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Alt 08.02.2008, 11:29   #1
Leviathan
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 20


Standard Leviathan

Nicht, dass ich so etwas nicht schon mal gesehen hätte, aber dieses Mal war etwas anders. Ich konnte nicht sagen ob es sein Aussehen war, oder der Geruch, den dieser Junge verströmte. Mir machte diese Notwendigkeit eigentlich nichts mehr aus, viel zu lange hatte ich mich mit dem letzten Rest Menschlichkeit und dem damit verbundenen Gewissen gequält. Meine Lage hatte ich akzeptiert – und was blieb mir auch anderes übrig!?


»Maurice! So hilf mir doch!« Sarim schaute bös zu mir rüber. Der Junge schlug und trat wild um sich. Sicher stand er Todesängste aus, der Schweiß floss ihm über das Gesicht und seine Augen waren weit aufgerissen.
»Brich ihm einfach das Genick, er wird uns eh nur eine Last sein – schau ihn dir doch an! Kleiner sogar als du, und er ist auch mindestens so schwach.« Die Hände vor der Brust verschränkt trat ich einige weinige Schritte an das Gewusel heran.
»Ich finds nicht lustig, Maurice, wirklich nicht.“ Er keuchte. „Halt ihn für mich fest!«

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf dem Jungen nieder, kniete mich auf seine Oberarme und hielt seinen Kopf fest, aber sanft zwischen meinen Händen. Seine olivgrüne Haut war tropfnass, glänzte, ebenso wie seine dunklen Augen. Jetzt, bei näherer Betrachtung erkannte ich den Grund für Sarims Wahl. Der Junge war auf eine mir bis dahin nicht vertraute Art ‚schön’. Ruckartig hörte der Junge auf sich zu wehren, wirkte fast ergeben in meiner Klammer. Er hatte nun die Augen geschlossen und allein sein rasselnder Atem zeugte von Leben in ihm. Links und Rechts schauten seine Arme unter meinen Knien hervor, sie hatten schon fast ihre Farbe verloren. Angeregt betrachtete ich das Blut, das durch sie schoss, als ich kurz meine Knie hob.
Sarim strich dem Knaben durch die Haare. »Was für eine Zuckerschnute, nicht, Maurice? So jemanden lässt man nicht einfach im Dunklen durch die Strassen huschen.« Mit einem wohligen Seufzen drückte er dem Armen einen nassen Kuss auf die Stirn, steckte sich das kleine Hütchen mit dem klauenartigen Metallnagel auf den Daum und umschloss langsam den Hals des Jungen. Der Nagel bohrte sich mit nur geringem Widerstand in das Fleisch, und das Geräusch der reißenden Haut entlockte auch mir ein Gefühl von Erregtheit.
Der Junge zuckte nur kurz zusammen, biss die Zähne aufeinander und atmete heftig. Sein Wimmern machte mich wahnsinnig, schwer war ich mit meiner Beherrschung beschäftigt.

Je mehr Saft aus ihm floss, desto geringer wurde sein stiller Protest. Ich hatte es schon oft beobachtet – kurz bevor das Herz aufhört zu schlagen, werden die meisten Menschen sehr ruhig und ihre Gesichtszüge weich. Auch der Junge hatte seine Augen halb geöffnet und schaute – ja – fast gütig zu mir herauf.
Sarim malte unterdes geistesabwesend in der Lache, die nur langsam in die Erde sickerte. Ich wusste, dass Sarim nicht dieselben Gefühle beim eigentlichen Töten empfand wie ich. In meiner Anfangszeit ekelte ich mich vor mir selbst, jedes einzelne Mal, wenn ich tötete. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass Töten nun meinen Erhalt sichern sollte. Nicht sehr lange, aber die erste Zeit war es schlimm.
Ich meinte, eine winzige Bewegung auf den Lippen des Jungen gesehen zu haben. Seine Augen verloren allmählich ihren Glanz, der ganze Körper unter mir sackte langsam zusammen. Sein Mund war leicht geöffnet, und so legte ich vorsichtig mein Ohr an ihn.
»Levin…«

