Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 28.07.2012, 01:31   #1
weiblich Rosenblüte
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 2.163


Standard Julia

I

Schon dreißig Jahre ist es her, seit wir uns zum letzten Mal sahen. Doch ist es mir, als wäre es erst gestern gewesen.

Ich saß gemütlich im Gasthof "Zum Fuchs" und genoss meinen Feierabend, wie so oft, in schönster Harmonie.

Aus der Musicbox klang ein trauriges Lied:
"Schroff ist das Riff und schnell geht ein Schiff zugrunde,
Früh oder spät schlägt jedem von uns die Stunde..."

Plötzlich - ein Schrei! Alle Gäste fuhren zusammen, duckten sich. Und schon wirbelte Julia aus der Nacht herein. "Ciaaaoo!" Der Gruß, den sie mir zuwarf, erfüllte den Raum. Vorbei war’s mit der Langeweile - Julia war da!

Ein Blondschopf mit frechen blauen Augen, mit Grübchen, die ihr schelmisches Lachen umspielten, in ihrem abgeschabten braunen Mantel, der an ihr herunterhing wie ein Kartoffelsack. Darunter lugten schlanke Beine hervor, in schwarzen Strümpfen mit Naht, und ihre Füße steckten in feuerroten Stöckelschuhen.

Dieses engelhafte Geschöpf ließ sich an meinem Tisch nieder, lümmelte sich auf die Bank, bestellte das erste Bier und begann zu erzählen. Von Rom, der ewigen Stadt, wo sie mit dem schönen Pietro ewige Flitterwochen verlebt hatte. Sie schilderte diese Tage und Nächte voller Leidenschaft in den schillerndsten Farben, und so mancher bösartig klingende italienische Fluch verließ ihre Lippen.

Gelegentlich winselte der Hund Bazi unter dem Tisch, eine einmalige Kreatur aus Dackel und Schäferhund, ein kolossales Tier. Julia dressierte ihn mit einer für sie ungewöhnlichen Geduld, denn er sollte ein Zirkushund werden, der Männchen machen und allerlei Kunststückchen vollbringen konnte.

Denn ein Zirkus, das war Julias Traum. Sie berichtete von ihrem Vorhaben, mit einem Eselsfuhrwerk und Bazi im Gepäck als Clown übers Land zu ziehen. Hatte sie doch einmal unter Zigeunern gelebt, unter fahrenden Musikanten. Ihre Augen blinkten, wenn sie von dieser Zeit erzählte. Ja, sie fühlte sich selbst als blonde Zigeunerin, sprach von "ihrem Volk".

Manchmal arbeitete Julia für ein paar Wochen, aber nirgends hielt sie es lange aus. Meistens reichte das Geld gerade mal für zwei Päckchen Krumme Hunde, etliche Flaschen Bier und eine Brotsuppe. Jeden Morgen schlüpfte sie mit Taschen voller Pfandflaschen in den kleinen Lebensmittelladen, um sich ihr Morgenbier zu kaufen. Nun schenkte sie dem jungen Morgen ihr strahlendstes Lächeln. Allora - der Tag konnte beginnen!

Wann er endete, war schwer zu sagen. Wenn die Wirte zur Sperrstunde die Türen verriegelten, ergab sich immer irgendwo ein improvisiertes Fest. Und Julia war die Zeremonienmeisterin.

Wenn sie tanzte wie im Fieber, die göttliche Julia, dann wurde die tristeste Bude zum glitzernden Revuepalast. Das schäbigste Zimmer wurde zur Theaterbühne, wenn sie begann, in den Kleiderschränken zu wühlen, auf der Suche nach irgendeinem bunten Fetzen, einem alten Hut.

Denn sie liebte es, sich zu verkleiden, eine Andere zu sein, ihr Publikum mit immer neuen Maskeraden zu verwirren und zu amüsieren. Mal flitzte ein kecker Junge durch den Raum, mal bat ein altes Weiblein krächzend um Einlass und eine milde Gabe, mal umgurrte eine geheimnisvolle Salome die verdutzten Zuschauer. Julia liebte den Applaus, liebte die Aura, die Künstler umgibt, liebte die Nacht, war selbst ein Kind der schwarzen Nacht.

Einmal las mir Julia die Zukunft aus der Hand. Und als ich sie nach ihrer Zukunft fragte, lachte sie nur und meinte, darüber mache sie sich keine Gedanken. Sie könne ja morgen schon tot sein...

II

Ein Schleier liegt über der Stadt. Die Patrizierhäuser suchen ihre bunten Gewänder verschämt im Nebel zu verbergen. Dicke graue Wolken ballen ohnmächtig die Fäuste zusammen. Der Wind heult hemmungslos. Leise klagen Vögel in der Ferne. Penner gröhlen Trauerchoräle. Für dich, Julia.

In der kalten Erde vermodern die Reste deines jungen Körpers. Deine Glieder, einst schlank und schön, jetzt zerschmettert und von Würmern zernagt. Dein Haar, früher golden schimmernd wie die Sonne, jetzt verblichen in ewiger Finsternis. Nie mehr werde ich deine Geschichten zu hören bekommen, denn du schweigst für immer.

Mein Gott, warum nur, warum?

Du sagtest mir doch damals, als ich so verzweifelt war, so ein schöner, guter Mensch dürfe sich nicht einfach das Leben nehmen. Und dann warst du es, die dieses elende Leben nicht mehr ertragen konnte. Und du sprangst in den Tod.

Im Schoß der alten Mutter Erde kannst du nun für immer Kind sein, unwissend, unschuldig, unberührt vom großen Sterben der Welt.
Rosenblüte ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Julia



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Romeo und Julia Ex-Peace Liebe, Romantik und Leidenschaft 2 02.12.2011 03:03
An Julia Laurii11 Gefühlte Momente und Emotionen 2 08.07.2009 10:49
Julia lacrima amoris Eigene Liedtexte 2 11.10.2007 19:53


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.