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Alt 02.05.2018, 18:57   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die alte Fabrik. Teil 3: Moritz

Moritz Fuchs beugte sich über die Akte seines neuen Falls. Ingo Löhr, ein Obdachloser, hatte die Entdeckung eines menschlichen Skeletts im Keller einer stillgelegten Fabrik gemeldet, in den er sich vor der Kälte der Nacht zurückgezogen hatte. Die Arbeit der Spurensicherung war abgeschlossen, und vom Labor lagen die ersten Ergebnisse vor: „Die breiten Beckenknochen weisen auf eine weibliche Leiche hin. Das Alter wird auf Anfang zwanzig bis maximal fünfunddreißig Jahre geschätzt, eher darunter, wobei eine Eingrenzung um plus/minus fünf Jahre bei einer engeren Analyse möglich ist. Merkmale des Beckens lassen die Vermutung zu, dass die Frau keine Kinder geboren hat. Der Schädel weist Frakturen auf, die auf einen gewaltsamen Tod schließen lassen, der wahrscheinlich durch den Schlag mit einem schweren Gegenstand herbeigeführt wurde.“

Moritz las die spärlichen Ergebnisse wieder und wieder: ein Skelett, von dem niemand wusste, wann und wie es in den Keller der alten Fabrik kam; ob der Leichnam, der diese Knochen einst umhüllte, dort oder woanders zu Tode kam; ob es Mord oder ein Unfall war; wie lange die Leiche unter den Planen oder vorher woanders gelegen hatte, bis sie skelettiert war. Sie konnte ein Jahr oder auch drei Jahre und mehr dort gelegen haben. Kein Ausweis, kein Führerschein, keine sonstigen Hinweise auf Identität oder soziale Kontakte.

Moritz saß vor einem Katalog offener Fragen. Wenn wenigstens ein Kleidungsstück gefunden worden wäre, eine Handtasche, ein Schuh, eine Kleinigkeit wie ein Lippenstift oder eine Puderdose oder was Frauen sonst noch mit sich herumtrugen …

Alles, was die Kollegen von der Spurensicherung fanden, war ein dünnes Halskettchen aus echtem Gold mit einem Anhänger, der einen Glücksklee stilisierte. Der Schmuck hätte wie Dutzendware ausgesehen, wäre nicht auf einem der vier Kleeblätter ein echter Brillant gewesen.

Moritz winkte seinen Assistenten herbei.

„Geh die Akte durch, Jürgen, und fordere eine Liste aller Fälle auf, die sich mit Frauen zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahren befassen, die im Umkreis von fünfzig Kilometern um den Fundort seit dem Jahre null als vermisst gemeldet wurden. Und lass ein Foto von dem Goldkettchen ins Lokalblatt setzen. Man kann ja nie wissen.“

Am Tag der Veröffentlichung des Fotos ging, kaum dass Moritz sich an seinem Arbeitsplatz niedergelassen hatte, ein Anruf ein: „Es ist wegen des Goldkettchens. So eins hatten wir unserer Tochter zum dreizehnten Geburtstag geschenkt.“

„Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen?“

„Vor zwei Jahren. Bevor sie nach Frankreich ging.“

„Weshalb meinen Sie, dass es sich um Ihr Goldkettchen handeln könnte?“

„Es ist ein Amulett. Schwer erkennbar, weil es so klein ist. Aber es lässt sich öffnen. Wenn sich darin eine rotblonde Locke befindet, gehört es meiner Tochter.“

Jetzt war Moritz alarmiert. Natürlich war in die Akte aufgenommen worden, dass es sich bei dem Goldkettchen um ein Amulett handelte, in dem sich eine dunkelblonde Locke befand, die mit großer Wahrscheinlichkeit einmal heller gewesen war. Er versuchte, das Gespräch sachlich weiterzuführen, denn wenn auch Fotos geliebter Personen am häufigsten in Amuletten vorkamen, waren Haarlocken auch keine Seltenheit.