Er hatte dieses Wort gesagt. Sehr leise, da war ich mir sicher. Und doch hatte ich keinen Atemhauch verspürt.
Als ich mich aufrichtete, sah ich, dass er bereits tot war. Sarim malte immer noch im Blut und murmelte wirres Zeug. Vielleicht hatte ich auch nur ihn gehört. Sarim tötete so anders als ich. Er lässt sie verbluten, sticht sie zwar, aber dennoch hat er Angst vor dem Sterbenden. Die Gleichgültigkeit der sterbenden Personen erträgt er nicht. Er ist nicht Herr seiner Sinne – wohl selbst einen grausamen Tod gestorben. Erzählt hat er mir davon nie.
Ich löste meinen Griff, rutschte von seinen Armen und biss mit in den Unterarm. Leider war das Geräusch, das meine Haut machte, nicht annähernd so schön wie das einer Menschenhaut.
Mit einem stetigen plit, plit ließ ich mein Blut in den leicht geöffneten Mund des Knaben tropfen. Meine Beherrschung rann mir mit dem Blut aus dem Körper, ich musste an mich halten. Ich sah die Tropfen, die seinen Mund verfehlten, sah, wie sie seinen schlanken Hals hinab liefen und sich mit seinem Blut auf der Erde mischten. Ich sah die Tropfen auf seiner Wange, seinen Lippen, verfolgte sie bis zum Aufprall, wollte sie wegküssen.

»Maurice!« Sarim riss mich jäh aus meinen Gedanken. »Du Spinner hast bald genauso viel Blut verloren wie er!«
Erschrocken riss ich meinen Arm an mich, leckte geistesabwesend über die Wunde und verpackte ihn dann in meinem Hemd.
Der Tod war fürchterlich, aber zu sehen, wie das Unleben in dem Jungen wuchs, erfüllte mich mit Behagen. Die Veränderungen wurden merklicher mit jeder Sekunde. Seine Haut, die eben noch aschfahl und eingefallen war, blühte nun förmlich und schimmerte im blassen Mondschein. Sein dunkles Haar war nicht mehr klebrig, es war als würde der Schweiß und sein Blut einfach von ihm abperlen.
Als er die Augen öffnete, musste ich schwer an mich halten, um nicht zurückzuschrecken. Sie waren atemberaubend schön, bernsteinfarbend und unergründlich. Er richtete sich auf und ich wusste was er sah. Die Nacht, mit all ihren Schatten war nun so klar und greifbar. Seine Nasenflügel bebten, brauchte er nun nicht mehr zu atmen, so sog er doch den ganzen köstlichen Duft ein, der ihm als Mensch verwehrt gewesen war.

Als ich noch ein Mensch gewesen war, waren mir viele Dinge nie bewusst gewesen. Ich war achtlos mit allem umgegangen, hatte alles als selbstverständlich hingenommen. Die Welt, meine Stadt, meine Freundin. Sie war die Luft, die ich atmete, und ich hatte nicht einmal die Kraft besessen, sie zu würdigen.
Der Gedanke an sie machte mich auch jetzt, so viele Jahre nach meiner Wandlung noch schwermütig. Trauer fühlte ich keine – wie sollte ich auch, ohne Herz, ohne Seele. Ich konnte nicht sagen, ob der Schwermut, den ich fühlte, wenn ich an sie dachte, Liebe war. Geliebt hatte ich sie. Keine Frage. Aber als junger Mann, der ich damals war, wusste ich vieles nicht zu schätzen. Auch nicht die Schönheit der Nacht, wie sie der Junge hier vor mir jetzt erlebte.
Und ich liebte auch ihn schon jetzt. Sarim hatte bis jetzt keinerlei Verantwortung getragen, für keinen seiner Welpen, er hatte sie alle erschaffen, um sie dann mit sich und ihrem Schicksal alleine zu lassen. Letztendlich hatte ich sie alle wieder vernichtet.

