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Theorie und Dichterlatein Ratschläge und theoretisches Wissen rund um das Schreiben. |
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17.08.2007, 14:50 | #1 |
Dabei seit: 04/2007
Beiträge: 224
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Interpretation = Rache des Intellekts?!
Mich beschäftigt zur Zeit folgende Problematik, die ich mal in den Worten Susan Sontags
wiedergebe: "Die Arbeit der Interpretation ist im Grunde eine Übersetzungsarbeit. Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nicht, dass X in Wirklichkeit A ist - oder bedeutet? Dass Y in Wirklichkeit B ist? Dass Z in Wirklichkeit C ist? (...) In einer Kultur, deren bereits klassisches Dilemma die Hypertrophie des Intellekts auf Kosten der Energie und der sensuellen Begabung ist, ist Interpretation die Rache des Intellekts an der Kunst." Irgendwie spricht mich diese Aussage sehr an. Muss ein Gedicht interpretierbar sein, um ästhetisch "wertvoll" zu sein? Ich trete einfach mal den Gegenbeweis an, indem ich einen Auszug aus einem Bachmann-Gedicht wiedergebe: Die gestundete Zeit Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald musst du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Das ist hermetische Lyrik... und ich somit nicht interpretierbar. Man kann hier keine hermeneutischen Interpretationsspielchen durchführen... (wenn da "Eingeweide der Fische" steht, ist eigentlich XY gemeint usw.). Man kann Sinn hier allenfalls erahnen. Aber solche Spielchen sind eh langweilig und zweitens bringen sie nichts... weil... bin ich schlauer, wenn ich "weiß", das Fisch EIGENTLICH etwas anderes bedeutet, nämlich ... XY? Frage: Was macht Bachmanns Gedicht ästhetisch reizvoll? Antwort: DIE FORM! Wünsche mir eine spannende Diskussion! |
17.08.2007, 19:02 | #2 |
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 124
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Es sind die Bilder, die nicht unseren Intellekt ansprechen. Die wir von vornherein erfassen, die uns fassen, in unserer Gestimmtheit, in uns etwas zum klingen bringen, ohne dass wir es erklären können. Beginnen wir mit der Erklärung, verabschieden wir uns schon zu einem Teil davon. Trotzdem wollen wir erklären, und ich denke, wir müssen. Doch unsere Erklärungen bleiben auch immer monopolar, es sei denn wir dichten. Das im Gedicht "geschaute" mit einem Gedicht wiedergeben. Das wäre die Antwort.
Es stellt sich aber die Frage, weshalb die Bilder, die wir nicht deuten können, aber verstehen auf einer anderen Ebene, in uns Widerklang finden, Stimmungen auslösen. Hierzu ein Zitat von Jan Skacel aus dem Buch "wundklee" "erfindbar sind gedichte nicht es gibt sie ohne uns irgendwo seit irgendwo hinter sie sind dort in ewigkeit der dichter findet das gedicht" lg Christoph |
22.08.2007, 12:55 | #3 |
abgemeldet
Dabei seit: 01/2006
Beiträge: 41
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Wenn man sagt, eine Interpretation sei eine Übersetzung, so ist das eine Analogie - die eben nur bedingt richtig ist.
Eine Übersetzung bedeutet eine Übertragung von einer Sprache in eine andere. Die besonderen Aspekte eines Textes, die Bilder, der Rhythmus und die Nuancen einer Bedeutung müssen im optimalen Fall berücksichtigt werden. Eine Interpretation ist dagegen eine Deutung eines Textes. Sie soll die Funktionsweise eines Textes aufzeigen und erklären. Da jeder Text auf irgendeine Weise funkioniert, d.h. sinnlich wahrnehmbar ist, lässt sich auch jeder Text interpretieren. Folglich verstehe ich nicht, was ein "nicht interpretierbarer Test" sein soll. Die Tiefe und Stichhaltigkeit der Interpretation eines minimalistischen Textes mag allerdings schwach und dürftig sein, klar. Hingegen muss eine Interpretation nicht auf die Intention des Autor eingehen - diese kann schließlich deutlich von erzielten Ergebnis eines Textes abweichen. Um auf das zuvorderst genannte Zitat einzugehen: Wenn Frau Bachmann schreibt: "Die Eingeweide der Fische/sind kalt geworden", dann lässt sich das nicht brauchbar übersetzen in eine einfache Sprache: Einfach deswegen, weil es als Bild eine Vielzahl von Assoziationen hervorruft, die alle aber die gewählten Wörter nicht einfach ersetzen, sondern nur Teile der Bedeutung wiedergeben können. Diese Bedeutungsteile allerdings zu entdecken, nach ihrer Funktion im ZUsammenhang des Gesamttextes zu gewichten und in der Summe subjektiv zu deuten, das vermag die Interpretation. Letztlich geht es bei einer Interpretation nicht darum, eine eindeutige Erklärung eines Textes anzuliefern - sondern viel mehr darum, die Gefühle, die Wahrnehmung des Textes durch einen Leser reflektierend wiederzugeben und durch Argumente zu erklären. Eine Interpretation ersetzt nicht den Text. Sie ist weniger die Innentreppe eines Hauses, mehr die Leiter auf einem Baugerüst, von dem aus man die äußeren tragenden Elemente besser beschreiben kann. Grüße, T. |