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Alt 26.05.2008, 00:42   #1
LeSchmürz
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 66


Standard Begegnung

Seltsam, dass noch nicht mehr Leute diesen Ort für sich entdeckt haben. Es ist meine Lieblingsstelle im Stadtpark und überhaupt einer meiner liebsten Winkel auf der Welt. Nichts Spektakuläres dabei, keine Fontäne, keine Flamingos, kein Entenweiher, kein Steingarten, kein Rosenlabyrinth, einfach nur ein ruhiges Fleckchen hinter einer hohen Hecke, beinah ein bißchen versteckt. Von einer Bank im Halbschatten eines großen Ahorns blickt man auf einen sanft ansteigenden Hügel, auf dem oben eine mächtige, uralte Kastanie thront. Der Blick den Hügel hinauf zu dem Baum geht dabei so weit und frei, dass man fast vergisst, in einem Stadtpark zu sein. Die Kastanie ist wohl der größte und älteste Baum des Parks, die Spitze ihrer Krone kann man von jedem der Wege aus sehen, sie überragt alles. Aber den vollen Blick auf den ganzen Baum hat man nur von hier. Seltsam, dass noch nicht mehr Leute diesen Ort entdeckt haben. Aber ich bin froh darüber, so kann ich meist ungestört auf der Bank sitzen, noch das ein oder andere lesend oder schreibend erledigen oder einfach entspannen.

Heute saß ich ganz allein. Der Stadtlärm von der nahen Straße, der noch bis hierher durch die Hecken drang samt dem Schlagen einer Wagentür und dem Schimpfen eines Taxifahrers, verebbte allmählich. Ich war froh, dass ich nun mein Handy ausschalten und weglegen konnte. Nach dem Abfragen meiner Mailbox hatte ich noch zwei SMS-Antworten eingetippt und dabei mit der winzigen Tastatur gekämpft. Ein Spatz tschilpte mich frech an und hüpfte aufgeregt vor der Bank auf und ab. Er hatte keine Chance, von mir etwas zu bekommen, aber weitere Vogelstimmen aus dem Baum über mir, die nun vernehmbar wurden, nachdem die Verkehrsbrandung immer weiter entrückte, ließen mich innehalten. Dann legte ich das kleine, bunte Telefon auf die Bank neben mich und kramte schließlich mein Buch aus der Tasche: Erzählungen der Romantik. Ich schaute mich noch einmal um mit einem kleinen Lächeln im Mundwinkel – und fand voll Lust zu der Meinung, dass alles so recht passen wollte: das milde, warme Licht eines herbstlichen Spätnachmittags, das goldene Blätterdach, das fröhliche Vogelgezwitscher, die ruhige, angenehme Bank und meine Erzählungen. Die Lektüre nahm mich sofort gefangen. Und ungefähr nach jedem Absatz nahm ich bewusst mit tiefem Atmen einen großen Schnaufer der lauen Luft, sog ich eine Nase voll der würzigen Herbstgerüche ein. Nachdem die Spatzen ihr fruchtloses Zanken aufgegeben hatten und auch die Meisen und Amseln dann für ihr Singen andere Zuhörer suchten, war es nun ganz still. Nicht einmal Bienen oder Hummeln ließen sich vernehmen. Und in dieser Stille erhaschte ich plötzlich aus dem Augenwinkel eine schwarze Gestalt oben bei der Kastanie. Ein Wolf! Da stand wirklich und wahrhaftig ein Wolf auf der Kuppe des Hügels, keine zwanzig Meter von mir entfernt.
Ich hatte noch nicht viele Wölfe in natura gesehen, schon sehr lange her in einem Wildgehege oder Zoo ... aber ich wusste, dass dieser da echt war. Silberbraunes Fell, unter dessen oberem Deckhaar man das wärmende, weiche Flaumhaar als Unterfell erkennen konnte. Er stand ganz still und blickte mich direkt an, ruhig und ohne Scheu: Sein linker Hinterlauf war bis auf halbe Höhe schlammverkrustet, auch die anderen Pfoten waren zumindest über die Zehen schmutzig dunkel. Auf dem wunderbaren, einsamen, goldgrünen Hügel stand er da oben, erhob sich seine Silhouette vor der langsam sich senkenden Spätnachmittagsonne wie ein urtümliches Abbild, wie eine überzeitliche Ikone, der absolute Inbegriff eines Wolfes. Vor lauter Staunen konnte ich keinen Gedanken mehr fassen und nicht mehr den Blick von ihm nehmen. Ich war in Bann gezogen von diesem Körper, den Ohren, den in ruhigem Atem sich hebenden Flanken, diesen Beinen, die nun einen Schritt auf mich zu machten, von jedem einzelnen Haar dieses wunderbaren, wunderbar lebendigen Fells. Und von diesen Augen, diesem direkten, interessierten Blick, der keinen Zweifel ließ, dass er mich meint, ja, genau mich. Zuerst war etwas nachsichtig Besorgtes in diesem Blick, der da einen Schritt auf mich zu kam, dann veränderte es sich zu etwas Aufmunterndem, sprach Zuversicht und Sicherheit zu. Mein Herz schlug heftig, immer heftiger. Und ja: Es war mir im hintersten Winkel meines Innersten peinlich, dass er, dieser Wolf, mich so unvorbereitet erwischt hatte, ich spürte den plötzlichen Drang, mich zu rechtfertigen und zu entschuldigen; beinah hätte ich einen Knicks gemacht.
Der Wolf kniff seine Augen zu und gähnte, zeigte mir alle seine Zähne und ringelte dabei seine Zungenspitze angespannt nach innen. Dann schien er ein-, zweimal zu schlucken und blickte mich noch einmal lange, durchdringend und unergründlich an. Ich fühlte mich irgendwie ertappt.. Dann nickte er mir nur kurz zu und trottete nach links aus dem Kreis der Kastanie und verschwand hinter dem Hügel.
Ich erhob mich wie in Trance und fühlte keinerlei Bedürfnis, darüber nachzudenken – und auch nicht mehr die Verpflichtung, mich zu wundern. Ich konnte nur der Gegenwart des Tieres nachspüren und mein ganzes Erfülltsein von diesem Eindruck rettungslos genießen. Auf dem Nachhauseweg musste ich über jedes Gänseblümchen lächeln. Mit leichter Erheiterung fiel mir ein, dass ich Handy und Buch auf der Bank liegengelassen hatte. Ich würde nicht mehr umkehren.
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