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Alt 27.12.2008, 22:36   #1
Unverstanden
 
Dabei seit: 12/2008
Beiträge: 6

Standard Willi hat die Schaffenskrise hinter sich

Der Mann, der Louise gegenüber in der S-Bahn saß, war einer von diesen Typen, die über Börsenkurse oder die Relativitätstheorie philosophieren konnten, ohne dass in ihren Worten der Unterton mitzuschwingen aufhörte: Bist du zu haben, Süße, hm, bist du zu haben?
„Was bringt Sie denn in diese traurige Gegend?“
Louise wandte ihren Blick von der vorübergleitenden Landschaft ab und bedachte ihren Gesprächspartner mit dem charmantesten, kältesten Lächeln. „Ich muss noch meinen Vetter in der Klapse besuchen, bevor meine Schicht im Bordell anfängt.“
Diese reizende Antwort passte nicht in die Matrix des zufälligen Weggefährten. Sichtlich rang er um eine ebenso schlagfertige Antwort, wägte in Gedanken ab, ob es angebracht war, ihre Ehrlichkeit durch ein herzliches Lachen beiseite zu schmettern. Leider konnte Louise seine Verlegenheit nicht länger genießen.
„Entschuldigen Sie bitte, ich muss gleich aussteigen.“

Wie gleichgültig perfekt die Wände wirkten! Wüsste Louise nicht um den Zweck dieses Korridors und den aller Zimmer hier, könnte sie den Wänden nicht ansehen, wie durchgescheuert sie waren von Schreien und starren Blicken derer, die zu ihrem Schutz verflucht waren. In den beiden Jahren hatte sie sich immer noch nicht an die Wände gewöhnt, an die Korridore, in die Schreie, Gelächter und Geheule mit beängstigender Regelmäßigkeit aus den Zimmern geschleudert wurde.
Der wirkliche Horror jedoch erwartete den unbedarften Besucher innerhalb der Zimmer selbst. Nein, nicht der Köpfe der Insassen, sondern der Zimmer. Bei manchen Patienten waren sie mit Bildern bedeckt – hässlichen und schönen, fröhlichen und bedrückenden, naiven und solchen, die mit ihrer absurden Komplexität Schmerzen durch die Augen direkt in das Gehirn des Betrachters schraubten.
Willis Zimmer war noch das normalste von allen. Und für Louise war Willi auch der normalste Patient von diesem Haufen. Zumindest bildete er sich nicht ein, sein Stuhlgang bestünde aus Hamstern, so wie der reizende Dicke von hinter der Tür links.

„Wie geht’s dir, Willi? Ich hoffe, du hast deine Schaffenskrise hinter dir?“
Die Frage beantwortete sich selbst durch seine Anwesenheit hier, im normalen Zimmer. Wenn Willi eine Schaffenskrise hatte, strampelte er mit sämtlichen Gliedmaßen, brüllte wirre Theorien zu Charakterentwicklung und Erzählperspektive heraus und würde es fertigbringen, sich wohl auch mit einem samtüberzogenen Flummi noch ernsthaft zu verletzen. Wenn Willi eine Schaffenskrise hatte, traf er seine Muse in der Gummizelle.
Doch jetzt erhellten sich Willis Augen und ein Lächeln beschlich sein junges Gesicht – ein zurückhaltend hoffnungsvolles „Ich-will-es-ja-nicht-beschreien“-Lächeln. Ein normales Lächeln. Dasselbe Lächeln, das so viele junge Männer außerhalb der Klinikumswände mit ihm gemeinsam hatten.
„Ich… ich hab was Neues geschrieben, Louise.“
„Das ist ja super! Lässt du mich lesen?“, bat ihn seine Cousine und nahm sogleich einige unbeschriebene Blätter entgegen, auf die Willis malträtierte Phantasie Meisterwerke der Literatur projiziert hatte. Lag es an dem stechenden Weiß des Papiers, dass Louise plötzlich Tränen in die Augen stiegen?
Doch tapfer hielt sie sich an das Ritual, das sich eingespielt hatte, seitdem sie Willi nach der Absage nackt in seinem von Rauch und durcheinander geworfenen Papieren überfüllten Zimmer entdeckt hatte, einen brennenden Papierklumpen an die Brust gepresst. Welcher hirnverbrannte Junkie hatte die These aufgestellt, Manuskripte brennen nicht?!
Mit ungespielter Genauigkeit mimte sie Lesen, zählte in Gedanken penibel die Sekunden bis zum Umblättern und bewegte ihre Augen im Leserhythmus. Denn auch wenn Willi nicht mehr viel wusste, erinnerte er sich noch genau an ihr Leseverhalten. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, in was für eine Schaffenskrise er verfiel, würde sie sich verraten, sich anmerken lassen, sie nähme sein… Schreiben nicht ernst.
Auch diesmal waren Willis Berechnung exakt auf ihr Schauspielen abgestimmt. Just als Louise andeuten wollte, fertig gelesen zu haben, fragte ihr Cousin sie: „Wie findest du es?“
Bei dieser Frage fühlte sich Louise jedes Mal so, als wäre ein Trupp hyperaktiver Ameisen in den Raum unterhalb ihrer Haut eingezogen.
„Brillant wie immer, das weißt du doch, Willi.“
„Hmm“, machte er, den Blick seiner fast durchsichtigen Augen starr auf den Papierstapel in Louises Händen gerichtet. „Ich bin damit noch nicht ganz zufrieden.“
„Aber warum denn?“ Angestrengt rief sich Louise ins Gedächtnis, was der Grund für Willis letzte… Schaffenskrise gewesen war. Stilbrüche, ach ja. „Die Charaktere fesseln vom ersten Satz an, außerdem finde ich, du hast das Problem mit den Stilbrüchen wunderbar beseitigt. Es liest sich wie aus einem Guss.“
„Meinst du?“, murmelte er misstrauisch. „Weißt du, ich habe einen Spagat versucht zwischen meinem authentischen Stil und dem Stil, den dem Markt entspricht. Jetzt fürchte ich, mein Text wirkt wie ein Patchwork aus Versatzstücken.“
„Nein, so wirkt er bestimmt nicht! Du schaffst es wie kein anderer, marktkonform und trotzdem individuell zu sein.“ Zur Bestätigung umarmte sie Willi, dessen Werke niemals mehr den Markt erreichen würden.
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