»L..Lev…in?«, schnurrte der Junge und streckte die Hand aus, um sie auf meine Wange zu legen.
Ich wich zurück, nicht, weil ich Angst gehabt hätte, sonder weil er so ohne Furcht nach mir gegriffen hatte. Kein anderer Neuer hatte so reagiert nach seinem Tod. Sie waren alle überfordert mit ihrer Situation – hatten sie doch eben erst ihren Tod erlebt.
»Levin...ich habe dich vermisst…« Er streckte seine Hand erneut nach mir aus, hielt jedoch inner und – kippte bewusstlos nach hinten.
Sarim warf einen Stein nach mir. »Levin, hä?« Er richtete sich auf, wischte seine blutigen Hände an seiner noch blutigeren Hose ab und trat einen weiteren Stein weg. »Sag bloß du kennst unseren Zigeunerjungen?«, lachte er.
Mit war nicht nach Lachen zumute. Ich wusste nicht, was Sarim da angelacht hatte. Und die unbeschreibliche Schönheit des Jungen machte mir genauso Angst, wie sein Geruch. Ich glaubte mehrmals eine Schwache Note von Wacholder an ihm zu bemerken.
Levin? Ich hatte diesen Namen nie zuvor gehört, und doch weckte der Klang des Wortes etwas Vertrautes in mir.

Ein Gefühl in meinem toten Körper, in der leeren Hülle, die ich nun bewohnte – dort, wo nichts anderes sein sollte, als das Blut derer, die meine Lust aufs Töten hatten befriedigen müssen.
Ein Gefühl, dessen wabernde Wärme mich ganz ausfüllte, mich sogar daran erinnerte, wie ich als Mensch gefühlt hatte. Es pulsierte irgendwo dort, wo einst mein Herz schlug, machte mich benommen, drang in jede Faser.
Wie von Sinnen griff ich mir an die Brust. Dieses Gefühl bekam mir nicht – ich wollte nicht fühlen, es riss mich aus meiner Unantastbarkeit, die ich mir schwer erarbeitet hatte. Ein Alptraum stieg in mir auf. Ich machte einen für das menschliche Auge zu schnellen Satz nach hinten – unnötig, bei längerem Überlegen – ich war in Gesellschaft von Vampiren, deren Bewegungen ebenso hastig sein konnten.
Sarim legte erneut seinen Kopf schief. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen, aber wie sollte er auch verstehen was ich gerade durchmachte.
»Ich denke ich werde jetzt abhauen!«, sagte er. »Mach mit ihm was du möchtest, Maurice… ich hab das Gefühl das du mehr mit ihm anfangen kannst!«
»Gefühl?«, entfuhr es mir leise. »Du weißt gar nicht was Gefühle sind – hattest sie auch als Mensch nicht! «
Erschüttert und tatsächlich ein wenig bestürzt sah er mich an. Nicht das er tatsächlich verstanden hätte, warum ich ausbrach, aber er wusste um seine Stumpfheit.
Er verschwand. Ohne ein Wort des Abschieds.
Ich wusste, er würde wieder kommen. Nicht das erste Mal, dass wir eine Auseinandersetzung hatten. Aber dieses Mal war er da.