„Gab es zwischen Ihnen und Ihrer Tochter in letzter Zeit Kontakte irgendwelcher Art? Handy, Smartphone, Internet, E Mails, SMS, Skype?“

„Nichts von diesem modernen Kram. Davon verstehe ich nichts. Sie schreibt mir Briefe. Die kommen mit der Post, ungefähr alle zehn Tage.“

„Wann zuletzt?“

„Gestern.“

Moritz stutzte. „Und davor?“

„Sagte ich doch: alle zehn Tage; alle acht bis zehn Tage.“

„Es ist für uns wichtig, den Absender zu kennen.“

„Den kenn ich selbst nicht. Melanie will nicht, dass ich weiß, wo sie ist. Sie soll auch glücklich sein, wo immer sie ist. Ich weiß, dass sie lebt, aber ich will wissen, was unser Goldkettchen mit dem Skelett in der alten Fabrik zu tun hat.“

Moritz spürte, dass das Gespräch ins Emotionale abzurutschen drohte. Er ahnte auch, dass er es nicht mit einem jener Spinner zu tun hatte, die oft versuchen, ihn in sinnlose Gespräche zu verwickeln.

„Ich lasse die Sache prüfen und bleibe mit Ihnen in Kontakt. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihre bevorzugte Telefonnummer.“

„Neumann, Theo Neumann, Frankfurter Straße ….

Moritz notierte. Er hatte eine heiße Spur.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.05.2018, 00:35   #2
gummibaum
 
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Hallo Ilka,

hab nur mal so quergelesen. Ist kenntnisreich, präzise und anschaulich. Gut, gut.

LG g
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.05.2018, 07:12   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
Ingo Löhr, ein Obdachloser, hatte die Entdeckung eines menschlichen Skeletts im Keller einer stillgelegten Fabrik gemeldet, in den er sich vor der Kälte der Nacht zurückgezogen hatte
Wieso jetzt doch? Im ersten Teil war Ingo der Meinung, das ginge ihn alles nichts an. Warum hat er seine Meinung geändert? Die Erklärung fehlt.
Was man hier schön machen könnte, wäre, Ingo in einen Konflikt mit der Polizei geraten zu lassen, in dessen Verlauf er unabsichtlich seine Entdeckung herausposaunt. Dass er das einfach so meldet, ist erstens langweilig und zweitens nicht sehr wahrscheinlich nach dem ersten Teil.
(Ich weiß, ich habe mich an Ingo etwas festgebissen )

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.05.2018, 09:56   #4
weiblich Ilka-Maria
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Danke fürs Lesen und Kommentieren der ersten drei Teile, Silbermöwe. Sie stellen erst einmal eine Anfangsidee dar, und ich wollte Meinungen dazu haben. Wo die Geschichte hinlaufen soll, weiß ich noch nicht. Entgegen meiner Erfahrung, erst mal eine Zusammenfassung zu schreiben und ein Exposé zu basteln, habe ich einfach drauflosgeschrieben, um zu sehen, ob sich daraus neue Ideen für die Fortsetzungen ergeben. Bis jetzt ist mir aber nicht viel eingefallen.

VG
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.05.2018, 13:19   #5
weiblich DieSilbermöwe
 
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Das ist das Heimtückische am Drauflosschreiben: Man hat eine zündende Idee und denkt, wenn man erst mal dran ist, läuft es wie von selbst. Leider ist es meist nicht so. Andererseits will man die Idee aber auch unbedingt festhalten, ehe sie einem wieder verloren geht...

Dass dir bis jetzt "nicht viel" eingefallen ist, finde ich nicht. Drei Teile aus dem Stand sind doch schon eine Menge (auch wenn ich an der Umsetzung einiges zu bekritteln hatte )

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.05.2018, 16:11   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Das ist das Heimtückische am Drauflosschreiben: Man hat eine zündende Idee und denkt, wenn man erst mal dran ist, läuft es wie von selbst.
Manchmal funktioniert das auch, oft jedoch nicht, und das merkt man dann sehr schnell. Da ich, was das Formen von Sätzen angeht, selbstkritisch bin und an jedem Satz (oder auch Wort) zigmal feile, dauert ein Kapitel so lange, dass mir dabei noch Einzelheiten einfallen, die ich einbauen könnte - und dann fange ich wieder von vorn an. Kurz gesagt: Es dauert alles länger als gedacht, und bis ich fertig bin, sind Ideen für spätere Abschnitte aus dem Gedächtnis.

Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Andererseits will man die Idee aber auch unbedingt festhalten, ehe sie dem Gedächtnis verloren geht...
Auf jeden Fall. Zum Glück können wir mit Computern und Schreibprogrammen arbeiten, so dass wir tatsächlich getrost mal drauflostippen können. Dann machen wir mit Streichen, Ergänzen und Umstellen weiter .
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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