. Und so wurde auch sie von Mal zu Mal unruhiger, hilfloser, wütender, auf sich selbst, weil sie sich so aufregte und auf die Jungen, weil sie ihr das Wochenende verdorben hatten. Bald fingen sie an zu streiten, das eine Wort gab das andere, bis sich seine Frau, leise vor sich hin schimpfend, in die Küche zurückzog. Als er ihr nach einer Weile in die Küche folgte, ging er, obwohl es ihm schwer fiel, zu seiner Frau an die Spüle und nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich dankbar an ihn, legte ihre nackten Füße auf seine und sagte: Vielleicht sind wir nur alle viel zu sensibel. Er sah aus dem Fenster und antwortete ihr: Man kann nicht sensibel genug sein. Sie erwiederte: Ja schon, aber vielleicht ist das alles viel zu viel. Sie meinte wohl die viele Arbeit im Büro, im Haushalt und dann das noch. Müller schwieg und ging aus der Küche.
Spät abends war eines der Jungen gestorben. Regungslos lag es zwischen den zappelnden Jungen, mit an den Leib geschmiegten Gliedern, die winzigen Vorderpfoten wie zum Gebet zusammengepresst. Müller beobachtete mit tränenverhangenen Augen dieses kleine Wesen und erstaunte darüber, wie wohlgeordnet das Leben den Körper verlässt. Einen kurzen Augenblick war ihm, als berühre etwas zartes seine Seele, eine Ahnung stieg in ihm hoch, die er zwar deutlich verspürte, von der er sich aber keine klare Vorstellung machen konnte. Noch einige Minuten saß er vor der Schachtel und konnte des Blick nicht abwenden, wie gebannt starrte er auf den winzigen Körper, der wie eine wächserne Skulptur auf dem Boden der Schachtel lag. Schließlich nahm er das tote Junge, wickelte es vorsichtig in einen Fetzen Papier, ging in die Nacht hinaus in den Garten und begrub es an der Stelle, wo bereits seine Frau das vor kurzem gestorbene Kaninchen begraben hatte. Es war eine sternenklare Nacht, als er zum Himmel hinaufblickte, bemächtigte sich seiner ein friedvolles Gefühl, es schien ihm, als habe er sich von einer Last befreit, seine Schuldigkeit getan, der Natur etwas zurückgegeben, was ihr und nicht ihm gehörte, es war ein Gefühl als habe er etwas abgeschlossen in seinem Leben.
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Alt 04.01.2008, 23:27   #2
Struppigel
 
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Beiträge: 1.007


-verschoben, da es kein Theaterstück ist-
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Lesezeichen für Müller und die Mäuse (zweiter Teil)




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