Stumm saß der Welpe dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Zwischen uns waren bestimmt 5 Meter Abstand, und doch war es mir, als würde seine kalte Hand nach mir greifen. Ich schüttelte mich, oder besser gesagt, den Gedanken ab, etwas würde nach mir greifen.
Seine hellen Augen, die jetzt, nach seiner Verwandlung, einen warmen, bronzefarbenen Ton angenommen hatten, sahen mich gütig an. Ich ertrug diesen Blick nicht, hätte ihn lieber schreien und toben gesehen – so wie es alle Verwandelten zu tun pflegten.
Ich konnte nicht sagen, ob er wusste, was mit ihm geschehen war, ob er wusste, das sein einziger Lebensinhalt nun aus dem Töten von Menschen bestand. Blut würde seine Obsession sein – er würde keine Zigaretten mehr rauchen, nicht Auto fahren, nicht einmal seinen Saft über eine Gleichaltrige ergießen dürfen. Mir stieß bitter auf bei dem Gedanken an meine Freundin.
Denn das war alles nicht mehr wichtig.
Sein Brustkorb hob und senkte sich unentwegt - aus Gewohnheit, nicht der Notwendigkeit wegen. Es war klar, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er das Atmen abgelegt hätte. Irgendwie hatte ich mich als junger Welpe immer an dieses Stück Menschlichkeit geklammert. Ich wollte es nicht aufgeben, war es doch das letzte was mich an mein Dasein als Mensch erinnerte.
Er war nicht anders - und doch - ich wusste das er nicht wie alle anderen war.

***

Kannst du den Haufen dort sehen? Scherben, nichts als Scherben – deine Gedanken.
Siehst du den kleinen Jungen? Den, der die Scherben versucht aneinanderzusetzen? Wieder und wieder ein passendes Stück sucht, sortiert, anlegt.
Die blutigen Hände! Sieh nur – die blutigen Hände! Er hat sich die Haut von den Fingerkuppen gezogen!

Lauf!



***


Die Kälte war verschwunden; den eisigen Wind, der sie eben noch hatte zittern lassen, spürte sie nicht mehr. Die Benommenheit, der dichte Rauch vor ihren Augen verschwand. Sie erkannte die Strasse, die Parkbank – selbst die Blätter im Nachtgrün der Bäume sah sie klar. Es war Nacht, und es war stockdunkel.
Gabrielle war sich der Wirklichkeit dieses Augenblicks nicht sicher. Sie hatte sich noch nie so kräftig gefühlt und doch direkt in einen traumlosen Schlaf der Erschöpfung sinken können. Ihre Glieder schmerzten ein wenig, in ihrer Nase lag der Duft von Wacholder. Mit einem Seufzen erhob sie sich, ihr schien, als machte sie sich das erste Mal mit ihrem Körper vertraut – sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Und dann sah sie den Vampir.
Sie wusste gleich, dass der junge Mann vor ihr ein Untoter war, obgleich ihr ebenso bewusst war, dass niemals ein Solcher hätte dort stehen können.
Sie lächelte, unwillkürlich, lächelte und wunderte sich gleich über ihr Verhalten. Der junge Mann blickte kalt und eisig zu ihr herüber, verzog keine Miene. Mit seinem dreckigen Shirt und der genauso dreckigen Hose sah er ziemlich schäbig aus. Er hatte dunkles, kurzes Haar und braune Augen, einen schmalen, harten Mund und eine kleine Nase. Alles in allem hätte man ihn für einen Straßenjungen halten können, aber er machte einen gesunden und wohlgenährten Eindruck. Gabrielle konnte selbst über die Entfernung sehen, das seine helle Haut makellos und unheimlich jugendlich aussah – ja direkt kindlich, im Vergleich zu dem restlichen Körper.
Und sie sah sich selbst in den Augen des Vampirs. Sah, wie das Blut von ihrem Haarspitzen tropfte, sah ihre eigenen Augen, die sich wie zwei Calcite im Mondlicht brachen und ihr Licht zu ihr zurückwarfen. Fast hätte sie sich ans Gesicht gefasst, so unwirklich war ihr ihre eigene Erscheinung, so fremd fühlte sie sich in ihrem Körper.
Ein harter Schlag auf den Kopf riss sie aus ihren Gedanken. Niedergeworfen vom Schmerz kniff sie die Augen zusammen, prallte auf dem Asphalt auf und blieb wie betäubt liegen. Schwer ausatmend versuchte sie sich hochzustemmen, wurde aber vom erneuten Schmerz gezwungen, liegen zu bleiben.
Sie sog die Luft ein, atmete rhytmisch, mechanisch, ohne die Natürlichkeit mit der sie sonst zu atmen gepflegt hatte. Vor ihrem inneren Augen blitzte es. Der Schmerz im Kopf war unerträglich, der leichte Geruch von Wacholder in ihrer Nase betäubte sie, liess sie erstarren. Sie vermochte nicht zu schreien, auch wenn das Trommeln in ihrem Schädel sie dazu drängte. Kein Laut entwich ihrem Mund, nicht mal, als sie durch die Augenschlitze bemerkte, dass der Vampir über ihr stand.
Sie fühlte Tränen in ihren Augen aufsteigen, versuchte angestrengt, sie zu unterdrücken, wollte sich nicht blosstellen, aber der Schmerz wuchs ins unerträgliche. Ihr war, als würde ihr Schädel bersten, sie wollte nicht mehr sein, wünschte sich, die Beiden hätten sie getötet, sie wollte aufgeben... .

