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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 15.08.2020, 13:14   #1
weiblich buch.buecher.lyrik
 
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Standard Der Funktionär

Der Funktionär ist eigentlich eine Frau, aber sie und die anderen Funktionäre konnten sich nicht einigen, wie gendergerecht der Funktionär dargestellt werden kann. Also einigt man sich lieber auf gar nichts. Der Funktionär hat einen leichten Buckel, den man sich hart erarbeiten muss, wenn am Ende alle den Buckel runterrutschen. Außerdem pflegt der Funktionär immer ironisch zu lächeln, das hilft aus jeder noch so brenzligen Situation heraus. Denn diejenigen, die wirklich lächeln, haben nichts zu lachen. Und das sind die Gefreiten. Sie sind davon befreit, eine Rolle zu spielen.
Eines Tages läuft der Funktionär auf dem Gang auf und ab.
„Frau Funktionär, darf ich Ihnen weiterhelfen?“, fragt irgendein Gefreiter, für die Situation unerheblich, ob Mann oder Frau oder oder.
„Helfen Sie sich selbst! Ich funktioniere hier im Auftrag des Oberfunktionärs.“, schreit der Funktionär. Der Gefreite kehrt auf seinen leeren Platz zurück.
Am Ende des Tages ist der Funktionär entsetzt. Die Smartwatch zeigt so viele Schritte an, es ist unmöglich jeden Schritt zu rekapitulieren. Deswegen wagt sich der Funktionär nur noch einen Schritt. Sie geht zu ihrem Oberfunktionär und beschwert sich über die nutzlosen Gefreiten.
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Alt 15.08.2020, 14:40   #2
männlich Pjotr
 
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Hallo,

meine Gedanken zu Deinem Text:


"Der Funktionär ist eigentlich eine Frau"

An dieser Stelle wunderte ich mich, warum hier das überflüssige Wörtchen "eigentlich" steht. Ich bin ein Mensch, der bei Berufwörtern automatisch sowohl männliche, als auch weibliche, als auch transsexuelle Wesen im Lesekopf hat. Also wenn jemand zu mir sagt, er müsse zum "Arzt", dann denke ich tatsächlich an den geschlechtsneutralen Arztberuf, und nicht an einen Penis -- entgegen der Behauptung mancher Tschenderisten, man denke automatisch an einen männlichen Arzt. -- Nun denn: Einige Sekunden später wurde mir bewusst, dass das Wörtchen "eigentlich" sich wohl auf "Der ...är" bezieht. So unkonditioniert bin ich, dass mir das Tschender-Problem gar nicht aufgefallen war. (Ich bin für Gleichberechtigung in vielerlei Eigenschaften, nicht nur in Geschlecht, Hautfarbe, Religion etc., sondern auch in Gewicht, Alter, Augenfarbe, Wohnort etc. pp. Den Tschenderismus lehne ich ab, weil ich ihn für sexistisch halte; Geschlechtern bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben ohne Differenzierung und ohne Anerkennung der geschlechterübergreifenden Schnittmengen, ist purer Sexismus, also geschlechtsbezogener Rassismus.)


"Der Funktionär hat einen leichten Buckel"

Das ist die Stelle, mit der ich den Text begonnen hätte. Die Einleitung davor halte ich für themenfremd, also überflüssig.


Oder ist die Einleitung doch wichtig?

Wenn das Geschlecht wichtig ist, dann hätte ich etwa so gestartet: "Der Funktionär Lieselotte Funkental hat einen leichten Buckel ..."


Gesamteindruck?

Meinem Eindruck nach stecken in Deinem Kopf viele interessant verknüpfte Gedanken; Du versuchst, diese Verknüpfungen niederzuschreiben und mitzuteilen. Für Dich mag der Text zu Deinem Verständnis hinreichen, weil Du Deine Gedanken kennst. Für andere Leser (wie mich) ist der Text schwer verständlich, da sie Deine Gedanken nicht kennen. Ich meine, es wäre hilfreich für Dich und Dein Publikum, wenn Du genau überprüftest, ob in Deinem Text wirklich alle zum Verständnis relevante Informationen eingebaut sind. Man wird manchmal betriebsblind in solchen Dingen. Andernfalls wird das zu abstrakt und die Interpretationsmöglichkeit so beliebig wie ein leeres Blatt.


Ahoy

P.
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Alt 16.08.2020, 14:28   #3
weiblich buch.buecher.lyrik
 
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Hallo Pjotr,

erst einmal vielen Dank für dein Feedback. Damit kann ich tatsächlich viel anfangen, denn es ist nicht ausschließlich vernichtend, sondern konstruktiv.
Du motivierst mich, meinen Text noch einmal zu bearbeiten, denn ich habe verstanden, was du meinst.

Zum Gendern möchte ich nur so viel sagen: Man muss es nicht auf die Spitze treiben. Ich habe es eingebaut, da ich etwas Bestimmtes ausdrücken wollte, es aber anscheinend nicht richtig umgesetzt habe. Das passt zu deiner postulierten Betriebsblindheit.

Allerdings muss ich zugeben, dass ich es dem Interpreten gerne schwer mache. Ich bin der Ansicht, dass ein Text keine in sich abgeschlossene Deutungshoheit haben sollte bzw. kann. Ein Text wird erst durch den Rezipienten zum Leben erweckt. Ich stehe für intuitives Schreiben und nicht für bis ins kleinste Detail konstruierte Wahrheiten. Aber auch das bedarf einer gewissen Strukturiertheit und Übung. Ich arbeite daran.

