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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 15.06.2015, 18:45   #1
männlich strunzistrunz
 
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Standard Lügen

LÜGEN
Er saß dort. In dieser großen Welt. In diesem unendlichen Universum. Er saß ausgerechnet dort. Und alles zog an ihm vorbei, die Menschen, die Vögel, die Autos etc. nur das große graue Schiff nicht. Auf das Schiff achtete er, er beobachtete es. Es dampfte. Langsam bahnte es sich seinen Weg durch die schäumenden Gewässer. Die Sonne stand tief, die tief graue Stadt drohte sie zu verschlucken und nie wieder herzugeben. Warm gegen kalt – rot gegen grau. Die Sonne schien dem Jungen ins Gesicht. Sie wärmte ihn. Es schien alles so einfach. „Das Schiff fährt“ , dachte er „an mir vorbei, an so vielem vorbei, es verpasst doch so gigantisch viel und trotzdem wirkt es glücklich, wie es sich selbst im Winde wiegt und im über das trübe Wasser zieht.“ Zwei orangefarbene Krabben krochen an seinen nackten Füßen vorbei, der Wind fuhr ihm durchs Gesicht. Er schmunzelte.
Grau – Alles grau. Der Nebel hatte ihn bald komplett umhüllt, er fühlte sich isoliert von allem was er je wahrgenommen hatte – Isolation. Er war anders. Der Junge wusste nicht weshalb er anders war anders als wer er war oder in welcher Art und Weise er anders war. Trotzdem spürte er es klar und deutlich. Er verstand die Menschen nicht. In seinen Augen waren sie alle blind. Alle genauso blind wie er. Doch die meisten sahen das nicht ein, er aber sah ein, dass er nicht Verstand und genau aus diesem Grund saß er dort.
Weil er verstand, dass er nicht verstand.
Weil er verstand, dass er keinen Verstand braucht.
Weil er verstand, dass es ihn eigentlich überhaupt nicht gab.
„Lügen“ dachte er.
„Alles Lügen“ und er fing an diese Worte vor sich hin zu flüstern, bald brüllte er es mit einer unglaublichen Wortgewalt. Je länger er brüllte, desto mehr schloss sich der Nebel um ihn, bis der Junge überhaupt gar nichts mehr sah, außer grau.
Der Nebel isolierte ihn nun vollständig von der Außenwelt.
„Alles ist falsch, alles Betrug! Ich will Freiheit! Doch überall sind Grenzen! Wohin soll ich gehen? Was soll ich bloß tun? Ich bin klein, doch...“
Und so brüllte er weiter, klagte die Menschheit und sich selber an. Die Forderungen wandten sich zu Fragen. Es war unerträglich, er irrte im nicht enden wollenden Nebel umher und fand NICHTS. Nach einer unvorstellbar langen Zeit stieß er zu seiner eigenen Überraschung auf etwas, nicht größer als ein Kieselstein, doch das Ding war weich und hart zur gleichen Zeit, heller als die Sonne und dunkler als die tiefste Nacht. Wörter reichen keineswegs aus um dieses Objekt zu beschreiben geschweige denn zu verstehen. Das Objekt durchströmte ihn, nahm ihn ein und gab ihn wieder ab, es zerstörte ihn komplett und setzte ihn wieder zusammen, es ließ ihn vergessen nur um ihm das selbe erneut beizubringen. Dabei schrie es in ohrenbetäubender, ja schon hypnotisierender Lautstärke und strahlte trotzdem tiefste Ruhe aus. Es klagte aus tiefster Seele, doch bewegte sich kein bisschen und lebte nicht. Plötzlich explodierte es, der Junge erschrak. Die Explosion war das angenehmste was er je gespürt hatte, es fühlte sich so an, als ob er in einer riesigen Truhe voller flauschiger Katzenfelle liegen würde.
Auf einmal verstand er. Er erkannte. Der Junge kannte die Antwort auf alle Fragen, die er sich jemals zu stellen gewagt hatte. Der Nebel löste sich, dahinter war allerdings nur unendlich weiße Leere. Je mehr er verstand desto weniger wollte er verstehen. Das Wissen zerriss ihn innerlich, nicht nur sprichwörtlich. „Die Wahrheit gibt es doch überhaupt nicht“ sprach er klag voll vor sich hin um sich noch zu retten, doch es war längst zu spät. Er fiel zu Boden und begann sich in sich selbst aufzulösen. Was passierte hier nur? Sein Klagen war nun größer als je zuvor. Dann trat ruckartig Stille ein, Ruhe, Schweigen. Unerträgliche Ruhe. Er wollte das alles nicht. Der Junge war zu schwach.
Die Sonne ging auf und spendete wärme, das unendliche weiß schwand und wurde zu dem strahlenden grau einer Großstadt und die unerträgliche Ruhe wurde durch das angenehme zwitschern von Vögeln gebrochen. Am Ufer des Flusses lag ein Junge, er sah sehr friedlich, glücklich und zufrieden aus wie er dort lag. Der Junge war tot.
Eine junge Frau fand den Jungen auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit, sie war unheimlich aufgebracht und rannte zur nächsten Telefonzelle um die Polizei zu rufen. Als die Frau wieder zurückkam war der Junge weg – Verschwunden. Er war in den Fluss gerollt. Nun trieb er auf dem Wasser, er suchte, er bestimmte den Weg. Sein Mund öffnete sich. Weißer Rauch stieg aus seinen Augen – Vergessen, Verschwinden.
Er vergaß.
Eine Weile später bekam er Hunger und beschloss sich etwas zu essen zu suchen, also trieb er an Land und stieg aus dem Wasser. Er fing einige Fische mit bloßen Händen und grillte sie mithilfe einiger erhitzter Steine. Dann setzte er sich an das Ufer des Flusses um zu suchen.
Er saß dort. In dieser großen Welt. In diesem unendlichen Universum. Er saß ausgerechnet dort. Und alles zog an ihm vorbei, die Menschen, die Vögel, die Autos etc. nur das große graue Schiff nicht. Auf das Schiff achtete er, er beobachtete es. Es dampfte. Langsam bahnte es sich seinen Weg durch die schäumenden Gewässer.

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