Steh auf! Noch kannst du weglaufen...du bist noch nicht soweit! Nicht jetzt!

Gabriel!

Lauf!


Ihr wurde schwarz vor Augen. Selig fiel sie Ohnmacht.

***

Abwartend legte ich den Kopf schief. Vielleicht hatte sein Körper dem Unleben nicht standgehalten - wäre nicht das erste Mal gewesen. Der Schmerz stand ihm noch im Gesicht, verzerrte es und liess es noch schöner erscheinen. Ich kniete mich hin, betrachtete nun in aller Ruhe seinen matten Körper. Ich schloss die Augen, legte meine Hand auf seine Wange, fühlte fast noch die Wärme seines Menschlichen Lebens, und zog sie doch wie angeekelt wieder zurück.
Er roch so gut, ich beugte mich vor und hob das Knie über ihn. Seine Nähe trieb mich in den Wahnsinn, alles in mir schien zu pulsieren.
Ich konnte ihn nicht berühren - hätte ich es wieder getan, ich wäre an seiner Makellosigkeit zerbrochen. Ich fuhr seinen schlanken Hals hinab - ohne ihn zu berühren, dies alles machte mich Wahnsinnig, sein Geruch, Wocholder - ich wollte ihn umfassen, zusammendrücken! Ja, ich wollte ihn quetschen und kratzen, zerfetzen, meine Nägel in sein wunderschönes, unschuldiges Fleisch rammen, nur, um ihn dann zu trösten, ihn zu liebkosen! Ich wollte seine Augen in der selben, glückseeligen Güte scheinen sehen, so, wie er mich vor seinem Tod angesehen hatte.
Fast hätte ich mich übergeben. Die Gier tobte in meinem Inneren, sie überkam mich heiss, schonungslos. Nie zuvor hatte ich ein solches Verlangen nach jemandem verspürt. Ich schlug mit der Faust neben seinen Kopf auf den Asphalt, und ich achtete nicht auf das Knacken. Wozu sollte ich zum ewigen Leben verdammt sein, wenn mich eine solche Nichtigkeit hätte aufhalten können.
Mein Gesicht war jetzt ganz nah an dem Seinen. Sein Mund, diese unglaublich wohlgeformten, sanften Lippen, war leicht geöffnet, und der süsse Geruch des Blutes entwich ihm in winzigen Stössen - so winzig, das Niemand, der nicht Vampir war, es je erahnt hätte. Nicht eine Nuance liess ich im Abendwind verwehen, gierig sog ich ihn in mir auf, liess ihn mich Erfüllen, bis in jeden Winkel meiner kalten, leeren Hülle.
Das seine Lippen auf den meinen lagen, spürte ich nicht sofort. Ich war benommen vom Blutgeruch, fast wie in Trance, und nur die stetig heisser werdende Berührung holte mich zurück auf die nächtliche Strasse.
Es brannte wie Feuer, heisser noch, und es breitete sich in mir aus. Ich konnte mich diesem Höllenkuss nicht entziehen, öffnete leicht die Augen und sah, dass auch seine leicht offen waren. Schmerz erfüllte mich, und ich sah, dass auch er erfüllt war. Er riss sich von meinen Lippen, nur kurz, um sie dann wieder auf meinen Mund zu pressen. Fordernd, unerbitterlich küsste er mich, ich fühlte seine Hände auf meinem Rücken, wie seine Nägel meine Wirbelsäule entlang fuhren.
"Levin...oh, Levin...", hauchte er inmitten des Kusses, sah mich an, mit diesen tiefen, bernsteinfarbenen Augen, die so schön waren, dass ich sie ihm am liebsten aus dem Kopf gerissen hätte. Sein Becken hob sich auffordernd und -
- ich erkannte, dass dort kein Junge vor mir lag.