Viele Grüße und schönen Sonntag!
Janina
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Alt 16.08.2020, 20:22   #4
männlich Pjotr
 
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Gu'nabend, Janina,

freut mich, dass man mit Dir konstruktiv diskutieren kann.

Deinen Text betrachte ich jetzt mal als Schachspiel, das es zu analysieren gilt. Ich tue das aus Spaß an Logikaufgaben.

Tabellarisch aufgedröselt:


Die Besetzung

Der Oberfunktionär (singular)

• Charakter und Geschlecht unbekannt.

Frau Funktionär (singular)

• Weiblich. Ist diese Information relevant?

• Handelt im Auftrag des Oberfunktionärs.

• Sie hat einen Buckel; an dem lässt sie alle runterrutschen, sprich: Sie ignoriert alle.

• Ihr Buckel ist nur leicht ausgeprägt. Ist die Information "leicht" relevant?

• Ihren Buckel hat sie hart erarbeitet. Warum ist der "hart erarbeitet"? Weil die vielen Runterrutschenden ihn ständig flachdrücken? Oder musste sie ihn schuftend aufbauen, weil sie plant, alle daran runterrutschen zu lassen?

• Stets ironisch lächelnd, um sich vor Konflikten zu schützen.

• Eine Rolle spielend, also unehrlich verhaltend.

• Fordert schreiend, dass jeder sich selbst helfe. Ob sie diese Forderung ehrlich meint, ist unklar. Wahrscheinlich meint sie das nicht wirklich so, und ist nur verzweifelt. Sie lächelt dabei nicht, also ist die Forderung zumindest nicht ironisch gefärbt.

Die Gefreiten (plural)

• Ihr Lachen ist ehrlich; dadurch geraten sie in Konflikte.

• Sie sind authentisch, also keine Rollenspieler.


Die Kulisse

• "Eines Tages läuft der Funktionär auf dem Gang auf und ab." Vermutlich befindet man sich in einer Art Bürogebäude. Herrscht dort Langeweile?


Die Geschichte

• "Eines Tages ..." Das klingt, als laufe Frau Funktionär zum ersten Mal dort auf und ab. Das deutete auf ein neuartiges Ereignis hin. Aber so ist das wahrscheinlich nicht gemeint. Sondern neuartig ist wohl der folgende Dialog?

• Ein Gefreiter bietet Frau Funktionär Hilfe an. Das heißt, das Auf- und Abgehen im Gang symbolisiert keine Langeweile, sondern eine Problemlösungssuche.

• Frau Funktionär lehnt das Hilfsangebot schreiend ab, weil sie im Auftrag des Oberfunktionärs funkioniert.

• Der Gefreite kehrt zu seinem Platz zurück. Ist diese Information relevant? Wenn ja, warum fehlt die Information, woher er kommt? Kommt er zufällig im Gang vorbei? Oder war er an seinem Platz und hatte von dort aus den Gang im Blick, und ging gezielt zu Frau Funktionär?

• Am Ende des Tages ist Frau Funktionär entsetzt. Warum? Entweder, weil ihre Smartwatch anzeigt, dass sie unfassbar viele Schritte im Gang gelaufen ist. Oder weil sie sich an jeden einzelnen Schritt nicht mehr erinnern kann. Diese Stelle markiert vermutlich eine zentrale Metapher. Leider ist sie wegen der Entweder-oder-oder-gar-beides-Möglichkeit schwer zu begreifen. Außerdem symbolisierte das Auf- und Abgehen vielleicht weder Langeweile noch Lösungssuche, sondern zweckfreie Arbeitszeitvergeudung.

• Weil sich Frau Funktionär nicht mehr an jeden Schritt erinnern kann, wagt sie jetzt nur noch einen Schritt, einen Entscheidungs-Schritt: Sie beschwert sich beim Oberfunktionär über die nutzlosen Gefreiten.


Interpretationsbeispiele

• Wie der letzte Entscheidungs-Schritt, waren alle Schritte auf dem Gang metapherhafte Entscheidungs-Schritte. Aber was wurde da entschieden? Wahrscheinlich nichts. Es war wohl eher eine Metapher für Nichtstun.

• Frau Funktionär versucht vergeblich, produktiv zu sein, tut aber nichts, und schiebt die Schuld stattdessen auf die Gefreiten. Diese Pointe wäre ein bisschen banal.

• Der Oberfunktionär will, das Frau Funktionär ohne Hilfe der Gefreiten funktioniert. Die Pointe läge dann darin, dass die Beschwerde über die nutzlosen Gefreiten einen Widerspruch darstellte. Sie soll ja ohne deren Hilfe funktionieren.


Ahoy

P.
Pjotr ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.08.2020, 21:14   #5
männlich Ex-Ralfchen
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Beiträge: 17.302

Siehst du Pjotr -

deine Antwort ist der Grund für mich dass solche Texte unverzüglich in die Werkstatt verschoben werden müssten. Janina präsentiert uns hier mit prosa – versuchen. Und um auf diese deine Art und Weise und Gründlichkeit damit umzugehen sollte das in der Werkstatt erfolgen und nicht in einem Faden wo halbwegs fertige Gedichte beziehungsweise prosa gepostet werden. Ich habe mich wie du weißt weitgehend von Kritik zurückgezogen. Aber diese Arbeit müsste komplett umstrukturiert beziehungsweise umgeschrieben werden

Liebe Grüße an euch alle
r
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.08.2020, 16:15   #6
männlich Pjotr
 
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Dann müsste man das halbe Forum in die Werkstatt verschieben.
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