Gabrielle...noch nicht - er schläft, schläft tief in ihm. Du kannst ihn noch nicht wecken.

Gabrielle! Lauf! Schnell...er wird dich zerfetzen! Lass ab von den Spielen, von denen wir abgetan haben. Folge nicht dem Trieb.

Lauf!




Meine Hand schloss sich um ihren Hals, drückte ihren Kopf zu Seite. Das war es, was ich wollte. Ich sah sie nach Luft schnappen, ihrem Instinkt folgend. Obgleich ihre Fänge sich in ihre Lippen bohrten war sie so menschlich, und ich war der Jäger.
Wie ein Stück Papier zerriss ich ihr Hemd, entblösste diese zarten Knospen, und ich war sicher, dass Sarim ein Mädchen getötet hatte. Unwissentlich, denn er machte sich nichts aus Weiblichkeit. Aber dass dieses Geschöpf hier vor mir, so atemberaubend, ein Mädchen war, hätte mir klar sein müssen. Sie bleckte ihre Zähne, und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
"Levin...ich habe dich vermisst!" hauchte sie, und drückte ihre Schenkel an meine. "Levin, du weisst, ich brauche das..."
Ihre olivgrüne Haut schimmerte seidig matt, die kleinen Brüste hoben und senkten sich ihres unnötigen Atmen wegens, und ich glaubte, nun vollends den Verstand zu verlieren. Je fester ich ihren Hals drückte, desto energischer wurde ihr Atmen, ihre Augen schlossen sich in ihrer Wollust und ihre Hände an meinem Rücken drücken mich an sie. So war sie, die sie fast noch ein Kind war, angetan vom Schmerz, den ich ihr zufügte, war bereit, sich mir und meinem Wahn hinzugeben.
Ich wusste immer, dass alleine das Töten mir Freude bereitete. Sah ich, wie Sarim frische und junge Welpen schuf, erregte mich bereits der Gedanke, diese wieder zu vernichten.
Und sie wusste nicht was sie heraufbeschwor. Ihr Glucksen würde nicht lange wehren, denn mein Innerstes brannte darauf, sie zu verletzen, sie zu nehmen, ohne Rücksicht, ohne ihren Körper als den eines lebendigen Wesens anzusehen. Ich wollte mich nicht länger zurückhalten, hatte es schon zu lange getan. Ich wollte sie schreien hören, flehen, winseln. Wollte, dass sie mich bittet, aufzuhören. Denn sie war das erste Mädchen - das Erste, seit ich ein Untoter war.
Vergessen alle Gefühlsduselei in meinem früheren Leben. Vergessen meine große Liebe, das Mädchen, von dem ich mir sicher war, es würde mich bis ans Ende aller Tage begleiten.
Ich drehte ihren Kopf, so dass sie mich ansehen musste. Ihr Mund, blutverschmiert ob ihrer Unvorsicht.
Und ich sah, dass ihre Augen nicht die waren, die mich zuvor so milde betrachtet hatten. Sie war kein Mensch, kein Vampir.
"Levin..gib es mir, wie du es mir früher gegeben hast..."
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